Die Pflanzenschrift und ihre Offenbarungen

von Jagadis Chunder Bose


IX. KAPITEL
DIE KURVE DES LEBENS UND DES TODES

Was ist der Unterschied zwischen Leben und Tod? "Fiebernd vor Leben" sagen wir. Was meinen wir damit? Im Gegensatz heißt es "so still wie der Tod". Das Leben ist in der Tat fiebernde Bewegung, denn die lebende Substanz pulsiert beständig unter der Wirkung jener Reize von innen, die wir mit unbestimmtem Ausdruck als "innere Reize" bezeichnen und jenen äußeren Ein-flüssen, die wir "äußere Reize" nennen. Die inneren und äußeren Reize sind in Wahrheit ein und dasselbe, von verschiedenen Seiten her gesehen. Alles, was im lebenden Organismus ist, ist von außen erworben worden. Dem ersten Lebenskeim fließt ein Strom von Energie von der Außenwelt zu. Mit dem Kapital einer einzelnen Zelle beginnt das Leben sein Bankkonto und dieses wächst und nimmt zu in dem Maße, wie Stoff und Energie sich anhäuft. Vergrößerung und Wachstum sind die sichtbaren Zeichen gesunden Gedeihens. Zur Zeit der Reife halten sich Gewinn und Verlust die Waage. Nachher wird der Verlust größer als das Einkommen; und das Ende ist der Bankerott und der Tod.

Der Organismus zeigt solange aktives Leben, als er auf die Kräfte der Umwelt reagiert. Er antwortet auf jeden einwirkenden Reiz. Er gibt nicht notwendig alles, was er empfängt, wieder ab, denn er kann einen Teil von der Energie der einfallenden Reize speichern. Und wenn er so Pfennige aufgesammelt hat, kann er zu einem Überschuß an Energie gelangen, diese flutet über und äußert sich in spontaner Bewegung. Wir werden diesen Vorgang ausführlicher in einem folgenden Kapitel studieren.

DIE PFLANZE ALS MASCHINE

Vom physikalischen Standpunkt läßt sich das Tier wie die Pflanze mit einer Wärmemaschine vergleichen, die mit Feuerungsmaterial versorgt wird. Um zu finden, wie kräftig die Maschine arbeitet, können wir an ihr einen Apparat von der Art meines Schreibhebels anbringen, der eine graphische Kurve ihrer Bewegungen aufzeichnet. Wenn die Feuerung ausgeht, dann kommen die Bewegungen des Kolbens und die Ausschläge der Registrierkurve zum Stillstand. Dieser Stillstand infolge der Erschöpfung des Brennmaterials ist ein vorübergehender, denn ein frischer Nachschub von Feuerung führt zu neuer Bewegung. Doch die Tätigkeit der Maschine kann auch dauernd stillgelegt werden durch einen Bruch in der Maschinerie und ein Versagen des Räderwerkes. Auch in der Maschine des lebenden Organismus kann in gleicher Weise die Lebenstätigkeit vorübergehend stille stehen, wenn die gespeicherte Energie zur Neige geht. Die Lebenstätigkeit kann auch dauernd stocken durch ein Hindernis im Innern der lebenden Maschine.

Unter der Wirkung verschiedener Gifte kommt der Pulsschlag beim Absterben allmählich zum Stillstand. Wir können jedes Teilchen der lebenden Substanz als ein Aggregat von Maschinen molekularer Dimension betrachten. Die Veränderung, die vom Leben zum Tode führt, entspricht dem Übergang vom Zustande molekularer Beweglichkeit zu einem Zustand der Starrheit.

Wir sehen den Menschen aus voller Lebenstätigkeit plötzlich in einen todesartigen Zustand verfallen, wenn auf ihn Narkotika einwirken. Bei rechtzeitiger Behandlung läßt sich erreichen, daß er aus der Narkose erwacht und zum Leben zurückkehrt. Doch wenn ein Verzug eintritt, dann erlischt das Leben. Die dünnste Linie scheidet das Leben vom Tode. Welch ein kritischer Moment ist es, wenn die lebenden Teilchen eben noch um ihr labiles Gleichgewicht schwingen und ein kleines Zuviel nach der einen Seite die lebende Maschine lahmt und sie dem Tod zur Beute anheimgibt. Das Drama des Lebens ist da zu Ende. Wenn wir das molekulare Geschehen im Moment dieser Krisis erforschen könnten, dann und nur dann würde sich uns das Geheimnis des Todes enthüllen. Jene unsichtbaren inneren Prozesse, der Kampf zwischen den Lebens- und Todeskräften spricht sich nun manchmal lebhaft in den Kurven aus, die der sterbende Organismus selbsttätig aufzeichnet.

SICHTBARE KENNZEICHEN DES TODES

Verfärbung ist eines der Merkmale, die den Tod der Pflanze erkennen lassen. Eine einfache Methode, den Tod herbeizuführen, besteht darin, die Pflanze in ein Wasserbad zu bringen und dessen Temperatur allmählich zu steigern, bis im kritischen Punkt der Wärmetod eintritt. Wenn wir zum Versuch einen Blütenteil verwenden, etwa den milchweißen Griffel aus der Blüte von Datum alba, so verwandelt sich das normale Weiß beim Eintritt des Todes in Braun. Noch auffallender ist die plötzliche Verfärbung bei Blüten von prächtiger Farbe. Die tieflilafarbigen Kronblätter der indischen Passionsblume werden plötzlich, wie mit einem Zauberschlag, bleich weiß. Wenn wir eine Blüte zur Hälfte in das warme Bad eintauchen und die andere Hälfte außen lassen, so färbt sich der eingetauchte Teil beim Tode weiß, während der Rest seine Purpurfarbe behält. In ähnlicher Weise wird bei der indischen Karmoisinblume Sesbania die rote Farbe beim Tode in ein bleiches Blau verwandelt. Die kritische Temperatur hat bei normalen Exemplaren mehr oder minder bestimmte Höhe, sie beträgt etwa 60° C. Wenn die Pflanze zuvor einer Ermüdung durch Überreizung unterworfen wird, so wird der Todespunkt erniedrigt, wobei der Grad der Herabsetzung vom Ausmaße der Ermüdung abhängt. Ganz so wie wir selbst kann auch die Pflanze wenn sie müde ist, nicht wirksam gegen den Tod ankämpfen. Es wird so möglich in gefärbten Korollblättern unsichtbare Zonen der Ermüdung sichtbar , zu machen. Für diesen Zweck nehmen wir ein Paar gleiche, ausgestanzte Schablonen aus Metall und legen die tief gefärbten Korollblätter dazwischen. Die zwei Schablonen werden dann mit den zwei Elektroden eines Stromkreises verbunden und Ströme werden durch bestimmte Teile der Kronblätter hindurchgeschickt, welche hierdurch ermüdet werden. Nach Entfernung der Schablonen bemerken wir keine sichtbare Veränderung, wiewohl ein latentes Ermüdungsbild in den der elektrischen Reizung unterworfenen Teilen vorhanden ist.

Bringen wir jetzt die Blüte in ein Bad von z. B. 50° C, so zeigt der ungereizte Teil der Korolle keine Veränderung, da die den Tod anzeigende Verfärbung erst bei einer Temperatur von 60° C eintritt. Die ermüdeten Flächenteile aber sterben schon bei der niedrigeren Temperatur und lassen den lokalen Tod durch Eintritt der Verfärbung erkennen. So nimmt man jetzt das vorher unsichtbare Schablonenmuster sichtbar wahr und die ermüdete, jetzt tote Zone zeigt sich als entfärbte Zeichnung auf farbigem Grund.

Gibt es Fälle, wo solche landkartenähnliche Zeichnungen des beginnenden Todes auch an Pflanzen unter natürlichen Bedingungen auftreten? Betrachten wir die weiße Sprenkelung oder Panaschierung gewisser Blätter. Die Blätter der indischen Pflanze, die den Namen Elefantenkriecher führt, zeigt weiße Flecke auf leuchtend grünem Grund. Die bleiche Farbe dieser Flecke weist in Wahrheit auf ihren nahen Tod hin, und wenn wir die Blätter unter ständiger Beobachtung halten, so finden wir, daß an eben diesen Stellen das Gewebe sich zuerst zersetzt und der Tod sich von da aus ausbreitet. Die prächtige herbstliche Verfärbung des Laubes ist nur ein hektisches Erröten vor dem Tode.

ELEKTRISCHE ENTLADUNG BEIM TODE

Ich habe bereits dargelegt, wie Veränderungen, die sonst unter der Schwelle unserer Wahrnehmung blieben, an den elektrischen Veränderungen erkannt werden können, von welchen sie begleitet werden. So veranlaßt eine plötzliche Erregung einen negativ elektrischen Ausschlag. Ich will nun zeigen, daß im Momente des Todes eine intensive Erregung eintritt, die bewirkt, daß im Gewebe eben im Moment des Todes eine elektrische Entladung erfolgt.

Eine einfache Methode, dies zu zeigen, besteht darin, daß man eine halbe grüne Erbse nimmt und ihre innere und äußere Fläche mit einem Galvanometer verbindet. Die halbe Erbse wird in einem Bad, das man erwärmt, langsam auf höhere Temperatur gebracht. Beim Todespunkt von 60° C geht ein intensiver elektrischer Schlag durch den Organismus. Die Spannungsänderung beim Tod ist sehr beträchtlich, sie beträgt oft bis zu 0,5 Volt. Wenn 500 Paare halber Erbsen in geeigneter Weise hintereinander geschaltet würden, so würde an den Enden die elektrische Spannung 500 Volt betragen, mehr als genug, ein ungeschütztes menschliches Opfer zu töten. Es ist gut, daß die Köchin die Gefahr nicht kennt, in der sie schwebt, wenn sie Erbsen kocht, und es ist ein Glück, daß die Erbsen nicht auf isolierten Drähten aufgereiht sind.

AUFLEBEN DES GEDÄCHTNISSES

Wir müssen hier einer interessanten sekundären Wirkung gedenken, die mit dem elektrischen Krampf in Zusammenhang steht, der, wie wir sahen, dem Tode unmittelbar vorangeht. Ich erinnere an jenes plötzliche Aufleben des Gedächtnisses, von dem wir alle gehört haben. Ich kann hier nur kurz von einer Untersuchung über die Fundamente unseres Gedächtnisses sprechen, welche ich ausgeführt habe. Nach jedem starken Reiz erfährt die reagierende Oberfläche molekulare Umlagerungen, von welchen sie sich ganz allmählich wieder erholt; diese Erholung ist indessen niemals eine vollständige. Vom Eindruck, den der Reiz gemacht hat, bleiben Spuren zurück und diese bleiben als latente Bilder, unsichtbar selbst bei mikroskopischer Prüfung, vorhanden. Unter geeigneten Bedingungen aber kann diese unsichtbare Schrift wahrnehmbar werden. Ich konnte auf einer metallischen Platte Zeichen einprägen, von welchen sich direkt nicht das mindeste sehen ließ, allein wenn man die Platte einer diffusen Behandlung mit gewissen Mitteln unterwarf, so wurden die geheimen Bilder sogleich sichtbar.

In ähnlicher Weise bleiben alle Eindrücke, die unsere äußeren Sinne empfangen, im Verborgenen als latente Gedächtnisbilder erhalten, die unter dem Einfluß eines inneren Willensaktes neu belebt werden können. Das Aufleben des Gedächtnisses ist dann vielleicht das Resultat einer starken Reizung, die auf die Fläche der Sinne trifft, in deren Folge die alten, schlafenden Bilder erwachen. Nun haben wir gesehen, daß während des Todeskampfes ein elektrischer Krampf alle Teile des Organismus durchzuckt, und dieser starke allgemeine Reiz könnte, dem Willen jetzt nicht unterworfen, zu einem kurzen, gedrängten Aufflackern all der Erinnerungsbilder führen, welche latent im Organismus schlummern.

DER KRAMPF DES TODES

Die verschiedenartigen Symptome des Todes der gewöhnlichen Pflanze wie das Welken, das Verdorren und die Verfärbung werden nicht eben genau im Momente des Todes sichtbar, sondern oft erst zu späterer Zeit. Selbst wenn eine Pflanze einer Temperatur über dem kritischen Maximum ausgesetzt war, so kann sie noch eine Zeitlang frisch und lebendig aussehen. Wie ist es nun möglich, die lebende Pflanze von der toten zu unterscheiden und wie läßt sich der genaue Moment des Todes finden?

Die Unterscheidung wird möglich, wenn man auf den Augenblick achtet, wo gewisse, für den Lebenszustand charakteristische Reaktionen verschwinden. Die ideale Methode wäre indes dann gegeben, wenn sich eine Reaktion entdecken ließe, die im Moment des Todes eine plötzliche Umkehr in ihr Gegenteil erführe. Es bliebe dann nicht einmal jener geringe Grad von Ungewißheit, welcher der Bestimmung des kritischen Punktes im Verlauf eines Verfallsprozesses stets anhaftet. Es gelang mir eine solche voll befriedigende Methode praktisch auszuarbeiten, als ich den Todes-Krampf der Pflanzen entdeckt hatte, der den Todeszuckungen des Tieres analog ist.

Bei der Bestimmung der Todeskurven der Pflanzen haben sich zwei verschiedene Methoden als brauchbar erwiesen. Die erste besteht darin, die Pflanze einer gleichmäßig ansteigenden Temperatur auszusetzen, bis der kritische Punkt erreicht wird. Die zweite Methode, minder vollkommen als die.erste, besteht darin, eine gewisse Dosis eines verdünnten Giftes einwirken zu lassen, wodurch die Pflanze je nach der Dosis und Virulenz des Giftes nach kürzerer oder längerer Zeit getötet wird.

DER TODES-RECORDER

Es ist mir gelungen, einen Registrierapparat zu konstruieren, in welchem der sterbende Organismus mittels einer zusammenhängenden Schriftlinie den genauen Punkt des Todes selbsttätig aufzeichnet. Der registrierende Apparat gehört dem oszillierenden Typus an; die berußte Glasplatte führt vermittels einer elektromagnetischen Vorrichtung oszillierende Bewegungen nach vorne und rückwärts aus und liefert so während der ganzen Dauer der Erwärmung eine Reihe von Punkten. Um die Todeskurve zu erhalten, nehmen wir eine Mimosapflanze (andere Pflanzen ließen sich ebenso gut verwenden) und unterwerfen sie in einem Wasserbad dem Einfluß allmählich steigender Temperatur. Die mit der Expansion verbundene Aufwärtsbewegung des Blattes stellt sich in Fig. 39 als eine abwärts gerichtete Kurve dar, während die Kontraktion und Abwärtsbewegung als aufgerichtete Kurve erscheint.
Fig. 39. Kurve des Lebens und des Todes (Mimosa). Der Abstand zweier Punkte im absteigenden Kurventeil entspricht dem Temperaturanstieg von 1° C. Die krampfartige Kontraktion, welche die Knickung der Kurve bewirkt, erfolgt bei 60° C.
Fig. 39. Kurve des Lebens und des Todes (Mimosa). Der Abstand zweier Punkte im absteigenden Kurventeil entspricht dem Temperaturanstieg von 1° C. Die krampfartige Kontraktion, welche die Knickung der Kurve bewirkt, erfolgt bei 60° C.

Der Versuch begann bei 25° C. Die Wirkung der zunehmenden Wärme des Bades ist bei der Pflanze, wie bei uns selbst, eine behagliche Ausdehnung und die Kurve verläuft nach abwärts. Dies dauert an, bis wir einen kurzen Stillstand der Bewegung bei etwa 60° bemerken. Dann folgt ein plötzlicher Krampf - der Todeskrampf, der Zeichenhebel wird mit konvulsiver Kraft nach oben geschleudert (Fig. 39). Man beachte, wie scharf die Knickung der Kurve ist. Die ganze Figur stellt die Kurve des Lebens und Todes dar. Wird die Pflanze abgekühlt, bevor der Punkt der Umkehr erreicht ist, so lebt sie wieder auf; ist jener Punkt aber einmal überschritten, so ist keine Wiederbelebung mehr möglich. Es war der scharfe Knickpunkt, an dem der Kampf zwischen Leben und Tod entschieden worden ist.

An jungen und kräftigen Exemplaren ist diese Todeszuckung sehr heftig. Mit zunehmendem Alter wird sie schwächer. Bei sehr hohem Alter geht die Kurve des Lebens allmählich und unbemerkt in jene des Todes über.

Wenn die Pflanze vor dem Versuch durch Überreizung ermüdet worden ist, so wird der Todespunkt schon bei tieferer Temperatur erreicht. In einem speziellen Fall starb die ermüdete Pflanze schon bei 37° C, so daß der Todespunkt um volle 23° C herabgesetzt erschien.

AUSBREITUNG DER TODES-ERREGUNG

Die Pflanze kann als eine Kolonie von lebenden Einheiten angesehen werden, und es ist möglich, einen Teil davon zu töten, ohne die übrigen zu zerstören. Was wird geschehen, wenn ein Teil der Pflanze getötet wird? Wenn die Erregung im Moment des Todes intensiv ist, so wird sie sich wohl durch Reizleitung ausbreiten und bei abliegenden beweglichen Organen entsprechende Reaktionen auslösen. Dies ließ sich in folgendem Experiment in der Tat zeigen.

Das untere Ende eines Mimosa-Sprosses wurde in ein Bad gestellt und die Temperatur desselben erhöht. Im kritischen Punkt wurde ein intensiver Erregungsimpuls bewirkt, welcher, sich nach oben ausbreitend, das Fallen aller Blätter in reihenweiser Folge bewirkte. Daß diese Erregung im lokalen Tod des eingetauchten Teiles der Pflanze ihre Ursache hatte, wurde dadurch erwiesen, daß die oberen Blätter im Verlauf von 20 Minuten sich wieder aufrichteten. Abkühlung des Wassers und neuerliche Erwärmung veranlaßte keinen neuen Impuls, da der eingetauchte Teil jetzt schon tot war. Die Pflanze wurde darauf etwa um einen Zoll weiter in das Bad eingesenkt, und eine Wiederholung des Versuches verursachte nun einen neuen Erregungsimpuls, der im Tod eines frischen, lebenden Stengelstückes seinen Grund hatte; die Erregung breitete sich durch Reizleitung aus, wie wiederum das reihenweise Sinken der Blätter zu erkennen gab. Dies liefert einen vollen Beweis dafür, daß beim Tod eine intensive Erregung in den Geweben zur Geltung kommt.

In ähnlicher Weise läßt ein Gewebestück, auf welches ein Gift einwirkt, im Momente des Todes einen Erregungsimpuls von sich ausgehen. Dieser erfolgt rasch unter dem Einflüsse starker und heftiger Gifte. Er wird langsam, wenn ein verdünntes Gift einwirkt, weil hier eine längere Einwirkungsdauer nötig ist, bis das kritische Stadium erreicht wird.

DER ZUSAMMENHANG VON LEBEN UND TOD

Gewisse Überlegungen scheinen darauf hinzuweisen, daß die Phänomene des Lebens und des Todes nicht durchaus gegensätzlich sind, sondern daß eine Verbindung besteht, welche die Kluft zwischen ihnen überbrückt. Nach jedem Reiz wird der Organismus für gewisse Zeit reaktionsunfähig oder gelähmt, worauf er sich allmählich wieder erholt. Die Dauer der Unempfindlichkeit nimmt mit der Intensität des Reizes zu. Empfänglichkeit und Unempfänglichkeit - die Zeichen für Leben und für Tod - wechseln somit ab. Unser Leben ist in Wahrheit eine Folge von ersten Stadien beginnenden Todes! Auf eine mäßige Reizung folgt eine rasche Wiederherstellung, doch auf einen extrem starken Reiz folgt keine Erholung mehr. Der Tod ist ein extremer Fall von Reizung.

Zwischen den Reaktionskurven von Mimosa, die wir bei mäßiger, bei starker und bei extremer Reizung erhielten, finden wir gewisse charakteristische Unterschiede. Im ersten Falle wird die Wiedererholung im Laufe von fünfzehn Minuten vollendet, wie man aus der Erholungskurve ersieht, die die horizontale Achse erreicht (siehe Fig. 4). Nach einem stärkeren Reiz verlängert sich die Erholungsfrist auf eine Stunde und die Erholungskurve trifft die Achse erst in größerem Abstand. Bis hierher besteht die Möglichkeit einer Wiederherstellung. Doch der Reiz kann auch so stark werden, daß er das kritische Maß erreicht, und die heftig krampfhafte Kontraktion läßt dann den Krampf des Todes erkennen. Die Erholungskurve ist jetzt parallel zur Achse und erreicht diese nie.

Wir wollen einen anschaulichen Vergleich aus der Physik heranziehen. Wir betrachten das reale Bild eines Gegenstandes, welches durch einen Konkavspiegel entworfen wird. Die reflektierten Strahlen kreuzen und treffen sich auf der Achse und formen hier ein reales Bild. Wird das Objekt dem Spiegel näher und näher gebracht, so rückt das Bild - gleich dem Fußpunkt der Erholungskurve bei zunehmender Reizung - in immer größere Entfernung. Es kommt ein Moment, wo die reflektierten Strahlen sich nicht mehr treffen und wo auf der Seite vor dem Spiegel kein Bild mehr entstehen kann. Ist dieses damit gänzlich verschwunden? Nein, denn es entstand ein imaginäres Bild auf der anderen Seite des Spiegels! Und wenn es nach dem letzten Todesreiz auch keine Rückkehr zum Leben mehr diesseits des großen Spiegels gibt, durch den wir die Natur reflektiert sehen, - ist es nicht möglich, daß jenes auf der anderen, uns verborgenen Seite sich erneut wieder herstellt?

Unsere stummen Gefährten, die bescheiden vor unserer Türe wachsen, haben uns nun die Geschichte ihrer Lebensfülle und ihrer Todesnot in einer Schrift, die wir lesen können, erzählt. Dürfen wir nicht sagen, daß diese Geschichte ihr eigenes Pathos trägt, neuartig gegenüber allem, was wir sonst kennen?

Wenn wir uns diese Einheit alles Lebens vor Augen halten - wird unser Sinn fürs Metaphysische dadurch vertieft oder verflacht? Wird unser Sinn fürs Wunderbare gekürzt, wenn wir dieses unendlich ausgedehnte Leben betrachten, das stumm und schweigsam, doch alle künftigen Entwicklungen schon ahnen läßt? Ruft nicht vielmehr die Wissenschaft ein tieferes Gefühl der Ehrfurcht in uns wach? Führt nicht jeder neue Schritt der Erkenntnis eine Stufe höher auf dem steinigen Weg, den alle erklimmen müssen, die sich danach sehnen, vom Bergesgipfel des Geistes das verheißene Land der Wahrheit zu erschauen?

 
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