Die Pflanzenschrift und ihre Offenbarungen
von Jagadis Chunder Bose
VI. KAPITEL
DER SCHLAF DER PFLANZEN
Die Blättchen mancher Pflanzen sind sensitiv gegenüber dem Licht; sie schließen sich völlig beim Einbruch der Dunkelheit und öffnen sich wieder bei der Rückkehr des Lichtes. Irregeführt durch die Ähnlichkeit mit dem Schließen unserer Augen beim Schlaf, hat man das Schließen der Blättchen für ein Anzeichen gehalten, daß die Pflanze schläft. Die Übereinstimmung bestand bloß in der Phantasie, denn ein ähnliches Schließen der Blättchen kann man oft auch um die Mittagszeit unter der Wirkung starken Lichtes beobachten.
Manche Lebensvorgänge, die dem Willen nicht unterworfen sind, hören im Schlafe nicht auf, sondern dauern Tag und Nacht an. Beim Tier fährt das Herz fort zu schlagen, die Prozesse der Verdauung und des Gewebeaufbaues dauern ohne Unterbrechung an. Ähnlich dauert bei der Pflanze die Strömung der Nährstoffe fort, die für Nachschub nach den am Tage überarbeiteten Organen und für die Speicherung der Stoffe, die am nächsten Morgen benötigt werden, sorgt. Auch das Wachstum geht weiter, das den Leib der Pflanze vergrößert und ihre Wunden heilt. Leben ist schlaflose Tätigkeit.
Wir selbst sind periodisch munter und aufgerüttelt, nachher empfinden wir nichts von dem, was um uns vorgeht, und wir durchschreiten so täglich den Kreislauf der Zustände, die wir als Schlaf und Wachen kennen. Das Problem, ob auch die Pflanzen schlafen oder nicht, läßt sich in die Form einer bestimmten Frage bringen. Nimmt die Pflanze äußere Eindrücke in gleicher Weise bei Tag und bei Nacht wahr? Wenn nicht, gibt es eine Tageszeit, zu der sie ihr Wahrnehmungsvermögen ganz verliert? Gibt es anderseits eine Zeit, in der sie zu einem Zustand größter Lebhaftigkeit erwacht?
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Fig. 27. Vollständige Apparatur zur Bestimmung der Tageskurve der Erregbarkeit; schematisch. Ein Blattstiel von Mimosa ist durch einen Faden am einen Arm des Hebels L befestigt; der Schreibstift W verzeichnet auf der berußten Glasplatte G die Fallbewegung und Wiederaufrichtung des Blattes. P primäre, S sekundäre Induktionsspule. Der erregende Reiz wird der Pflanze durch die Elektroden E, E' zugeführt. C Uhrwerk zur Regulierung der Reizdauer. Der primäre Stromkreis wird durch Eintauchen des Stäbchens R in das Quecksilberschälchen M geschlossen. |
Wie sollen wir feststellen, ob die Pflanze wirklich schläft oder nicht? Wenn wir wissen wollen, ob unser Freund schläft, schütteln wir ihn und fragen: "Bist du wach?" Wenn er es ist, so ruft er "Ja". Wenn er halb im Schlaf ist, so gibt er eine unklare Antwort. Wenn er aber fest schläft, so gibt er keine Antwort. Erst wenn sein Schlaf vorüber ist, erwacht er und gibt seine gewöhnliche, kräftige Antwort. So ähnlich nun müssen wir uns die Dinge bei den Pflanzen vorstellen. Wir nehmen eine sensitive Mimosa und fragen sie Stunde um Stunde "Bist du wach?", "Bist du wach?", "Bist du wach?" und die ungleich kräftige Antwort der Pflanze zu verschiedener Zeit zeigt uns an, ob sie schläft oder wach ist und wie tief sie schläft.
Die Schwierigkeit der Untersuchung liegt darin, die Reize, die jede Stunde bei Tag und bei Nacht einzuwirken haben, genau gleich stark zu machen, und darin, die Antworten der Pflanze in Form von Reaktionsbewegungen passend zu registrieren. Die Aufgabe wurde gelöst durch den eigens für diesen Zweck konstruierten "Schlaf-Recorder", der in Fig. 27 schematisch dargestellt ist.
DER SCHLAF-RECORDER
Das Mimosablatt wird an einem Arm eines Aluminiumhebels L mit Hilfe eines Fadens befestigt. An dem Hebel ist unter einem rechten Winkel der Schreibstift W angebracht, der die Reaktionsbewegungen des Blattes auf einer berußten Glasplatte aufzeichnet, die sich mit konstanter Geschwindigkeit abwärts senkt. Unter der Wirkung eines bestimmten Reizes fällt das Blatt nieder, wobei die Amplitude der Bewegung ein Maß für die Erregbarkeit der Pflanze im betreffenden Zeitpunkte liefert. Ein zweiter Reiz wirkt nach einer bestimmten Zeit, z. B. nach einer Stunde ein und die erfolgende Reaktionsbewegung läßt erkennen, ob die Erregbarkeit oder der Wachzustand der Pflanze konstant geblieben ist oder eine Veränderung erfahren hat.
Wir verwenden zur Prüfung elektrische Reize, da deren wirksame Intensität sich absolut konstant erhalten läßt. Die Sekundärrolle wird in passender Entfernung von der Primärrolle angebracht und die Dauer des Reizes wird dadurch konstant gehalten, daß der primäre elektrische Stromkreis nur für ganz bestimmte Zeit geschlossen wird. Die Schließung des primären Stromkreises besorgt ein eintauchendes Stäbchen R, das in eine Schale mit Quecksilber jedesmal für nur 0,2 Sekunden taucht. Die Reaktionskurve kommt auf die berußte Platte, die sich mit Hilfe eines Uhrwerks oszillierend nach vorne und rückwärts bewegt.
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Fig. 28. Die Wirkung gelinder Abkühlung (während der durch die horizontale Strecke bezeichneten Zeit). |
Es wird sich im folgenden zeigen, daß die Pflanze einen täglichen Kreislauf von Erregbarkeit und Unempfindlichkeit durchmacht, welche Zustände passend als Wachen und Schlafen bezeichnet werden könnten. Die Analyse dieser Erscheinung und ihrer Ursachen ist an anderer Stelle gegeben worden.2 Nur in Kürze seien hier einige der Faktoren aufgezählt, die den Schlaf oder das mangelnde Empfindungsvermögen der Pflanze verursachen können. Die Pflanze wird unempfindlich durch lange dauernde Dunkelheit; Erniedrigung der Temperatur wirkt ebenfalls deutlich dahin, die Erregbarkeit herabzusetzen (Fig 28).
Wir müssen uns daran erinnern, daß die Pflanze im Laufe eines vollen Tages erheblichen Veränderungen der Temperatur unterliegt, wobei das Minimum auf den frühen Morgen, das Maximum etwa auf die Mittagsstunde fällt.
DIE REAKTION UM DIE MITTE DES TAGES
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Fig. 29. Kurve für die Zeit vom Mittag bis 3 Uhr p.m. die gleichförmige, maximale Erregbarkeit zeigend. |
Der "Wachzustand" der Pflanze hat sein Maximum um die Mitte des Tages. Das wird aus der Registrierkurve in Fig. 29 ersichtlich, welche zeigt, wie kräftig und gleichförmig die Reaktionsbewegungen sind. Man könnte diese Zeit als die "office hour", als die "Arbeitsstunden" der Pflanze bezeichnen. Der Grad ihres Wachseins zeigt einen auffälligen Wechsel am Morgen und am Abend.
DAS ERWACHEN AM MORGEN
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Fig. 30. Das allmähliche Erwachen der Pflanze von 8 bis 12 Uhr vormittags. |
Die Mimosa ist ein Spätaufsteher; man sieht dies am deutlichsten aus der vollen Kurve für vierundzwanzig Stunden (Fig. 31). Ich gebe die Aufzeichnung der in Abständen von einer halben Stunde erhaltenen Reaktionen wieder, Fig. 30 veranschaulicht den Prozeß des langsamen Erwachens etwa um 9 Uhr vormittags. Man denke dabei an die Art und Weise, wie der Mensch sich allmählich vom Schlaf aufzurütteln sucht.
DIE KURVE BEI TAG UND NACHT
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Fig. 31. Vollständige Reaktionskurve für 24 Stunden, den täglichen Verlauf der Sensibilität von Mimosa von 5 Uhr p. m. bis 5 Uhr p. m. am nächsten Tag zeigend. |
Die Aufzeichnung begann um 5 Uhr nachmittags und wurde durch alle Stunden des Tages und der Nacht während 24 Stunden fortgeführt. Die Pflanze war völlig wach in den ersten zwei Stunden. Sie wurde etwas schläfrig zwischen 9 p. m. und 2 a.m., sie war aber auch um 6 a. m. noch wach, darauf sank sie in gesunden Schlaf und blieb so bis nach 8 a. m. (Fig. 31).
Rousseau hat uns belehrt, daß das moderne Leben entartet und dekadent ist und daß die einzige Hoffnung auf Rettung in der Rückkehr zum primitiven Leben läge. Wir könnten sicherlich zu keinem primitiveren Zustande zurückkehren als zu dem des unverdorbenen, ungekünstelten Pflanzenlebens. Und doch, wie sieht dieses in Wirklichkeit aus? Augenscheinlich hat Mimosa das lockere Leben des modernen Babylon von London, von Paris und New York vorweggenommen, denn sie bleibt jede Nacht wach und geht erst nach Sonnenaufgang zu Bett.
Erläuterung der Fußnoten.
2. Bose-"The Diurnal Variation of Moto-Excitability in Mimosa" - Annals of Botany, Oct. 1913.