Die Pflanzenschrift und ihre Offenbarungen

von Jagadis Chunder Bose


III. KAPITEL
DAS VERHALTEN DER PFLANZEN

Die verschiedenen Bewegungen der Tiere werden mit Hilfe von Muskeln ausgeführt, welche überall einem ganz bestimmten Zweck dienen. Wenn rasche Bewegung nottut, so erfolgt die Reaktion rasch, schwer bewegliche Tiere reagieren dagegen nur langsam. In vollem Einklang damit stehen die Reaktionen, die wir beim Studium der Muskel der verschiedenen Tiere kennen lernen. Wenn wir beispielsweise einen elektrischen Strom durch den Schenkelmuskel eines Frosches schicken, so braucht es gewisse Zeit, bis der Muskel-Mechanismus in Tätigkeit versetzt wird, wobei ein meßbarer Zeitabschnitt zwischen dem Moment der Reizeinwirkung und der resultierenden Bewegung verloren geht. Diese verlorene Zeit wird als Latenzperiode oder Latenzzeit bezeichnet; sie beträgt beim Frosch ungefähr 1/100 einer Sekunde. Die Latenzzeit ist sehr viel länger bei der trägen Schildkröte. Worauf beruht dieser Unterschied in der Raschheit des motorischen Apparates? Wir werden in einem späteren Kapitel einen Versuch machen, diese Frage zu beantworten.

Auch beim Menschen erfolgt die Reaktion auf einen Reiz nicht augenblicklich, sondern zwischen der Einwirkung des Reizes und der Reaktion verstreicht eine kurze Zeit. Die Dauer dieser Latenzperiode ist nun aber zu den verschiedenen Tageszeiten, selbst bei demselben Individuum, nicht konstant. Wir sind mehr oder weniger träge, wenn wir am Morgen aufstehen, wir werden um die Mitte des Tages völlig munter und werden müde und langsam in unseren Reaktionen gegen das Ende eines Arbeitstages.
Fig. 8. Aufzeichnung der Latenzperiode von Mimosa; der Schreibstift vibriert 200mal in der Sekunde.
Fig. 8. Aufzeichnung der Latenzperiode von Mimosa; der Schreibstift vibriert 200mal in der Sekunde.

Zeigt der motorische Apparat bei der Pflanze die gleichen Eigentümlichkeiten wie beim Tier? Antwortet die Pflanze augenblicklich auf äußere Reize oder ist auch bei ihr eine bestimmte Latenzperiode vorhanden? Um in dieser Frage ganz genaue Messungen durchzuführen, sind unsere Sinne nicht fein genug; es ist deshalb notwendig, jene nach Bruchteilen einer Sekunde zählenden Zeitabschnitte von der Pflanze selbst registrieren zu lassen. Es ist dargelegt worden, wie der "Resonanz-Recorder" die Reaktionen auf einer berußten Glasplatte aufzeichnet, die sich unter der Wirkung der Schwerkraft nach abwärts senkt. Bei dieser Bewegung löst die Platte in einem bestimmten Punkt einen elektrischen Kontakt aus, durch den der Pflanze ein Reiz erteilt wird. Wir erinnern uns, daß in der Zwischenzeit der vibrierende Schreibstift fortwährend seine Zeitmarken aufzeichnet. Die aufeinander folgenden Punkte entsprechen im vorliegenden Experiment Abschnitten von je 1/200 Sekunde. Die Pflanze empfängt den Reiz im Moment, der durch einen senkrechten Strich bezeichnet ist (Fig. 8), doch es erfolgt zunächst noch keine Antwort. Zehn Punkte sind schon aufgezeichnet und noch tritt keine Reaktion ein. Erst nach dem fünfzehnten Punkt begann die Bewegung der Pflanze einzusetzen. Die Latenzperiode der Mimosa betrug daher in diesem Falle 0,075 Sekunden.

ERMÜDUNG
Fig. 9. Verlängerung der Latenzperiode durch Ermüdung. Oben normale Kurve, unten Ermüdungskurve; Vibrationszahl 50 pro Sekunde.
Fig. 9. Verlängerung der Latenzperiode durch Ermüdung. Oben normale Kurve, unten Ermüdungskurve; Vibrationszahl 50 pro Sekunde.

Wir wollen nun untersuchen, was für einen Effekt die Ermüdung auf die Latenzperiode hat. Die Latenzperiode war bei einer gewissen Pflanze im frischen Zustand zu 0,1 Sekunde gefunden worden. Die zweite Reaktionskurve wurde aufgenommen, bevor die Pflanze sich von ihrem früheren Reiz erholt hatte; sie befand sich daher noch im Zustande der Ermüdung. Die Latenzperiode war jetzt von 0,10 auf 0,14 verlängert. Im frischen Zustande war die Antwort kräftig und die Kurve steil aufgerichtet. Im ermüdeten Zustande ist die Reaktion träge und die Kurve steigt weniger steil an (Fig. 9).
Fig. 10. Ermüdung bei Verkürzung der Ruhepause. Zuerst drei gleichförmige Reaktionen mit Intervallen von 15 Minuten. Die drei nächsten Reaktionen, zwischen welchen die Ruheintervalle auf 10 Minuten verkürzt waren, zeigen die Ermüdung. Das folgende Intervall betrug wieder 15 Minuten, die letzte Kurve zeigt daraufhin wieder die normale Reaktionsstärke.
Fig. 10. Ermüdung bei Verkürzung der Ruhepause. Zuerst drei gleichförmige Reaktionen mit Intervallen von 15 Minuten. Die drei nächsten Reaktionen, zwischen welchen die Ruheintervalle auf 10 Minuten verkürzt waren, zeigen die Ermüdung. Das folgende Intervall betrug wieder 15 Minuten, die letzte Kurve zeigt daraufhin wieder die normale Reaktionsstärke.

Die Pflanze wird also träge und untätig, wenn sie ermüdet ist. Nach sehr starker Ermüdung verweigert sie überhaupt jede Antwort. In diesem betäubten Zustande bedarf sie zumindest einer halben Stunde völliger Ruhe, um ihre normale Verfassung wiederzugewinnen.

Es gibt noch eine andere interessante Art, in der sich die Ermüdung der Pflanze zeigt; es ist dies die verminderte Amplitude ihrer Reaktionsausschläge. Im folgenden Experiment wurden zuerst drei normale Reaktionen aufgezeichnet, wobei der Pflanze jedesmal ein Ruheintervall von 15 Minuten gewährt wurde. Die Zeit der Rast wurde dann bei den drei nächsten Reaktionen auf zehn Minuten verkürzt und es ließ sich eine Depression infolge der Ermüdung feststellen. Nun gewähren wir der Pflanze wieder einen vollen Erholungsintervall und wir finden nachher ihre normale Reaktionskraft wieder hergestellt (Fig. 10).
Fig. 11. Wirkung vorüberziehender Wolken.
Fig. 11. Wirkung vorüberziehender Wolken.

Wie menschenähnlich benimmt sich die Pflanze da überall! Ja in gewisser Hinsicht können wir bei der Pflanze Fähigkeiten finden, welche die des Menschen noch übertreffen! Ich wurde hierauf eines Tages aufmerksam, als ich in meinem Laboratorium eine Reaktionskurve von Mimosa aufnahm. Ich erhielt eine gleichförmige Kurve; doch mit einem Male verkleinerten sich die Ausschläge (Fig. 11); ich konnte dafür zunächst keine Ursache finden, da alle Außenbedingungen unverändert zu sein schienen. Als ich aber zum Fenster hinausblickte, bemerkte ich eine Gruppe Wolken, die vor der Sonne vorbeizogen. Die Pflanze hatte die ganz leichte Verdunkelung wahrgenommen, die ich nicht bemerkt hatte. Als die Wolken vorüber waren, erhielt die Pflanze ihre normale Vollkraft wieder, wie die registrierte Kurve erkennen läßt (Fig. 11).

WIRKUNG DER TEMPERATUR
Fig. 12. Wirkung intensiver Kälte. Man beachte die plötzliche Depression und darauffolgende Sistierung der Erregbarkeit, die auch noch nachwirkend fortdauert.
Fig. 12. Wirkung intensiver Kälte. Man beachte die plötzliche Depression und darauffolgende Sistierung der Erregbarkeit, die auch noch nachwirkend fortdauert.

Nicht nur durch Änderungen der Lichtstärke wird die Pflanze betroffen, sondern auch durch Veränderungen der Temperatur. Es gibt eine mehr oder weniger bestimmte Temperatur, bei der die Mimosa am aktivsten ist. Dieses Temperatur-Optimum beträgt 33° C. Wenn die Temperatur auf 11 C erniedrigt wird, so wird die Pflanze benommen und durch die Kälte mehr oder minder gelähmt; wenige Grade weiterer Abkühlung machen sie ganz reaktionsunfähig. Man ersieht dies aus Fig. 12; hier hat die Pflanze, während starke Kälte auf sie einwirkt, ihr Empfindungsvermögen gänzlich verloren. Die Strecke unten zeigt die Dauer der Kälteeinwirkung an. Nachher wurde die Pflanze in normale, angenehme Temperatur zurückversetzt. Doch der lähmende Effekt der Kälte wirkte noch längere Zeit hindurch fort, wie man aus dem Mangel jeder Reaktion auf die Reize, die in den durch dicke Punkte bezeichneten Momenten einwirkten, ersieht. Wenn die Temperatur zu hoch steigt, so wird die Pflanze durch die Hitze beeinträchtigt und ihre Reaktionskraft nimmt ab. Bei zu hoher Temperatur erfährt sie so eine Art von Hitzschlag und stirbt.

BEREICH DER WAHRNEHMUNG

Des Menschen Anmaßung, mit den besten Sinnen ausgestattet zu sein, erfährt einen schweren Stoß, wenn sich gewisse Pflanzen finden, deren Sinne beträchtlich mehr leisten als die des Herren der Schöpfung. Es muß indessen zugegeben werden, daß die Pflanze praktisch taub ist, denn sie wird durch Schallwellen nur sehr wenig berührt. Ganz anders liegen die Dinge in betreffs ihrer Perzeptionsfähigkeit für die verschiedenen Oktaven sichtbarer und unsichtbarer Lichtstrahlen. Von allen zahlreichen Ätherwellen nimmt die menschliche Netzhaut bloß eine Oktave, die zwischen rot und violett liegt, wahr. Die Pflanze aber perzipiert nicht nur die sichtbaren Strahlen, sondern auch die unsichtbaren ultravioletten und die drahtlosen infraroten Wellen an den zwei entgegengesetzten Enden des Spektrums.

SCHÄRFE DER WAHRNEHMUNG

Beim Menschen ist das empfindlichste Organ die stets bewegliche Zunge! Vor der Erfindung unserer feinen elektrischen Instrumente wurden sehr schwache elektrische Ströme mit der Zunge nachgewiesen. Daß dies möglich ist, davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man zwei Münzen, eine kupferne und eine silberne, auf und unter die Zungenspitze legt. Sobald die beiden Münzen sich berühren, wird durch den Kontakt der zwei verschiedenen Metalle ein elektrischer Strom erzeugt. Die durch den Durchgang des Stromes bewirkte Reizung veranlaßt eine bestimmte Geschmacksempfindung. Ein mittlerer Europäer kann mit der Zunge noch einen Strom von 6 Mikro-Ampere wahrnehmen (ein Mikro-Ampere ist der millionste Teil der elektrischen Stromeinheit). Dieser Wert weist gewisse Schwankungen auf, die von Rasseneigenschaften abhängig zu sein scheinen. Man könnte erwarten, daß die Zunge der Kelten stärker reizbar ist als die der minder lebhaften Angelsachsen. Jedenfalls zeigen meine Studenten, die Hindus sind, eine Empfindlichkeit, doppelt so groß wie die des Durchschnitts-Europäers. Allein die Pflanze Biophytum erweist sich als achtmal empfindlicher als der Europäer und viermal so empfindlich wie der Hindu. Diese Entdeckungen sind so unerwartet, daß sie uns in Staunen versetzen. Sie zeigen, daß die Anmaßung, die Menschen und Tiere besäßen schärfere Sinne als ihre verachteten "pflanzlichen Brüder", den Ergebnissen exakter Untersuchung nicht standhalten kann.

Bei der bisherigen allgemeinen Schilderung habe ich von der Perzeption der Reize durch die Pflanze gesprochen, vom Effekt der Ermüdung, der sich in einer Abschwächung der Reaktionsbewegung äußert, und von der Wahrnehmungskraft der Pflanze für kleinste Veränderungen der Lichtstärke - einer Fähigkeit, welche die des Menschen übertrifft.

Hier erhebt sich natürlich die Frage, ob wir den Pflanzen ein Bewußtsein zuschreiben sollen. Die Schwierigkeit liegt wohl darin zu fragen was Bewußtsein ist und eine Grenzlinie zu ziehen, unterhalb welcher das Bewußtsein fehlt und oberhalb welcher es im Reiche des Lebens erscheint.

Es gibt zwei Wege, welche die Wissenschaft von den Lebewesen beschreiten kann. Wir können bei der Theorie verharren, daß die verschiedenen Formen der lebenden Organismen mit ihren kennzeichnenden physiologischen und psychologischen Merkmalen einzeln erschaffen worden sind. Öder wir können auf Grund der Ähnlichkeiten, die wir zwischen nahestehenden Formen finden, an eine stufenweise Entwicklung glauben; und dank dem Lebenswerke Darwins ist diese Theorie vom Ursprung der Arten allgemein angenommen worden. Der Evolutionsprozeß war nicht nur am Werke bei der Entwicklung neuer Formen, sondern auch bei der Entwicklung der mechanischen Hilfsmittel, die der Verrichtung der verschiedenen vitalen Funktionen dienen. Noch heute besteht die alte Vorstellung, daß die physiologischen Mechanismen bei den Tieren und den Pflanzen deshalb, weil sie sich in divergenter Richtung entwickelt haben, von Grund auf verschieden sein müßten. Doch die in diesem Buche mitgeteilte Erkenntnis wird genügen, zu zeigen, daß diese Vorstellung jeder Begründung entbehrt.

Wenn wir zur Frage des Bewußtseins zurückkehren, so sagen wir gewöhnlich, daß unsere Lieblingstiere, die Hunde zum Beispiel, ein solches besitzen. Wir denken so infolge unserer Sympathie. Doch hat ein Fisch Bewußtsein? Manche sagen ja, andere nein. Wo beginnt im Tierreich das Bewußtsein, wo tritt es zum Leben hinzu? Bergson diskutiert dieses Problem in seinem Buche "Energie spirituelle":

"Es steht keineswegs fest, daß die Existenz eines Gehirnes für das Bewußtsein unerläßlich ist. Je tiefer wir in der Reihe der Tiere hinabsteigen, desto einfacher werden die Nervenzentren und desto zerstreuter liegen sie und schließlich verschwinden sie ganz, indem sie in der allgemeinen Masse der lebenden Substanz aufgehen, ohne noch eigene Differenzierungen aufzuweisen. Wenn also auch am Gipfel der Entwicklungsreihe des Lebens das Bewußtsein an höchst komplizierte Nervenzentren gebunden ist, -müssen wir nicht annehmen, daß es das Nervensystem hinab bis an die ersten Anfänge begleitet und daß auch dort, wo die Nervensubstanz in der noch undifferenzierten lebenden Substanz aufgeht, noch Bewußtsein vorhanden ist, zwar nur in schwacher, diffuser Form, doch nicht auf nichts reduziert? Theoretisch könnte also jedes lebende Wesen Bewußtsein haben. Im Prinzip ist also das Bewußtsein soweit ausgedehnt wie das Leben selbst. Die Amoebe streckt ihre Fortsätze nach Stoffen aus, die ihr als Nahrung dienen können, um die Fremdkörperchen zu ergreifen und einzuhüllen. Jene Pseudopodien sind wirkliche Organe mit eigener Funktion; doch sie werden nur vorübergehend für spezielle Zwecke ausgebildet und dann wieder eingezogen...

Es erscheint höchst wahrscheinlich, daß das Bewußtsein, ursprünglich allem Leben immanent, dort, wo keine Eigenbewegung mehr existiert, latent vorhanden ist, und daß es da erwacht, wo das Leben zu freier Beweglichkeit gelangt."

Im Tierreich betrachtet man also das Bewußtsein als verbunden mit den spontanen, dem Willen unterworfenen Bewegungen, die durch innere, verborgene Ursachen zustande kommen. Es ist auch verbunden mit den Nerven-Reaktionen. Diese zwei wichtigen Charakterzüge fehlen, so meint man, bei der Pflanze gänzlich.

Wir lassen die metaphysischen Fragen, über welche die Meinungen zu weit auseinander gehen, beiseite; wir wollen uns mit experimentellen Tatsachen und dem, was sich aus ihnen direkt folgern läßt, beschäftigen. Wir werden sehen, daß es keine Charakterzüge der höheren Tiere gibt, die sich nicht auch schon bei der Pflanze angedeutet fänden. Wir werden finden, daß alle Pflanzen, selbst starre Bäume, die Reize aus der Umwelt wahrnehmen und sichtbar beantworten; selbst jene Spontanbeweglichkeit, die für das tierische Leben so kennzeichnend ist, fehlt dem pflanzlichen Leben nicht. Sie ist hier nicht nur latent, sondern aktiv tätig vorhanden. Ich werde in einem späteren Kapitel Versuche beschreiben, die zeigen, daß manche Pflanzen selbst ein Nervensystem von recht hoher Differenzierung besitzen.

Die Pflanzen sind zudem mit unverkennbaren Sinnesorganen ausgestattet, welchen die verschiedenen Pflanzenteile ihre Fähigkeit verdanken, eine geeignete, für sie günstige Position in der Umwelt einzunehmen, und solche Einrichtungen gemahnen uns ganz an die Verhältnisse bei den Tieren.

Und wann tritt beim Menschen selbst zuerst das Bewußtsein auf in seiner Entwicklung vom Moment, wo die Eizelle befruchtet wird, bis zur Zeit, wo er voll erwachsen ist? Sehen wir nicht, daß es zu jeder Zeit vorhanden sein muß, erst latent, dann unmerklich bis zur vollen Blüte erwachsend? Mit anderen Worten, es führt eine stete Entwicklung vom ersten Beginnen bis zur höchsten Vollendung. Und es liegt wahrlich nichts Erniedrigendes in unserer Verwandtschaft mit den Geringsten der Geringen. Es darf den Menschen vielmehr mit Stolz erfüllen, daß er durch Kampf auf der Leiter des Daseins vom Protoplasmaklümpchen zu seiner jetzigen Höhe emporgestiegen ist.

 
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