Die Pflanzenschrift und ihre Offenbarungen

von Jagadis Chunder Bose


XXV. KAPITEL
DER SONNENGOTT UND SEIN BLATTGESPANN

Beim Tier entscheidet die rasche Kommunikation zwischen verschiedenen Organen oft über Leben und Tod; denn wenn das Tier durch seinen Gesichts- oder Gehörsinn eine drohende Gefahr wahrnimmt, so wird auf der Stelle längs der Nerven eine Botschaft nach den Organen der Bewegung entsandt, die sofort in Tätigkeit treten, so daß das Tier entfliehen kann. Wie ein Tier reagiert, das hängt ganz davon ab, wie der Reiz geartet ist; ist er von günstiger Art, so wendet das Tier sich ihm zu, ist er ungünstig, so wendet es sich hinweg.

Ebenso sehen wir die Pflanze auf gelinde und auf sehr heftige Reizung in entgegengesetzter Weise reagieren. Die letztere bedroht das Leben der Pflanze, und ich werde in einem späteren Kapitel die charakteristischen Bewegungen der Mimosa beschreiben, durch welche diese Pflanze jeder Quelle intensiver Reizung zu entrinnen sucht.

Im folgenden will ich davon sprechen, wie es die Pflanze macht, jene Reize auszunützen, die ihrem Wohle günstig sind. Schon früher haben wir dargelegt, daß das Licht von wesentlicher Wichtigkeit für die Kohlensäureassimilation der Pflanze ist. Die stärkste Lichtabsorption findet dann statt, wenn die Blattoberflächen zu den einfallenden Lichtstrahlen senkrecht stehen. Diese senkrechte Stellung wird als diaheliotropische Lichtlage der Blätter beschrieben.
Fig. 117. Diaheliotropische Lichtstellung von Blättern, a) bei Mimosa pudica, b) bei Helianthus annuus, c) bei einer anderen Art von Helianthus.
Fig. 117. Diaheliotropische Lichtstellung von Blättern, a) bei Mimosa pudica, b) bei Helianthus annuus, c) bei einer anderen Art von Helianthus.

Dieses Suchen nach Licht zeigen die photographischen Bilder einiger Pflanzen aus meinem Garten (Fig. 117). Das mittlere Bild zeigt eine Sonnenblume, die an einer Mauer wuchs, wo die Pflanze dem Westlichte ausgesetzt war. Die mit l und 3 bezeichneten Blätter haben eine Drehung -nach rechts oder links - erfahren, so daß nun die Oberseite der Blattspreiten rechtwinklig zum einfallenden Licht sich ausbreitet. Die Figur ganz rechts zeigt die Krümmung und Lichtlage einer anderen Sonnenblumenart, die auf freiem Feld gewachsen war. Am Morgen wendet sie sich nach Osten, und alle Blätter zeigen Drehungen und Torsionen, geeignet, sie dem Lichte zuzukehren. Am Nachmittag wendet die Pflanze sich nach Westen, alle früheren Krümmungen sind jetzt in die gegenteiligen verwandelt. Die Pflanze zeigte diesen täglichen Wechsel Tag für Tag, bis die Bewegungen mit dem Alter verschwanden.

Noch auffälligere Lichtstellungen zeigt die Mimosa, deren photographisches Bild links in unserer Figur wiedergegeben ist. Die Pflanze wuchs in einem Topf und war dem Nordlicht ausgesetzt gewesen. Man sieht, daß die Blätter in der Lichtlage aufgerichtet und so orientiert sind, daß die Blattstiele zweiter Ordnung mit ihren Blättchen unter einem rechten Winkel zum stärksten einfallenden Lichte stehen. Die seitlich stehenden Blätter haben solche Torsionen ausgeführt, daß die Ebene der Blättchen genau senkrecht zum Lichte liegt; man bemerkt, daß die Blattstiele auf der rechten und linken Seite entgegengesetzte Torsionen ausgeführt haben. Als diese Lage eingenommen worden war, wurde der Topf mit der Pflanze um 180° gedreht. Dies führte im Verlaufe von 20 Minuten zu einer neuen Lichtorientierung, wobei die Ebene aller Blättchen auch jetzt wieder rechtwinklig zum Lichte lag. Die neue Stellung hatte eine völlige Umkehr der früheren Bewegungen und Torsionen notwendig gemacht.

WIE DIE PFLANZEN SICH SONNEN

Wie kommen diese Bewegungen zustande? Die Blätter wenden sich, als wollten sie sich sonnen. Was geschieht, wenn wir unsere flache Hand der Sonne zuwenden? Damit dies erreicht werde, muß der komplizierte Muskelmechanismus im Arme in Tätigkeit treten, welcher Drehungen nach rechts und links oder nach oben und unten bewirkt. Auch bei den Blättern müssen solche komplexe Bewegungen irgendwelcher Art im Gelenkpolster, dem Bewegungsorgan durch die Lichtwirkung induziert werden.

Für die notwendigen Beobachtungen wähle ich als Versuchspflanze Mimosa, bei welcher die Beweglichkeit des Gelenkpolsters so sehr klar ausgeprägt ist. Man hat gewöhnlich gedacht, daß der motorische Mechanismus des Blattes einfach ist und nur die bloße Aufwärts- und Abwärtsbewegung zuläßt. Die Ergebnisse meiner Untersuchungen zeigen indes, daß dies keineswegs der Fall ist, denn jener

Mechanismus ist imstande, sehr komplizierte Bewegungen zur Ausführung zu bringen, nicht nur solche nach oben und unten, sondern auch Drehungen nach rechts und links.
Fig. 118. Darstellung des Verlaufes der vier Nervenstränge von den vier Blättchenstielen zweiter Ordnung zum Gelenk am Grund des Blattstiels erster Ordnung (Mimosapudica). Die untere Figur zeigt schematisch den Querschnitt durch das Gelenkpolster mit seinen vier Quadranten. Die Quadranten l und 4, welche die Drehung nach links und rechts bewirken, stehen in direkter Nervenverbindung mit den Blättchenstielen l und 4. Der untere Quadrant 2 ist mit dem Blättchenstiel 2 verbunden, er bewirkt die rasche Senkbewegung. Der obere Quadrant 3 steht mit dem Blättchenstiel 3 in Verbindung, er bewirkt die langsame Wiederaufrichtung. Der Beschauer sieht den Querschnitt von außen.
Fig. 118. Darstellung des Verlaufes der vier Nervenstränge von den vier Blättchenstielen zweiter Ordnung zum Gelenk am Grund des Blattstiels erster Ordnung (Mimosapudica). Die untere Figur zeigt schematisch den Querschnitt durch das Gelenkpolster mit seinen vier Quadranten. Die Quadranten l und 4, welche die Drehung nach links und rechts bewirken, stehen in direkter Nervenverbindung mit den Blättchenstielen l und 4. Der untere Quadrant 2 ist mit dem Blättchenstiel 2 verbunden, er bewirkt die rasche Senkbewegung. Der obere Quadrant 3 steht mit dem Blättchenstiel 3 in Verbindung, er bewirkt die langsame Wiederaufrichtung. Der Beschauer sieht den Querschnitt von außen.

Das Gelenkpolster selbst können wir uns aus vier Quadranten bestehend denken, einem linken, rechten, oberen und unteren; sie sind in Fig. 118 mit 1, 4, 3 und 2 bezeichnet. Wenn nun der linke Quadrant l durch einen schwachen elektrischen Schock oder durch einen Lichtstrahl lokal gereizt wird, dann antwortet das Blatt nicht durch eine Fallbewegung, sondern durch eine Drehung nach links. Läßt man den Reiz statt auf den linken auf den rechten Quadranten 4 einwirken, so besteht die Reaktion in einer Drehung nach rechts. Eine Reizung des oberen Quadranten 3 bewirkt eine leichte Bewegung nach aufwärts, während die Reizung des unteren Quadranten 2 eine raschere Abwärtsbewegung zur Folge hat. Die Blättchen an den vier Blättchenstielen werden durch diese muskelähnlichen Reaktionen der vier Quadranten wie kleine, aufgeschnürte Fähnchen mitbewegt. Wenn die grünen Blättchen in der Nachtstellung einander decken und das Licht abhalten und wenn nun das Sonnenlicht von Osten her den rechten Quadranten 4 trifft, so dreht sich das Blatt als Ganzes nach rechts, mitsamt allen Blättchen auf den vier Stielen, als wenn diese der Sonne ins Antlitz schauen wollten, die sie doch nicht sehen können. Wenn anderseits das Sonnenlicht von Westen kommt und den linken Quadranten trifft, dann kehrt sich die Drehung um und die Blättchen schauen nach Westen.

Soviel über die Torsionsbewegungen infolge direkter Lichtreizung des motilen Organs. Unter natürlichen Bedingungen ist aber das Gelenkpolster vor dem direkten Licht durch den Schatten, den die Blättchen werfen, gedeckt. Wie kann sich da das Blatt nach links wenden, wenn das Bewegungsorgan nicht direkt gereizt wird? Nichts einfacher: dadurch, daß das Gelenkpolster durch Botschaft von den Blättchen vom Stande der Dinge erfährt.

NERVEN -VERBINDUNG ZWISCHEN BLATT UND GELENKPOLSTER

Ich habe an anderer Stelle6 gezeigt, daß es bestimmte Nervenverbindungen zwischen den vier Blättchenstielen und den vier Quadranten gibt. So löst ein gelinder, elektrischer Reiz, der auf den linken Blättchenstiel einwirkt, einen Nervenimpuls aus, welcher, den linken Quadranten l erreichend, dessen kennzeichnende Reaktion, nämlich eine Drehung nach links herbeiführt. In derselben Weise hat eine Reizung des rechten Blättchenstieles eine Drehung nach rechts zur Folge. Die Reizung der mittleren Blättchenstiele führt zur Aufwärts- oder Abwärtsbewegung. Gleiche Erfolge erhält man auch, wenn die Stiele, die die Blättchen tragen, nicht auf elektrischem Wege, sondern durch Licht gereizt werden.

DIE ANGEBUNDENEN MOTTEN

Wenn ein Mann, der ein Boot rudert, nur das eine Ruder schlägt, so dreht er sich rundum, ohne vorwärts zu kommen. Nur wenn beide Ruder mit gleicher Kraft bewegt werden, kann eine zweckvoll gerichtete Bewegung zustande kommen. Wenn eine Schar von Motten an dünnen Fäden festgebunden ist, die die freie Bewegung der Flügel nicht stören, so werden sie alle dem Lichte zustreben und sich nach ihm wenden. Der Grund ist, daß ihre beiden Augen gleich stark vom Licht gereizt werden und der nach den Flügeln geleitete Nervenimpuls diese mit gleicher Schnelligkeit und Kraft schlagen läßt. Stünde eine Motte durch Zufall schräg zum Licht, so empfinge ihr eines Auge einen stärkeren Lichtreiz als das andere; infolgedessen würde sie sich drehen, solange bis beide Augen die gleiche Lichtmenge empfangen. Das Mimosenblatt verhält sich nun ganz so, wie die festgebundene Motte, die sich dem Lichte zuwendet.

In der Pflanze bewirkt ein schräg einfallender Lichtstrahl, der den einen Blättchenstiel, z. B. den ersten auf der Linken, trifft, eine Torsion, durch die das Blatt sich solange herumdreht, bis der vierte Blättchenstiel in die Lichtlinie gelangt: die Wirkung des Reizes auf diesen Blättchenstiel wird aber dahin wirken, daß das Blatt sich nach rechts dreht, so daß die frühere Torsionsbewegung unterbrochen wird. Die zwei gegensinnigen Reaktionen gelangen dann zum Gleichgewicht, wenn die zwei Blättchenstiele in gleichem Maße beleuchtet werden, was dann der Fall ist, wenn sie senkrecht zum einfallenden Licht stehen. Die seitliche Bewegung zur Lichtlage des ganzen Blattes kommt also durch die zwei Blättchenstiele l und 4, welche außen liegen, zustande. Die Bewegung in der Vertikalen wird durch die aus den zwei mittleren Blättchenstielen zugeleitete Erregung bestimmt. Es ist klar, daß ein Gleichgewicht nur möglich wird, wenn die ganze Fläche des Blattes, das sich aus den auf den Stielen zweiter Ordnung sitzenden Blättchen zusammensetzt, gleich stark beleuchtet wird, und dies ist nur dann der Fall, wenn die Blattoberseite völlig senkrecht zum einfallenden Lichte steht. So orientiert sich das Blatt im Räume durch die koordinierte Wirkung der Impulse, die von der reizempfänglichen Zone der vier Blättchen ausgehen, dem Gelenkpolster zugeleitet werden und die vier Quadranten des Bewegungsorganes in Tätigkeit setzen.

So sehen wir vier Brüder, Freunde der Sonne, bestrebt, sich in das Sonnenlicht getreulich zu teilen; allein jeder hält einen Zügel, der das gemeinsame Fahrzeug nach einer Himmelsrichtung zu lenken vermag. Denken wir uns, sie alle wenden das Antlitz nach oben. Die Sonne, die im Osten emporsteigt, trifft mit ihrem Strahl den Bruder zur Rechten; er sendet die Botschaft sogleich nach seinem Viertel des Gelenkes, das nun die Drehung nach rechts ausführt und nicht nur den Bruder, der die Botschaft erspäht hat, sondern alle Brüder dem Sonnenlicht zuführt. Wenn das Blatt zu weit schwingen will, so greift der vierte Bruder ein, er zieht entgegen und sorgt für die rechte Lage.

Nach all dem ist Helios, der Sonnengott, der Quell aller Bewegung auf Erden und aller Bewegung der lebenden Geschöpfe. Er weckt uns jeden Tag von unserem Lager, er führt das Wasser vom Äquator nach den Spitzen des Himalaya, er läßt die Ströme fließen und macht die Winde wehen. Bei solch mächtigen Werken vernachlässigt er doch auch nicht das kleinste Blatt, denn er steigt herab und macht es zu seinem Fahrzeug. Die vier Nerven des Blattes sind die Zügel, mit ihnen lenkt er das Gespann und führt es nach oben und nach unten, nach der Rechten und nach der Linken.

 


Erläuterung der Fußnoten.

6. The Dia-Heliotropic Attitüde of Leaves äs Determined by Transmitted Nervous Excitation', Proceedings of Royal Society, B, vol. 93, 1922, pag. 153.
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