Die Pflanzenschrift und ihre Offenbarungen
von Jagadis Chunder Bose
XIX. KAPITEL
DER WEINENDE MANGO-BAUM
Seit dem Erfolg meiner Untersuchung über die wahren Ursachen der Gebetsübungen der berühmten betenden Palme von Faridpore wurde ich oft zu Rate gezogen, wenn es galt, Vorkommnisse zu deuten, die auf den ersten Blick übernatürlich und wunderbar erschienen. Ein besonders merkwürdiger solcher Fall war das periodische "Weinen" eines Mangobaumes in einem Vorort von Calcutta.
Dieser Baum ist voll erwachsen und etwas über 13 m hoch. Der Umfang des Stammes ist l m und die ausgebreiteten, reich belaubten Äste bedecken eine Fläche von etwa 90 qm (Fig. 81). Das sogenannte "Weinen" beginnt jeden Tag ohne sichtbaren äußeren Anlaß pünktlich um l Uhr mittags an einer Stelle hoch oben im Baume. Es ist anfangs sehr reichlich, da die Tropfen sich in Pausen von 2 Sekunden folgen. Der Weinkrampf nimmt dann allmählich ab, und der Abstand zwischen je zwei Tropfen steigt auf 5 Sekunden um 2 Uhr p. m., auf acht Sekunden um 3 Uhr p. m., auf fünfzehn Sekunden um 4 Uhr p. m., auf 150 Sekunden um 5 Uhr p. m.; nachher hört dann das Weinen für diesen Tag auf. Der ganze Vorgang wiederholt sich indes jeden Tag um l Uhr p. m. in derselben Folge. Der geheimnisvolle Vorgang wurde von den Leuten als ein Boses Omen betrachtet, und es entstand große Aufregung in der ganzen Nachbarschaft. In ihrer Ratlosigkeit baten mich die Leute, die Sache zu deuten und womöglich den Baum von seiner Melancholie zu heilen.
Es hatte auf den ersten Blick den Anschein, daß der Druck des Saftes im Inneren des Baumes um l Uhr p. m. auf irgendwelche Weise plötzlich ansteigt und daß sich der Saft dann durch eine Öffnung hoch oben im Baum seinen Weg nach außen bahnt.
TÄGLICHE SCHWANKUNG DES BLUTUNGSDRUCKES
Wenn der Saftdruck im Inneren eines Baumstammes sehr groß ist, dann wird durch ein Loch, das man in den Stamm bohrt, Saft ausgeschieden. Der Innendruck kann aber auch niederer sein als der äußere Luftdruck von einer Atmosphäre. Statt daß es zu einer Abscheidung käme, wird dann Wasser kräftig in das Bohrloch eingesogen. Die Schwankungen des Innendruckes oder "Blutungsdruckes" lassen sich kontinuierlich aufzeichnen, wenn man an dem Baumstamm ein selbstregistrierendes Manometer befestigt.
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Fig. 81. Photographie des "weinenden" Mangobaumes. Die Abscheidung erfolgt aus einem kleinen Loch, das mit einem Pfeil bezeichnet ist. Der Registrierapparat ist am Baum befestigt. |
Der Druck zu jeder Stunde hängt von der relativen Wasserzufuhr und Wasserabgabe des Baumes ab. Das Wasser wird aus dem Boden aufgenommen und in dem Stamm durch den Pumpmechanismus, den wir schon beschrieben haben, emporgepreßt. Die Lebhaftigkeit dieses Vorganges nimmt innerhalb gewisser Grenzen mit steigender Temperatur zu. Der Moment, an dem die höchste Temperatur erreicht wird, bezeichne ich als das Tages-maximum, den der niedersten Temperatur als das Tagesminimum. Das Maximum wird unter normalen Umständen etwa um 2 Uhr nachmittags, das Minimum etwa um 6 Uhr morgens erreicht.
DRUCKSCHWANKUNGEN IN BLATTLOSEN BÄUMEN
Es gibt manche Bäume, die ihr Laub zur Winterszeit abwerfen. Es findet dann kein Wasserverlust durch die Transpiration der Blätter statt, und die Schwankungen im inneren Saftdruck werden nur durch die von der Temperatur abhängigen Veränderungen der Wurzelsaugung bestimmt. Das Druckmaximum deckt sich dann mit dem Temperatur-Maximum um 2 Uhr p. m., das Druckminimum mit dem Temperaturminimum um 6 Uhr a. m. Der Saft quillt um die Mittagsstunde mit großer Intensität aus einem Loch, das man in den Stamm bohrt, hervor.
DRUCKSCHWANKUNGEN IN BEBLÄTTERTEN BÄUMEN
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Fig. 82. Tageskurve der Druckschwankungen beim Regenbaum (Pithecolobium). Die obere Kurve zeigt die Veränderung der Temperatur, die untere die des Druckes. Man beachte, daß der Druck beim Temperaturmaximum um 2 Uhr p. m. sein Minimum erreicht. |
Die Verhältnisse in Bäumen, welche eine große Zahl transpirierender Blätter tragen, sind etwas komplizierter. Das Wasser wird auch hier mit größter Kraft um die Mittagsstunde aufgenommen, doch der Transpirationsverlust ist ebenfalls um diese Zeit am größten; und der Verlust ist tatsächlich größer als der Gewinn. Infolgedessen zeigt die Tageskurve des Druckes in beblätterten Bäumen den umgekehrten Verlauf wie in unbeblätterten. Das Druckmaximum fällt in beblätterten Pflanzen auf die Zeit des Temperaturminimums, das Druckminimum auf die Zeit des Tem-peraturmaximums.
In Fig. 82 stellt die obere Kurve den Verlauf der Temperatur von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends dar. Die untere Kurve zeigt den Verlauf des Druckes in einem beblätterten Regenbaum (Pithecolobium). Man sieht, daß das Druckminimum auf die Zeit der höchsten Temperatur um 2 Uhr p. m. fällt. Die Druckkurve erscheint mehr oder minder als eine Umkehr der Temperaturkurve. Die höchste Temperatur um die Mittagszeit entspricht dem Minimum des Drucks im Inneren des Stammes. Daher wird um die Mittagszeit Wasser durch ein Bohrloch nicht ausgeschieden, sondern eingesogen.
DIE WASSERABSCHEIDUNG DES MANGOBAUMES
Da der Mangobaum zahlreiche transpirierende Blätter trug, so hätte der innere Stammdruck um die Mittagszeit sein Minimum haben sollen. Gleichwohl erreichte das "Weinen" oder die Saftabscheidung um diese Zeit ihr Maximum. Eine genauere Untersuchung des Baumes förderte die Tatsache zutage, daß sich in der Borke an einer Stelle hoch oben im Baum eine kleine Öffnung, ein Loch befand. Dieses Loch war gewöhnlich durch einen Schleimpfropfen verschlossen, der aber durch den starken Druck, welchen der Saft um l Uhr p. m. von innen her ausübte, herausgetrieben wurde. Es war höchst auffällig, daß die maximale Saftabscheidung hier um die Mittagszeit stattfand, wo doch der Innendruck in beblätterten Bäumen am größten zu sein pflegt.
Dies gab mir Anlaß, den zeitlichen Verlauf des Druckes im Mangobaum eingehend zu untersuchen. An einem Punkt genau gegenüber der Ausflußstelle wurde ein Bohrloch angebracht und efn selbstregistrierendes Manometer befestigt. Es ergab sich, daß die Druckkurve, wie erwartet, um die Mittagszeit ihr Minimum hatte; ja um diese Zeit fand aus dem Bohrloch auch nicht die mindeste Saftabscheidung statt. Was für Ursachen konnte dieser Unterschied in derselben Stammhöhe haben, welche die lebhafte Saft-abscheidung auf der einen Seite des Baumes, das völlige Fehlen einer solchen aus dem Bohrloch auf der anderen Seite zu erklären vermöchten?
Um die Frage beantworten zu können, entfernte ich vorsichtig die Borke und das darunterliegende Gewebe um das Loch herum. Dies führte zur Entdeckung einer großen, länglichen Höhlung von unregelmäßiger Form, die durch Zersetzung des jungen Splintholzes entstanden war; die Reste desselben waren am Grund der Höhlung noch zu sehen. Die äußere Grenze der Höhle wurde durch die Rinde gebildet, deren Gewebe, Phloem und Borke, intakt waren. Die innere Grenze bestand aus dem Kernholz oder Hartholz, welches ja den Saft nicht leitet (Fig. 83). Das völlige Fehlen der Abscheidung am Bohrloch auf der linken Stammseite und die reichliche Saftabgabe aus der Höhlung auf der rechten Seite kann nur auf strukturellen Unterschieden zwischen beiden Seiten beruhen, nämlich auf der Gegenwart des Splintholzes auf der linken, seinem Fehlen auf der rechten Seite. Die aktive Rinde bildet die Wandung der Höhle und die Abscheidung der diese erfüllenden Flüssigkeit kann nur auf einer seitlichen Pumptätigkeit der Rinde beruhen, deren Lebhaftigkeit in gleichem Schritt mit der Temperatur ansteigt, welche ihr Maximum um 2 Uhr p. m. erreicht.
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Fig. 83. Schnitte durch den Stamm des Mangobaumes. Die Figur links ist ein vergrößerter Querschnitt durch einen jungen Stamm. E Epidermis, C Rinde, G Drüse, P Phloem, X Xylem. Die Figur rechts gibt schematisch einen Längsschnitt durch den Stamm mit der Höhlung, aus der die Abscheidung erfolgt. Der seitlich durch die Rinde eingepumpte Saft sammelt sich in der Höhlung an. Auf der linken Seite des Stammes wird der seitlich eingepreßte Saft rasch vom Splint aufgenommen, in welchem infolge der Transpiration der Blätter ein negativer Druck herrscht. Der Druck wird durch das Manometer M angezeigt. Durch das Bohrloch E findet keine Abscheidung statt. |
Wir müssen nun noch eine Erklärung dafür geben, warum die Abscheidung immer gerade pünktlich um l Uhr mittags beginnt. Die genauere Betrachtung des Baumes zeigte, daß die Blätter während des größten Teils des Tages ihre Schatten auf den Baum warfen. Es war aber eine Lücke zwischen dem Laubwerk, so daß während der Wanderung der Sonne von Ost nach West das Sonnenlicht vorübergehend direkt auf den Teil des Stammes, der den Saft abschied, fiel, und zwar genau um l Uhr mittags, und dadurch wurde ein lokaler Temperaturanstieg verursacht.
Infolgedessen wurde nun die Lebenstätigkeit der Rinde stark erhöht, und die hierdurch verstärkte Saftahscheidung bewirkte ein rasches Steigen des Flüssigkeitsspiegels in der Höhlung. Durch die starke Druckzunahme wurde der Propf ausgestoßen, worauf der Saft rasch abfloß. Später am Tage wurde die Sonne durch das Laub verdeckt und die Temperatur nahm rasch wieder ab. Entsprechend wurde auch das Weinen des Baumes schwächer und hörte am Abend auf.
Auf der linken Seite des Stammes war das Splintholz nicht unterbrochen, und es konnte hier leicht alles Wasser, das von den aktiv tätigen Rindenzellen seitlich eingepumpt wurde, aufnehmen. Deshalb kam es hier zu keiner Saftanhäufung, und aus dem Bohrloch auf der linken Seite fand keine Abscheidung statt.
Das "Weinen" beruhte somit darauf, daß der seitlich eingepreßte Saft sich in der Höhlung sammelte, zu gewissen Zeiten überfloß und aus dem Loche ausbrach. Der Baum hörte zu weinen auf, als ich die Höhlung verstopft und den freigelegten Teil der Stammoberfläche mit schwarzem Teer verschmiert hatte.
Die Ergebnisse dieses Kapitels beweisen mit Sicherheit, daß die Pulsationstätigkeit der Rindenzellen den Saft nicht nur aufwärts, sondern auch in seitlicher Richtung zu bewegen vermag, wodurch er in die jungen Holzgefäße, die als Reservoir dienen, eingepumpt wird. Es wird auch bewiesen, daß das junge Holz als Kanal für den mechanischen Transport des Wassers dient, doch wird die Kraft für die seitliche Einpressung durch die aktiven Rindenzellen geliefert.