Die Pflanzenschrift und ihre Offenbarungen
von Jagadis Chunder Bose
XVI. KAPITEL
DIE NACHTWACHE DER NYMPHAEA
Die Dichter haben der Wissenschaft vorgegriffen. Warum wacht die Seerose jede Nacht und schließt ihre Blüten während des Tages? Sie sagen darum, weil die Seerose den Mond liebt, und so wie die menschliche Seele sich ausdehnt und weitet, wenn die Liebe sie berührt, so öffnet die Rose ihr Herz, wenn die Strahlen des Mondes sie treffen, und hält Wache durch die ganze Nacht; sie bebt erschrocken zurück vor der rauhen Berührung der Sonne und schließt ihre Blüten während des Tages. Die äußeren Blumenblätter der Seerose sind grün, und tagsüber sind die geschlossenen Blüten kaum wahrnehmbar zwischen den großen, grünen, auf den Wassern treibenden Blättern. Am Abend zeigt sich die Szene wie durch ein Wunder verwandelt, und Myriaden glänzender, weißer Blüten bedecken das dunkle Wasser (Fig. 64). Die Dichter haben dieses Phänomen, das täglich wiederkehrt, nicht nur beobachtet, sie haben auch eine Erklärung dafür gegeben: die Seerose liebt den Mond und fürchtet sich vor der Sonne!
Wäre der Dichter mit einer Laterne in einer dunklen Nacht hinausgegangen, so würde er bemerkt haben, daß die Seerose sich auch öffnet, wenn keine Spur von Mondeslicht zu sehen ist! Doch vom Dichter kann man nicht erwarten, daß er eine Laterne nimmt und im Finstern umhersucht; solch ein absonderliches Beginnen ist nur für den Mann der Wissenschaft kennzeichnend. Die Seerose aber schließt sich auch nicht, wenn die Sonne erscheint, denn die Blüten bleiben oft wach bis gegen 11 Uhr am Vormittag.3
Der Zoologe Cuvier wurde einst von einem französischen Lexikonschreiber gefragt, ob seine Definition der Krabbe, "ein kleiner, roter Fisch, der rückwärts geht", richtig sei. "Großartig!" sagte Cuvier, "die Krabbe ist nur nicht immer klein, sie ist nicht rot, außer gekocht, sie ist kein Fisch und sie kann nicht rückwärts gehen; im übrigen ist Ihre Definition einwandfrei." Und ebenso steht es mit der Beschreibung, die der Dichter von der Bewegung der Seerose gibt; diese öffnet sich nicht beim Mondlicht und schließt sich nicht vor der Sonne.
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Fig. 64. Nymphaea, geschlossen und offen. |
Das Schlafen und Wachen der Seerose ist keineswegs eine isolierte Erscheinung. Auf eine andere, merkwürdige Blütenbewegung wurde meine Aufmerksamkeit zuerst durch ein Volkslied gelenkt, welches beginnt:
Das Werk des Tages ist vollbracht,
Kurz war es wie unser Leben.
Seht nun das goldgestirnte Feld
Sich öffnender Jhinga-Blumen.
Nun wurde ich jeden Abend Zeuge eines großartigen Verwandlungsspieles in meinem Versuchsgarten zu Sijbaria am Ganges. Der Gärtner hatte ein großes Beet mit Jhinga (Luffa acutangula) bepflanzt. Wenn die Blüten zur Tageszeit geschlossen sind, sind sie sehr unscheinbar; denn die Blumenblätter sind von außen mattgrün; wenn ich nachmittags spazieren gehe, kann ich das alte, wohlbekannte Feld kaum wiedererkennen; doch ein wenig später ist es bedeckt mit einer Menge von Blüten mit ihrem goldenen Glanz. Sie bleiben offen durch die ganze Nacht, schließen sich aber früh am Morgen; das schöne, in Gold gekleidete Feld scheint dann plötzlich verschwunden zu sein.
Wir wollen nun versuchen, das Phänomen des öffnens und Schließens der Seerose zu verstehen. Zahlreiche Reize aus der Umwelt wirken auf die Pflanze ein, und einer davon ist die Wirkung des Lichtes; ein allbekanntes Beispiel liefert die Sonnenblume, die sich dem Lichte zuwendet. Man hat gefunden, daß von allen im weißen Lichte vorhandenen Strahlen, welche Bewegungen bei Pflanzen auslösen können, die blauen und violetten Strahlen am kräftigsten sind; die gelben und die roten sind praktisch unwirksam. Nun enthält das Mondlicht, von seiner Schwäche abgesehen, auch nur wenig wirksame Strahlen; das Licht des Mondes kann daher nicht die Ursache der Bewegung der Blütenblätter sein.
Das einzig wirksame Licht ist das der Sonne, doch das öffnen und Schließen der Seerosen hat mit dem Auf- und Untergehen der Sonne nicht viel zu schaffen. Das Offensein kann nicht durch das Verschwinden der Sonne bewirkt sein, denn die Blüten sind auch am Vormittag offen; es kann auch nicht vom Sonnenaufgang bewirkt sein, da die Blüten schon offen sind, wenn die Sonne erscheint. Wir können somit das tägliche Bewegungsspiel der Blüten nicht auf die abwechselnde Wirkung von Licht und Dunkelheit zurückführen.
KOMPLIZIERTHEIT DES PROBLEMS
Die Pflanze wird nicht bloß durch Reize von einer Form getroffen. Die Bewegungserscheinungen der Pflanze sind, wie wir schon früher ausgeführt haben, so lange Zeit unklar geblieben, weil so zahlreiche Faktoren zusammenwirken, sie herbeizuführen. Wir werden dies noch besser verstehen, wenn wir einmal nur zwei von den zahlreichen auf die Pflanze wirkenden Faktoren herausgreifen - den Reiz der Schwerkraft und jenen des Lichtes. Gewisse Organe sind in hohem Grad empfänglich für geotropische Reizung, während andere nur schwach dafür empfänglich sind. Wir bezeichnen die stärkere Reaktion mit G, die schwache mit g. Was das Licht betrifft, so gibt es da zwei scharf unterschiedene Arten der Reizwirkung: positiven Heliotropismus, wenn das Organ sich zum Licht wendet, und negativen Heliotropismus, wenn das Organ sich vom Lichte wegkehrt. Sind diese Wirkungen stark, so bezeichnen wir sie mit +L und -L; sind sie schwach, mit +1 und -1.
Was wird nun geschehen, wenn ein horizontal liegender Stengel der kombinierten Wirkung geotropischer und heliotropischer Reizung ausgesetzt wird? Durch die geotropische Reaktion wird der Stengel sich aufwärts krümmen. Falls das Organ positiv heliotropisch ist, so wird die Krümmung unter lotrecht einfallendem Lichte es gleichfalls aufwärts führen. Geotropismus und Heliotropismus werden dann zusammenwirken, der Endeffekt ist G + L. Falls das Organ aber negativ heliotropisch ist, so ist die resultierende Wirkung G-L. Nehmen wir weiter noch Rücksicht auf die relative Empfindlichkeit des Organs gegenüber den Reizen der Schwerkraft und des Lichtes, so gelangen wir zu folgenden möglichen Kombinationen: G + L; G -L; G + l; G -l, g + L; g-L; g +1; g-1.
Acht verschiedene Wirkungen ergeben sich also durch die Kombination von bloß zwei Faktoren. Nun sind aber auch noch andere Faktoren im Spiel, wie das Steigen und Sinken der Temperatur. Weitere Komplikationen kommen hinzu durch die ungleiche Reizbarkeit der beiden Seiten eines Organs; manchmal ist es die Oberseite, manchmal ist es die Unterseite, die stärker erregbar ist und deshalb ausgesprochener reagiert. Alles in allem sind mindestens zehn Faktoren im Spiel, und ihre möglichen Kombinationen würden weit über tausend gehen.
Es ist also kein Wunder, daß die Bewegungen der Pflanzen so außerordentlich verwickelt erscheinen. Die Bemühungen, die wahre Erklärung zu finden, sind lange vereitelt worden dadurch, daß es bisher unmöglich war, die Wirkungen der einzelnen Faktoren zu isolieren und sie gesondert zu studieren, um so zur Analyse der komplexen Wirkungen zu gelangen.
DER PROZESS DER AUSSCHALTUNG
Wir haben festgestellt, daß die Zahl der möglichen Variationen der durch verschiedene Faktorenkombination sich ergebenden Resultate weit über tausend gehen würde. Das Leben wäre nicht lange genug, sie alle einzeln durchzuprüfen, um auf diesem Wege die Lösung eines bestimmten Problems zu finden. Es ist nun aber möglich, durch ein einfaches, provisorisches Verfahren die unwirksamen Faktoren auszuscheiden und so die Aufgabe der Untersuchung in engere Grenzen zu bringen. Betrachten wir einmal nur diejenigen Faktoren, deren Mitwirkung man als wahrscheinlich annehmen muß; es sind dies die Reizeffekte der Schwerkraft, des Lichtes und der sich ändernden Temperatur.
Übt der Reiz der Schwerkraft irgendeine deutliche Wirkung auf die öffnungs- und Schließbewegungen der Blüten aus? Die Blumenblätter schließen sich um die Mitte des Tages, jedes Korollblatt richtet sich dabei auf. Wäre die Blüte empfänglich für den Schwerereiz, so würden, wenn man die Blüte umkehrt, die Blumenblätter aus ihrer verkehrten Lage beginnen, sich aufwärts und auswärts zu krümmen und die Blüte würde sich öffnen. Allein eine solche Wirkung tritt nicht ein. Weiter könnten wir fragen, ob Veränderungen der Lichtintensität die Bewegung der Korollblätter herbeiführen. Das Licht erscheint am Morgen und verschwindet am Abend. Wären die Bewegungen gänzlich vom Lichte abhängig, so müßten zwei entgegengesetzte Wirkungen am Morgen und am Abend zur Beobachtung gelangen. Doch die Blüte ist zu beiden Zeiten offen. Dazu kommt, daß der Gang der öffnungs- und Schließbewegungen mit dem täglichen Wechsel von Licht und Dunkelheit nicht übereinstimmt. Die Bewegung der Seerosenblüte kann daher nicht auf Veränderungen der Lichtstärke beruhen.
DIE TAGESKURVE DER SEEROSE
So sehen wir, daß die Bewegung der Blütenblätter weder durch die Schwerkraft noch durch das Licht ausgelöst wird. Worauf beruht nun diese Bewegung? Um darüber Aufschluß zu erlangen, müssen wir eine zusammenhängende Bewegungskurve von den Blütenblättern selbst aufzeichnen lassen. Diese sind zur Tageszeit geschlossen; wir müssen den genauen Zeitpunkt in Erfahrung bringen, an dem sie ihre "Wachbewegung" beginnen, die Zeit, wo diese Bewegung am schnellsten ist, und jene, wo die Blüte sich voll ausgebreitet hat.
Nach der Ausbreitung muß dann ein Zeitpunkt kommen, wo die Bewegung sich umkehrt und die Blüten sich schließen. Wann beginnt diese Bewegung, wie schnell schreitet sie fort, wann schließt die Blüte ihre Blätter völlig und "schläft ein"?
Der einzige sonstige variierende Faktor, der vielleicht die Blütenbewegung beeinflussen könnte, ist die tägliche Schwankung der Temperatur. Im Sommer wird das Minimum etwa um 6 Uhr morgens erreicht. Nachher steigt die Temperatur sehr rasch und erreicht ihr Maximum um 2,30 p. m. Dann beginnt die Temperatur zu fallen und sinkt bis zum Minimum am nächsten Morgen. Die Zeit des Anstiegs vom Minimum bis zum Maximum beträgt 8,5 Stunden; die Zeit des Sinkens um dieselbe Strecke aber 15,5 Stunden. Der Anstieg erfolgt daher bei weitem rascher als das Sinken. Im Winter wird das Minimum eine halbe Stunde später und das Maximum eine halbe Stunde früher erreicht. Um nun den Einfluß der Temperatur auf die Blütenbewegung zu ermitteln, ist es nötig, eine Tageskurve, einerseits für die Kronblätter, andererseits für den Gang der Temperatur, durch 24 Stunden aufzeichnen zu lassen.
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Fig. 65. Tägliche Bewegungskurve der Corollblätter der Seerose. |
Mit Hilfe des automatischen Rekorders bekommt man die beiden Kurven gleichzeitig auf dieselbe Platte. Im fertigen Diagramm (Fig. 65) zeigt die obere Kurve den Tagesverlauf der Temperatur und die untere Kurve die Bewegung der Korollblätter. Die korrespondierenden dicken Punkte in der oberen und unteren Kurve geben die genaue Zeit an, zu der die zwei wesentlichen Veränderungen stattfinden.
Wir sehen nun, wie erstaunlich gut die Kurve der Blütenbewegung mit der Kurve der Temperaturveränderung übereinstimmt. Es kann daher kein Zweifel sein, daß der Tageswechsel der Temperatur die Ursache des öffnens und Schließens der Blüte ist. Die Blüte ist während des Tages in der Schlafstellung. Von 6 Uhr abends an fällt die Temperatur rasch und die Blüten beginnen sich zu öffnen, und zwar erst langsam und dann sehr rasch. Die Blüte ist völlig geöffnet und voll ausgebreitet gegen 10 Uhr abends. Obwohl die Temperatur noch weiter sinkt, gibt es nun keine weitere Möglichkeit für die Blüte, sich auszubreiten. Etwa um 6 Uhr morgens beginnt der Anstieg der Temperatur, und die umgekehrte Bewegung setzt ein. Die Blüte vollführt ihre Schließbewegung sehr rasch, bis ihr "Schlaf" gegen 10 Uhr vormittags ein vollständiger wird.
Es ist somit erwiesen, daß das Schließen der Blüten durch den Anstieg, ihr öffnen durch das Sinken der Temperatur veranlaßt wird. Die Erklärung der Bewegung ist folgende: die junge Blüte hat ihr Wachstum noch nicht beendet und dieses wird beschleunigt, wenn die Temperatur steigt, verzögert, wenn sie fällt. Nun sind an den Kronblättern der Seerose die beiden Seiten ungleich stark sensibel, ganz so, wie die Ober- und Unterseite des Gelenkpolsters von Mimosa verschieden stark empfindlich sind. Bei der indischen Seerose ist die Außenseite die stärker sensitive. Daher wächst, solange die Temperatur steigt, die Außenseite schneller als die innere und dies führt zur Schließbewegung. Wenn die Temperatur fällt, findet die umgekehrte Bewegung statt, denn die Verlangsamung des Wachstums ist jetzt an der empfindlicheren Außenseite ausgiebiger.
Bei den europäischen Seerosen ist die Innenseite die relativ empfindlichere. Jene Blüten müssen daher die umgekehrten Reaktionen zeigen wie die der indischen Seerose, indem sie sich bei Tage öffnen und bei Nacht schließen. Sie können also nicht der Mondesverehrung beschuldigt werden. Sie zeigen die normale Gewohnheit gesunder Menschen, bei Nacht zu schlafen und zur Tageszeit zu wachen. Andere Menschen machen die Nacht zum Tag und halten sich für die lange Nachtwache dadurch schadlos, daß sie dafür bei Tage schlafen!
DIE BEWEGUNGEN VON CASSIA IM LICHT UND IM DUNKELN
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Fig. 66. Blatt von Cassia in geöffneter und geschlossener Stellung. |
Als Beispiel eines Organes von spezieller Lichtempfindlichkeit wollen wir die Blättchen der indischen Pflanze Cassia allata betrachten. Während der Nacht bleiben diese Blättchen dicht geschlossen, doch vom frühen Morgen an öffnen sie sich und tagsüber sind sie weit ausgebreitet (Fig. 66). So sensitiv sind die Blättchen, daß schon der Schatten einer Wolke die Schließbewegung auslöst.
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Fig. 67. Tägliche Bewegungskurve der Blättchen von Cassia. |
Um zu zeigen, daß die täglichen öffnungs- und Schließbewegungen dieser Pflanze ganz und gar auf dem Wechsel von Licht und Dunkel beruhen, ließ ich eine zusammenhängende Registrierkurve von 4 Uhr nachmittags bis zum nächsten Mittag aufzeichnen. Der erste dicke Punkt bezeichnet den Beginn um 4 p.m.; die folgenden dicken Punkte bezeichnen Intervalle von einer Stunde, die dünnen Punkte solche von fünfzehn Minuten. Man bemerkt, daß die Schließbewegung der Blättchen um 5 p. m. einsetzt, wenn das Licht abzunehmen beginnt. Die Blättchen sind völlig geschlossen um 9 p. m. und bleiben so bis um 5 Uhr am nächsten Morgen. Darauf beginnen sie sich wieder zu öffnen, sind völlig ausgebreitet gegen 9 a. m. und bleiben so bis zum späten Nachmittag (Fig. 67). Dann wiederholt sich der Kreislauf. Die Tatsache, daß diese Bewegung gänzlich wieder auf dem Wechsel des Lichtes beruht und nicht auf Schwankungen der Temperatur, kann leicht bewiesen werden, indem man um die Mittagzeit ein schwarzes Tuch über die Pflanze breitet. Die Temperatur bleibt dieselbe, doch die Blättchen schließen sich infolge der künstlichen Verdunkelung rasch.
Erläuterung der Fußnoten.
3. Die Seerosen Europas schließen die Blüten bei Nacht und öffnen sie bei Tag. Der Grund dieses verschiedenen Verhaltens soll im Laufe dieses Kapitels erklärt werden.