Die Pflanzenschrift und ihre Offenbarungen

von Jagadis Chunder Bose


XV. KAPITEL
DIE BEWEGUNGEN DER PFLANZE IN DER NATUR
Fig. 60. Das Einrollen einer Ranke.
Fig. 60. Das Einrollen einer Ranke.

Die Pflanze paßt sich beständig den verschiedenen Kräften der Umwelt, die auf sie einwirken, durch entsprechende Bewegungen an. Solche Bewegungen sind sehr langsam, und ihr schließliches Ergebnis tritt erst nach geraumer Zeit deutlich hervor. Wenn wir einen Spaziergang durch den Garten machen, so staunen wir über die Regelmäßigkeit, mit der verschiedene Pflanzenorgane ihre Lageveränderungen ausführen. Hier ist eine Ranke, die den Zweig eines benachbarten Strauches berührt hat (Fig. 60); der Kontakt ist von der Ranke wahrgenommen worden, sie hat die Stütze umklammert und umwunden und dabei der Pflanze zum Emporklettern verhelfen, so daß diese möglichst viel Licht erhält. Hier steht in einem dunklen Gartenhause eine Topfpflanze, sie hat ihre Blätter so gekrümmt und gedreht, daß deren Oberfläche das einfallende Licht voll empfängt, das durch eine Lücke des Fensterladens dringt. An wieder einer anderen Stelle hat eine Pflanze sich vom Licht weggewandt, um dessen Überschuß zu vermeiden. Hier ist eine Pflanze zufällig aus ihrer Lage gekommen, und der horizontal gelegene Stengel krümmt sich wieder aufwärts der aufrechten Lage zu.

Diese Bewegungen, die auf Reize aus der Umwelt zurückgehen, sind äußerst mannigfaltig und verwickelt. Die mitwirkenden Kräfte sind mannigfache, - der Einfluß der wechselnden Temperatur, die Reizwirkung des Kontakts, der Schwerkraft, der sichtbaren und unsichtbaren Lichtstrahlung. Anderseits hat derselbe Reiz das eine Mal die eine, das andere Mal genau die entgegengesetzte Wirkung. So scheint es hoffnungslos, all die verschiedenartigen Erscheinungen zu vereinigen, und es hat die Neigung bestanden zu glauben, daß es überhaupt keine allgemeinen physiologischen Reaktionsgesetze gebe, sondern daß die Individualität der Pflanze es sei, die die Wahl der Bewegung nach dem jeweiligen Vorteil bestimmt. Solch eine ideologische Annahme ist ganz und gar keine Erklärung.
Fig. 61. Blätter von Tropaeolum (Kapuzinerkresse), dem Licht zugewandt.
Fig. 61. Blätter von Tropaeolum (Kapuzinerkresse), dem Licht zugewandt.

Allerlei verschiedene deskriptive Fachausdrücke sind eingebürgert, um die verschiedenen Bewegungen zu bezeichnen, wie "positiver Heliotropismus", wenn ein Organ sich zum Licht wendet, "negativer Heliotropismus", wenn es sich vom Licht wegkehrt. Ähnlich gebraucht man die Ausdrücke positiver und negativer Geotropismus, um die Bewegungen verschiedener Organe zur Erde oder von ihr weg zu bezeichnen. Man darf indes nicht glauben, daß diese rein deskriptiven Ausdrücke irgendeine wirkliche Erklärung der Erscheinungen bieten. Solcher Mißbrauch der deskriptiven Ausdrücke "kann unheilvoll werden", protestiert Bayliss in seiner Physiologie, "denn er führt zu dem Glauben, daß eine neue Erkenntnis gewonnen worden ist, wenn eine Erscheinung statt mit einem englischen mit einem aus der klassischen Sprache abgeleiteten Namen beschrieben wurde."

Ist es nicht doch vielleicht möglich, eine wirkliche Erklärung der mannigfaltigen Bewegungen der Pflanze zu geben? Was uns an dem Problem verwirrt, das ist in Wahrheit der Umstand, daß wir stets die kombinierte Wirkung von verschiedenartigen Faktoren vor uns haben, deren Einzelwirkungen uns unbekannt sind.

In diesem Zusammenhange sind zwei Fragen zu untersuchen, nämlich die Reaktionen auf verschiedene Arten der Reizung und die Krümmungen infolge von einseitigen Reizungen. Viel Verwirrung ist entstanden durch die Unklarheit, die bezüglich der Wirkung verschiedener Arten von Reizen besteht; der Berührungsreiz zum Beispiel kann zu einer spezifischen Reaktion führen, die von der des Lichtes verschieden ist. Solche spezifische Reaktionen sind nun für verschieden geartete Reize ganz allgemein angenommen worden. In Wirklichkeit gibt es keine solchen Unterschiede, denn die in einem früheren Kapitel beschriebenen Versuchsergebnisse zeigen, daß alle Arten direkter Reizung von gewisser Intensität eine Kontraktion, eine bleibende oder beginnende, veranlassen; die beginnende Kontraktion gelangt z. B. in einem wachsenden Organ durch Verlangsamung des Wachstums zum Ausdruck. Ich habe schon dargelegt, daß es mancherlei Einrichtungen gibt, mit deren Hilfe ein äußerer Reiz die empfängliche Gewebs-schicht im Inneren, oft mit noch verstärkter Intensität erreicht.

POSITIVE KRÜMMUNG

Ich will nun die Frage erörtern, wie die Biegung oder Krümmung eines Organs durch einseitige Reizung zustande kommen kann. Wir wollen ein konkretes Beispiel wählen und uns vorstellen, die rechte Seite eines Stengels werde durch einen Reiz getroffen, z. B. durch mechanische Berührung oder Licht. Die rechte Seite des Stengels wird direkt gereizt, und demzufolge wird hier eine lokale Kontraktion, eine bleibende oder beginnende, herbeigeführt. Das normale Wachstumstempo der rechten Flanke wird nun verlangsamt, so daß der Stengel, wenn die linke Flanke normal weiterwächst, sich krümmen, die gereizte Flanke konkav werden wird. Der Stengel wird sich also nach der Seite hin krümmen, von der der Reiz einwirkt, eine Krümmung, die oft als positiver Tropismus beschrieben worden ist. Ich werde im folgenden zeigen, daß noch ein weiterer Faktor dazu beiträgt, die Krümmung zu verstärken.

Im Falle der beschriebenen, positiven Krümmung haben wir unsere Aufmerksamkeit auf die rechte Seite des Organs, die direkt gereizt wurde, konzentriert. Was geschieht mit der linken, abliegenden Seite, die nicht direkt gereizt wurde? Bleibt sie rein passiv oder wird eine indirekte Wirkung des Reizes zu ihr geleitet? Dieser indirekte Effekt, sofern er überhaupt existiert, wird die Krümmung, die der direkte Reiz bewirkt, entweder verstärken oder abschwächen. Über die Wirkung des indirekten Reizes ist bisher nichts bekannt.

WIRKUNG DER INDIREKTEN REIZUNG

Bezüglich der Wirkung indirekter Reizung auf das normale Längenwachstum habe ich gezeigt (Fig. 52), daß, während direkte Reizung eine Turgorverminderung und damit eine Kontraktion und Verlangsamung des Wachstums bewirkt, indirekte Reizung genau die entgegengesetzte Reaktion, nämlich Turgorsteigerung und Expansion und Wachstumsbeschleunigung herbeiführt. Dies wird in Fig.62, a, b, schematisch dargestellt. Direkte Reizung bewirkt Kontraktion und Verkürzung des Organes, während indirekte Reizung Expansion und Verlängerung verursacht.
Fig. 62. Die Wirkung direkter und indirekter Reizung. a) Ein Reiz, der direkt auf die wachsende Region einwirkt, bewirkt Verlangsamung des Wachstums oder Kontraktion, wie die punktierte Linie oben andeutet. Die gereizte Zone ist hier wie im folgenden schattiert. b) Ein Reiz, der indirekt (d. i. in einigem Abstand von der wachsenden Region) einwirkt, veranlaßt eine Wachstumsbeschleunigung und Expansion. c) Ein Reiz, der auf die rechte Seite des Organs einwirkt, verursacht eine Kontraktion dieser Seite und veranlaßt dadurch eine positive Krümmung nach der Reizquelle hin. d) Leitung der Erregung nach der Gegenseite bewirkt Neutralisation. e) Erregung durch intensive Reizung wird quer durch den Stengel geleitet und verwandelt die positive Krümmung in eine negative, d. i. in eine solche weg von der Reizquelle.
Fig. 62. Die Wirkung direkter und indirekter Reizung. a) Ein Reiz, der direkt auf die wachsende Region einwirkt, bewirkt Verlangsamung des Wachstums oder Kontraktion, wie die punktierte Linie oben andeutet. Die gereizte Zone ist hier wie im folgenden schattiert. b) Ein Reiz, der indirekt (d. i. in einigem Abstand von der wachsenden Region) einwirkt, veranlaßt eine Wachstumsbeschleunigung und Expansion. c) Ein Reiz, der auf die rechte Seite des Organs einwirkt, verursacht eine Kontraktion dieser Seite und veranlaßt dadurch eine positive Krümmung nach der Reizquelle hin. d) Leitung der Erregung nach der Gegenseite bewirkt Neutralisation. e) Erregung durch intensive Reizung wird quer durch den Stengel geleitet und verwandelt die positive Krümmung in eine negative, d. i. in eine solche weg von der Reizquelle.

Entsprechende Wirkungen kann man erwarten, wenn ein Reiz das Organ einseitig trifft. Es ist die Turgoränderung infolge des Reizes, welche die Grundlage aller Reaktionsbewegungen ist. Es ist mir gelungen, ein Experiment anzustellen, das die entgegengesetzte Wirkung direkter und indirekter Reizung schlagend erweist.
Fig. 63. Die Wirkung einseitiger, indirekter Reizung auf den Stengel von Mimosa. a) Schematische Darstellung des Versuchs. b) Registrierkurve; sie zeigt die anfängliche Aufrichtungsbewegung infolge der indirekten Reizung und die darauffolgende Senkung, die durch Zuleitung der Erregung quer durch den Stengel nach andauernder Reizung bewirkt wird.
Fig. 63. Die Wirkung einseitiger, indirekter Reizung auf den Stengel von Mimosa. a) Schematische Darstellung des Versuchs. b) Registrierkurve; sie zeigt die anfängliche Aufrichtungsbewegung infolge der indirekten Reizung und die darauffolgende Senkung, die durch Zuleitung der Erregung quer durch den Stengel nach andauernder Reizung bewirkt wird.

Diese entgegengesetzte Wirkung wollen wir nun betrachten. Bei Mimosa gibt sich die Verminderung des Turgors durch das Sinken des Blattes sichtbar kund, die Steigerung des Turgors durch dessen Aufwärtsbewegung. Fig. 63 gibt ein schematisches Bild des Stengels von Mimosa mit einem Blatt, an dessen Basis das motorische Gelenkpolster sich befindet. Wenn der Reiz, sagen wir ein starker Lichtstrahl, von der rechten Seite einwirkt, so wird das Polster direkt gereizt und das Blatt senkt sich. Trifft der Reiz darauf von der gegenüberliegenden Seite her auf, und zwar an einem Punkt genau gegenüber dem beweglichen Blatt, so zeichnet der Apparat eine Bewegung des Blattes nach aufwärts, die eine Zunahme des Turgors auf der abgelegenen Seite anzeigt. Die Wirkungen direkter und indirekter Reizungen sind somit entgegengesetzt. Warum andauernde, indirekte Reizung ein Fallen des Blattes zur Folge hat, wird sogleich verständlich werden.

Die einseitige Reizung durch Licht verursacht eine Kontraktion der zugewandten und eine Expansion der abliegenden Seite. Die beiden Effekte wirken zusammen, eine positive Krümmung nach der Seite des Reizes hin herbeizuführen (Fig. 62c). Diese normale Biegung nach dem Licht wird als positiver Heliotropismus beschrieben.

Ähnliche Wirkungen erscheinen unter dem Einflüsse von Reizen anderer Art. Wird z. B. eine Ranke einseitig durch Kontakt gereizt, so wächst die berührte Flanke langsamer und die Gegenflanke schneller, als die normale Ranke vorher wuchs. Die Effekte an den zwei gegenüberliegenden Flanken wirken somit zusammen, um die Bewegung nach der Seite des Reizes und das Einringeln der Ranke rund um die Stütze herbeizuführen.

Es ist daher nicht nötig, ein ungleiches Empfindungsund Reaktionsvermögen auf verschiedenartige Reize anzunehmen. Alle Reize führen zur Kontraktion, wenn sie direkt wirken und intensiv genug sind. Das einfache Gesetz, daß direkte Reizung Kontraktion und Wachstumsverlangsamung, und indirekte Reizung Expansion und Wachstumsbeschleunigung bewirkt, erklärt alle "positiven" Tropismen oder Krümmungen des Organs nach der Reizquelle.

Wenn ein Organ sich vom Licht abkehrt, so heißt diese Erscheinung "negativer Heliotropismus", wobei die Annahme zugrunde liegt, das Organ sei mit einem spezifischen Empfindungsvermögen ganz eigener Art ausgestattet. Doch ein und demselben Organ kann nicht sowohl ein positives als auch ein negatives Empfindungsvermögen innewohnen. Und noch mehr; wenn ein Organ beständig dem Einfall starken Lichtes von einer Seite ausgesetzt ist, so zeigt sich, daß es sich zuerst zum Licht hinbewegt und daß nachher das überreizte Organ sich abzuwenden beginnt, als wollte es das Übermaß an Licht vermeiden. Dasselbe Organ ist also eine Zeitlang positiv und nachher negativ heliotropisch.

KRÜMMUNG VON DER REIZQUELLE WEG

Das Organ krümmt sich zum Licht von gewisser Intensität und krümmt sich weg vom Licht stärkerer Intensität. Diese letztere Erscheinung ist darauf zurückzuführen, daß der Reiz von der zugewandten Seite des Organs nach der abgewandten hindurch dringt. Was die Weiterleitung des Reizes betrifft, so ist das gewöhnliche Pflanzengewebe kein so guter Erregungsleiter wie der Nerv: doch der Unterschied ist nur ein solcher des Grades, nicht der Art. Das Nervengewebe leitet die Erregung auch nach schwacher Reizung auf große Entfernung, während die Leitung im gewöhnlichen Gewebe nur mit Schwierigkeit und nur nach starker und fortgesetzter Reizung von statten geht. So bleibt die Wirkung mittelstarker Reize mehr oder minder auf die direkt gereizte Seite des Stengels lokalisiert. Doch die durch starke und lange dauernde Reize bewirkte Erregung kann das Hindernis überwinden, kann hindurchdringen und das Organ in der Querrichtung durchsetzen. Die Wirkung solcher transversal geleiteter Erregung wird aus der Reaktionskurve des Mimosablattes ersichtlich (Fig. 63), wo ein Punkt des Stengels genau gegenüber dem reagierenden Blatt der dauernden Reizung durch Licht ausgesetzt war. Der erste Effekt war die Aufwärtsbewegung infolge der indirekten Reizung; die Erregung wurde dann quer durch den Stengel weiter geleitet und verursachte das plötzliche Sinken des Blattes.

In den Fällen, wo der Stengel sich unter einseitiger Lichtwirkung krümmt, ist der erste Effekt eine positive Krümmung. Doch unter fortgesetzter Reizung führt die in der Querrichtung geleitete Erregung zur Kontraktion der Gegenseite, was zum Ausgleich der früheren Krümmung führt (Fig. 62d).

Bisweilen wird die nähere, zugewandte Flanke durch Überreizung ermüdet, während die abgewandte noch frisch bleibt. Das Ergebnis ist dann nicht bloß ein Ausgleich, sondern eine tatsächliche Krümmung vom Licht hinweg infolge der stärkeren Kontraktion der abgewandten Flanke (Fig. 62e). In einem bestimmten Versuch mit Keimpflanzen vom "Indischen Korn" oder Mais (Zea-Mais) zeigte die Pflanze unter beständiger Wirkung starken einseitigen Lichtes zuerst eine Bewegung zum Licht. Diese erreichte nach 50 Minuten ihr Maximum. Die Pflanze begann dann sich weg zu wenden und zur Ausgangslage zurückzukehren. Die Rückkehr war nach einer Periode von weiteren 43 Minuten vollendet. Nachher war die Reaktion der Pflanze negativ.

Die Bewegungen der lebenden Pflanze sind also nicht launenhaft, sondern beherrscht von ganz bestimmten physiologischen Reaktionsgesetzen. Die Schwierigkeit des Problems und sein verwirrender Charakter kam nur von unserer Unkenntnis der zahlreichen Faktoren, die im Spiele sind. Wir haben gesehen, wie scheinbar entgegengesetzte Wirkungen durch bloße Unterschiede der Intensität und der Dauer des Reizes hervorgebracht werden. Unter natürlichen Lebensbedingungen kommen auch zahlreiche andere komplizierende Umstände hinzu. So hängt das Vorzeichen der Reaktion vom Punkte der Reizeinwirkung, von der Leitfähigkeit des Organs in der Querrichtung und vom tonischen Zustand der Pflanze ab. Die verschiedenartige Kombination dieser Faktoren führt zu der großen Mannigfaltigkeit der Reaktionsbewegungen, die auf den ersten Blick so verblüffend erscheint.

Die in diesem Kapitel beschriebenen Bewegungserscheinungen haben gemeinsam, daß sie durch einseitige Reizung induziert werden; damit sind nun aber noch bei weitem nicht alle Erscheinungen der pflanzlichen Bewegungen erschöpft, denn es gibt andere, die nicht durch einseitige, sondern durch diffuse, von außen einwirkende Reizung bewirkt werden. Ein auffälliges Beispiel dieser Art finden wir in den periodischen öffnungs- und Schließungsbewegungen der Blüten der Seerose, die im nächsten Kapitel ausführlich geschildert werden sollen.

 
Agni-Yoga Top Sites www.lebendige-ethik.net