Die Pflanzenschrift und ihre Offenbarungen
von Jagadis Chunder Bose
I. KAPITEL
DAS STILLE LEBEN
Die unabsehbaren Möglichkeiten des Lebens in der Pflanze sind zeitweilig verborgen und äußerlich ganz unsichtbar. Der mächtige indische Feigenbaum ist potentiell in einem Samen vorhanden, der kleiner ist als ein Senfkorn. In der Samenhülle verschlossen, ruht das Leben und wartet darauf, zur rechten Zeit und unter günstigen Bedingungen erweckt zu werden. Außerordentlich ist die Widerstandskraft, die das Leben in diesem latenten Zustand besitzt. Man hat Samen der Einwirkung stärkster Kälte unterworfen, bei welcher die Luft flüssig und das Quecksilber fest wird; und doch bleibt das Leben im schützenden Panzer der Samenschale erhalten, allen Gefahren von außen widerstehend. Stürme und Orkane streuen die lebenden Samen umher. Die Kokosnuß treibt auf den Wellen, bis sie an einer Insel ankert, die sie besiedeln kann. Ist die rechte Jahreszeit gekommen, so sehen wir eine Reihe wunderbarer Verwandlungen sich abspielen; das latente Leben erwacht aus seiner Ruhe, die Samenschale birst und das Wachstum beginnt. Der junge Keimling scheint Fähigkeiten zu besitzen, die uns an jene des Menschen gemahnen. Legen wir ihn mit der Oberseite nach unten, so wendet sich gleichwohl die Primärwurzel nach abwärts, um unbeirrt auf der Suche nach Wasser in die Erde zu dringen, und der Stengel wächst aufwärts dem Licht und der Luft zu. Die Wurzel bahnt sich, den Steinen und Hindernissen ausweichend, im Boden ihren Weg. Der Stengel krümmt sich zum Licht und die Ranken umwinden ihre Stütze. Solche sichtbare Bewegungen sind auffällig genug. Doch im Inneren der scheinbar ruhenden Pflanze sind auch noch andere Kräfte stetig am Werk, deren Erforschung bisher nicht gelungen ist. Solange wir nicht in das Reich des Unsichtbaren eindringen können, wird das Rätsel des Lebens mit seiner Fülle von Erscheinungen ungelöst bleiben.
Die Pflanzen sind uns immer als sehr fremde, ferne stehende Wesen erschienen, weil ihr Leben so still und schweigsam verläuft. In ihrer scheinbaren Unbeweglichkeit und Ruhe steht die Pflanze im scharfen Kontrast zum Tier mit seinen Reflexbewegungen und pulsierenden Organen. Und doch wirkt dieselbe Umwelt, die mit ihren wechselnden Bedingungen das Tier so tiefgehend beeinflußt, in gleicher Weise auf die Pflanze ein. Sturm und Sonnenschein, die Sommerhitze und der Winterfrost, Dürre und Regen - all diese und so manche andere Außenkräfte treiben mit der Pflanze ihr Spiel. Was für subtile Eindrücke lassen sie zurück? Es müssen Veränderungen im Inneren sein; doch unser Auge hat nicht das Vermögen, sie zu sehen.
Die Lebensvorgänge der Pflanze erscheinen auf den ersten Blick von jenen des Tieres sehr stark verschieden. Wenn es aber zu zeigen gelänge, daß sie trotz der zutage liegenden Unterschiede doch im Grunde ähnlich sind, so wäre dies ohne Zweifel eine wissenschaftliche Erkenntnis von allgemeiner Bedeutung und von größter Tragweite. Die Folge wäre, daß der so verwickelte tierische Mechanismus, der unserer Mühe, ihn zu verstehen, so lange Hohn gesprochen hat, nicht für alle Zeit unerforschlich bleiben müßte, indem die verwickelten Probleme des tierischen Lebens naturgemäß ihre Lösung zu finden vermöchten, wenn man vorerst die entsprechenden Probleme des einfacheren pflanzlichen Lebens erforschte. Hier läge die Möglichkeit größten Fortschrittes für die Wissenschaft der Physiologie, der Agrikultur, der Medizin, ja auch der Psychologie.
Wir wissen noch sehr wenig von den wichtigsten Reaktionen, die dem Leben der Pflanze zugrundeliegen, denn zahlreich sind die Schwierigkeiten, mit denen der Untersucher zu kämpfen hat. Die Kenntnisse, die wir besitzen, bestehen oft aus unzureichenden Beobachtungen, aufweiche widerstreitende und unvereinbare Theorien aufgebaut werden. Unter diesen Umständen ist der einzig sichere Pfad derjenige, der uns weg von dem Lärm der Disputation und hin auf die Spur der Tatsachen führt. Wir müssen deshalb alle vorgefaßten Meinungen aufgeben und unsere Fragen direkt an die Pflanze richten, festhaltend, daß die einzige wahre Erkenntnis die ist, die der Pflanze eigenes Siegel trägt.
Es gibt Professoren einer Wissenschaft, die ans Gebiet des Mystischen grenzt, welche behaupten, den Charakter und die Veranlagung eines jeden Menschen erkennen zu können, wenn sie bloß seine Handschrift sorgfältig untersuchen. Es mag ein gewisser Skeptizismus darüber am Platze sein, ob dieser Anspruch berechtigt ist; doch es steht außer Zweifel, daß die Handschrift eines Menschen durch Umstände physischer und geistiger Art tiefgreifend beeinflußt werden kann. (Es sind uns im Hatfield House Dokumente erhalten, die von Guy Fawkes1 unterschrieben sind. Die Leute, die sie gesehen haben, erklären, daß eine unheilvolle Veränderung an diesen Unterschriften zu sehen ist. Die wirren, verzerrten Züge der letzten Worte, die Guy Fawkes auf Erden schrieb, als er in den dunklen Stunden des Morgens, an dem er hingerichtet werden sollte, seinen Namen unter das geschriebene Bekenntnis seiner Schuld setzte, erzählen ihre eigene Geschichte von dem, was in den einsamen Stunden jener verhängnisvollen Nacht vor sich ging.)
Wenn sich solche Enthüllungen dem kritischen Auge aus den Linien und Zügen einer menschlichen Unterschrift auftun können, - so kann vielleicht auch die Pflanze dazu gebracht werden, uns ihr eigenes Autogramm zu geben und darin in ähnlicher Weise ihren inneren Zustand zu enthüllen. Der einzig gangbare Weg, um dies zu erreichen, bestünde darin, daß man den Organismus seine Antwort auf einen ihn befragenden Reiz selbsttätig aufzeichnen ließe. Wenn ein Tier einen äußeren Reiz empfängt, so kann es auf mancherlei Weise antworten; mit einem Schrei, wenn es eine Stimme besitzt, durch Bewegung seiner Glieder, wenn es stumm ist. Der Reiz wirkt von außen ein; die Antwort, die der Organismus gibt, ist seine Reaktion. Wenn wir die Pflanze in gleicher Weise dazu bringen können, durch eine wahrnehmbare Antwort auf einen Reiz zu reagieren, dann können wir aus den Eigenschaften dieser Reaktion auf den inneren Zustand der Pflanze schließen. Im Zustande voller Erregbarkeit wird der schwächste Reiz eine sehr starke Antwort hervorrufen; im Zustande der Depression wird auch ein starker Reiz nur eine schwache Reaktion bewirken; und mit dem Momente des Todes endlich wird das Vermögen, zu antworten, überhaupt jählings enden.
Solange wir in voller Lebenskraft stehen, antworten wir auf die eine oder andere Weise auf die mannigfachen Einwirkungen oder Reize aus unserer Umgebung. Ein eintreffender Reiz führt zu einer molekularen Störung, er bewirkt Erregung, und diese Störung gibt sich je nach den verfügbaren Mitteln des Ausdrucks auf mannigfache Weise zu erkennen. Betrachten wir einen Augenblick die verschiedenen Wirkungen, zu denen derselbe elektrische Strom bei verschiedenen Instrumenten führen kann. Wirkt er auf Mechanismen gewisser Art, so verursacht er Bewegung; bei anderen z. B. bei einer elektrischen Glocke, verursacht er ein Klingen; bei wieder anderen bewirkt er ein Aufleuchten. In gleicher Weise kann ein Reiz an einem lebenden Gewebe Erregung bewirken, welche sich auf verschiedene Art je nach den Ausdrucksmitteln der betreffenden Organe kundgibt.
Betrachten wir erst das bekannteste Beispiel der Reaktion durch Bewegung. Ein Tropfen kochenden Wassers, der auf unsere Hand fällt, bewirkt ein Zucken des Muskels, wir ziehen die Hand zurück. Dasselbe sehen wir am Blatte der sensitiven Pflanze Mimosa, das plötzlich niedersinkt, wenn es unsanft berührt wird. Ebenso schließt sich das offene Dionaea-Blatt auf den Berührungsreiz und fängt seine Beute, die Fliege, ein. Anderseits können wir statt der mechanischen Bewegungen, wie wir sehen werden, auch elektrische Bewegungen als Reaktion auf äußere Reize erhalten; ein geeigneter Apparat, das Galvanometer, zeigt stets einen elektrischen Ausschlag, wenn lebendes Gewebe gereizt und erregt wird. Und endlich haben wir unter die Arten der Reaktion auch unsere eigene Empfindung selbst zu rechnen.
Das Sehen ist die charakteristische Reaktion der Netzhaut, das Hören die des Ohres und so fort; bei der Empfindung wirken verschiedene Teile des Gehirns wie verschiedene Reaktionsorgane. Für die Untersuchung im Laboratorium nehmen wir beispielsweise das Auge eines Frosches und verbinden seinen nervus opticus mit dem Galvanometer statt mit dem Gehirn. Wir werden finden, daß jedesmal, wenn ein Lichtblitz auf die Netzhaut fällt, das Galvanometer mit einem plötzlichen Ausschlag antwortet, ganz so wie die spezifischen Reaktionen im Gehirn als Empfindungen wahrgenommen werden.
Wir sehen so die Möglichkeit, auch gewisse Arten der Reaktionen der Pflanze festzuhalten, durch welche deren innerer Zustand sowie die Veränderungen dieses Zustandes aufgedeckt werden können. Um dies zu erreichen, müssen wir zuerst irgendwelche Kräfte, mechanische oder elektrische ausfindig machen, auf die die Pflanze in wahrnehmbarer Weise antwortet; wir müssen zweitens für Mittel sorgen, jene Antwortsignale in eine verständliche Schrift zu übertragen; und schließlich müssen wir selbst die spezifische Bedeutung dieser Hieroglyphenschrift verstehen lernen.
Um die Frage zu beantworten, ob eine wesentliche Übereinstimmung in der Reaktionsweise bei der Pflanze und beim Tier besteht, müssen wir zunächst feststellen, ob das Empfindungsvermögen nur eine Eigenschaft einiger weniger Pflanzen ist oder ob alle Pflanzen und alle Organe jeder Pflanze sensitiv sind. Wir müssen ferner die kennzeichnenden Reaktionen von Pflanzen und Tieren unter analogen Außenbedingungen vergleichen, um festzustellen, ob die normalen Reaktionen und deren Veränderungen beim Wechsel der äußeren Bedingungen in beiden Fällen ähnlich sind.
Wenn ein Tier einen Schlag empfängt, so antwortet es nicht unmittelbar. Eine gewisse kurze Zeit verstreicht zwischen dem Moment des Schlages und dem Beginn der Reaktion. Diese verlorene Zeit ist als "Latenzzeit" bekannt. Der Nervenarzt erfährt aus dieser Pause bei seinen menschlichen Patienten mehr, als der Patient ihm in Worten sagen kann. Auch bei der Pflanze verstreicht eine gewisse Zeit zwischen dem Moment des Schlages und der Reaktionsbewegung. Zeigt diese Latenzzeit, wie beim Tier, Veränderungen, wenn die inneren oder äußeren Bedingungen sich ändern? Ist es möglich, von der Pflanze selbst diese ganz kurze Latenzzeit aufschreiben zu lassen?
Weiter, wird auch die Pflanze durch die mannigfachen Reizmittel erregt, welche das Tier erregen? Ist die Reizung bloß lokal oder veranlaßt sie einen Impuls, der die ganze Pflanze durchwandert und Bewegungen an entfernten Teilen veranlaßt? Wenn ja, wie schnell wandert der Impuls und welche Faktoren erhöhen, welche anderen verlangsamen seine Geschwindigkeit oder lassen ihn stillstehen? Läßt es sich erreichen, daß die Pflanze selbst die Geschwindigkeit und ihre Veränderungen registriert? Besteht irgendwelche Übereinstimmung zwischen dem Nervenimpuls beim Tier und dem Erregungsimpuls bei der Pflanze?
Die charakteristischen Wirkungen verschiedener chemischer Stoffe sind für den tierischen Organismus mehr oder weniger gut bekannt. Ist die Pflanze für die Wirkung jener Stoffe in ähnlicher Weise empfänglich? Ändert sich der Effekt eines Giftes mit der Dosierung? Ist es möglich, die Wirkung eines Giftes mit Hilfe eines anderen, das als Gegengift wirkt, zu bekämpfen?
Beim Tier gibt es bestimmte pulsierende Gewebe, z. B. jene des Herzens. Gibt es ein solches spontan pochendes Gewebe auch in der Pflanze? Und wenn ja, werden die autonomen Pulsationen beim Tier und bei der Pflanze durch Außenfaktoren in ähnlicher Weise beeinflußt? Und was ist die wahre Bedeutung der Spontaneität oder Eigenbewegung?
Das Wachstum liefert uns das wichtigste Beispiel einer selbsttätigen Bewegung. Doch die Geschwindigkeit des Wachstums liegt bei der Pflanze weit unter den Grenzen direkter Wahrnehmbarkeit. Wie läßt sich dieses Wachstum so vergrößern, daß es bei kurz dauernder Beobachtung meßbar wird? Was für Veränderungen erfährt die unfaßbar langsame Bewegung unter dem Wechsel reizender Außenfaktoren, des Lichtes, der Berührung oder bei Reizung durch elektrischen Strom? Zu was für Veränderungen führt die Zufuhr oder Entziehung von Wasser und die Einwirkung der verschiedenen Gifte? Vor allem, was sind die wichtigsten Faktoren, die das Wachstum fördern oder hemmen?
Und können wir schließlich, wenn das Leben am Ende auf eine der mannigfachen Arten erlischt, den kritischen Moment des Todes genau feststellen? Gibt die sterbende Pflanze ein unverkennbares Zeichen in dem Augenblick, wo ihre Lebenstätigkeit für immer verschwindet?
Erläuterung der Fußnoten.
1. Guy Fawkes, geb. 1570, übernahm es, bei der englischen Pulververschwörung (1605) das Pulver unter dem Parlamentshause anzuzünden. Er wurde mit der brennenden Lunte in der Hand verhaftet und, nachdem ihm der Prozeß gemacht worden war, hingerichtet.