Leben und Werk von Sir Jagadis Chandra Bose

[The Life And Work Of Sir Jagadis C. Bose by Patrick Geddes]

Die Übersetzung wurde 1930
von Emil Engelhardt und Magda Kahn besorgt
und von Dr. Hans Kisser in Wien
vom Wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus überprüft.
INHALT
I. Kindheit und erste Erziehung.
II. Studentenzeit in Kalkutta und England.
III. Frühe Kämpfe.
IV. Die ersten physikalischen Forschungen (Elektrische Wellen).
V. Weitere physikalische Forschungen und ihre Würdigung.
VI. Fortsetzung der physikalischen Forschungen. (Die Theorie von der Molekularspannung und ihre Deutungsversuche).
VII. Antwort (Reaktion) des Belebten und Unbelebten.
VIII. Feiertage und Wanderungen.
IX.. Die Antwort der Pflanzen.
X. Die Reizbarkeit der Pflanzen.
XI. Automatische Wachstumsaufzeichnungen.
XII. Verschiedene Pflanzenbewegungen.
XIII. Die Antwort der Pflanzen auf funkentelegraphische Reize.
XIV. Tropismen.
XV. Der Schlaf der Pflanzen.
XVI. Psychophysik.
XVII. Freundschaft und Persönlichkeit.
XVIII. Die Weiherede von J.C.Bose.
XIX. Das Bose-Institut.
Jagadis Chandra Bose

VORWORT

Ich bin gefragt worden, ob der Titel dieses Buches eigentlich einen Bahnbrecher der Wissenschaft bezeichnet, der zufällig auch Inder ist, oder einen Bahnbrecher der indischen Wissenschaft. Ich antworte: beides. Denn einmal ist Bose der erste Inder unserer Tage, der wissenschaftlich Hervorragendes geleistet hat, und so wird seine Lebensgeschichte sowohl seine wissenschaftlichen Zeitgenossen in ändern Ländern interessieren als auch seine Landsleute ermutigen und anspornen. Dann aber wird die weite Welt der Wissenschaft, in der es nicht auf Rasse, Nationalität und Sprache ankommt, sondern nur auf die wirkliche Leistung, erkennen, daß hier viel Pionierarbeit geschehen ist, und zwar von einer so hohen Warte aus, wie sie selten erreicht wird, wobei Gebiete ineinander übergreifen, die man gemeinhin auseinanderhält und getrennt behandelt: Physik, Physiologie (der Tiere wie der Pflanzen), ja sogar Psychologie. Bahnbrechendes in allen diesen Disziplinen hat Bose nicht nur dank seiner ungewöhnlich vielseitigen Interessen, seiner außerordentlichen geistigen Beweglichkeit und Erfindungsgabe geleistet, sondern-auch, weil er geführt, begeistert, ja leidenschaftlich hingerissen war von der außerordentlich tiefen Kraft seines Glaubens an kosmische Ordnung und Einheit, der wesentlichen Grundlage aller Wissenschaft. So kommt es, daß wir in diesem einzigartigen und lange einsamen Forscher einen Geist vor uns haben, der "großzügig" arbeitet und den trennende Abgründe ebenso locken wie einende Grenzgebiete. Seinen hochstrebenden geistigen Abenteuern waren Erfolge in hohem und ungewöhnlichem Maße beschieden. Von Anfang an verband er bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten ganze Gruppen von Erscheinungen, die man bisher einzeln untersucht hatte. Wir haben es aber hier nicht etwa nur mit einem alltäglichen Physiker von besonderer Experimentiergeschicklichkeit und peinlichster Sorgfalt zu tun, sondern auch mit einem Naturwissenschafter, den gerade die verblüffendsten und verwickeltsten Vorgänge und Bewegungen des Lebens am meisten anziehen. Damit habe ich wohl deutlich gemacht, in welcher besonderen und eigenartigen Richtung er bahnbrechend ist. Bei dieser zwiefachen Blickrichtung und Ausrüstung ergänzt der Naturwissenschafter in ihm den Physiologen durch die geistigen und Experimentiermöglichkeiten mit ihren fruchtbaren Ergebnissen an neuem Wissen. Infolgedessen gestaltete er durch die Verbesserung der neuen Methoden und ihrer Anwendungsmöglichkeiten die physiologischen Laboratorien und ihre Beobachtungs- und Forschungsweisen völlig um. Ja noch mehr: er erblickte nicht nur, wie schon andere Naturwissenschafter vor ihm, im Stoff die "Verheißung und Ahnung des Lebens", sondern es gelang ihm auch, in den scheinbar toten Metallen sowohl eine Passivität experimentell nachzuweisen, die derjenigen belebter Wesen auffallend ähnelte, als auch eine dem Lebendigen noch viel ähnlichere Reaktionsweise.

Ich gebe nun hier einen Bericht über Boses bahnbrechende Entdeckungen und schildere Art und Persönlichkeit des Bahnbrechers selbst. In der Wissenschaft brauchen wir zweifellos im Osten wie auch im Westen beides immer mehr. Darum verbinde ich die Darstellung der hauptsächlichen wissenschaftlichen Errungenschaften und des Lebensganges miteinander.

Und wenn auch für wissenschaftliche wie für biographische Darstellung gleicherweise der Satz gilt: Je weniger der Verfasser sich vordrängt, um so besser, so sind doch in jedem Vorwort einige persönliche Bemerkungen erlaubt, ja gebräufii-lich. Bin ich auch in erster Linie als Biologe ausgebildet und interessiert, so packten mich doch schon als Student die Wunder und Zauber der Physik, und ich ahnte etwas davon, wie wichtig sie für die Physiologie sein könnte. Als Lehrer und Forscher auf dem Gebiete der Botanik, der mehr als üblich sich um Physiologie und Entwicklungslehre kümmerte, empfand ich es seit vierzig Jahren immer peinlich, wie wenig ich eigentlich von Pflanzenphysiologie im allgemeinen und von den Bewegungen der Pflanzen im besonderen wußte. So wurde mir, als ich vor nahezu zwanzig Jahren Bose kennenlernte und später ein Buch las, das er mir sandte, die Bedeutung seines Werkes einigermaßen klar. Doch im Drange anderer Arbeiten verflüchtigte sich der Eindruck allmählich wieder, da ich auch mit seinen neuen und ungewohnten Kunstgriffen und Apparaten nicht genügend vertraut war. Erst in den letzten zwei oder drei Jahren erfuhr ich in Kalkutta und Darjeeling allmählich mehr und mehr über Bose und seine Forschungen, über sein Institut und seine Ziele.

Alle Wissenschaften samt ihren Wissenschaftern sind Erzeugnisse der Gesellschaft. Man muß sie als solche soziologisch studieren. So wurde dieses Buch, das nach Form und Zweck ursprünglich ganz einfach und unmittelbar als Schilderung eines Lebenswerkes geplant war, zugleich eine Art soziologischer Studie. Und da möge eine Teilabsicht noch deutlicher werden: ich möchte den Unternehmungsgeist und das Streben nach Selbständigkeit beim Studenten, in der Wissenschaft im allgemeinen und vor allem in Indien anregen. Dieses Buch ist keinesfalls eine konventionelle Rhapsodie über einen "Genius", sondern ein Versuch, die Bedingungen festzustellen, die das Leben fördern und zu seiner vollen geistigen Gestalt und Fruchtbarkeit entfalten, die umgekehrt auch hemmen, aber unter Umständen auch reizen, Herr über sie zu werden. Und gerade auf das letztere möchte ich an Hand der Boseschen Lebensgeschichte besonders hinweisen, so daß auch andere Mut bekommen, ihre Schwierigkeiten zu" überwinden und, soweit das eben möglich ist, über sie hinaus -zu einem Ziele zu gelangen, das nicht nur den einzelnen angeht.

Genug der Vorrede. Ich möchte das Buch allen denen widmen, die - ob schon entschlafen oder noch unter uns - dem Helden dieser Geschichte, wie wir sehen werden, auf der Abenteuerfahrt seines Lebens so treu beistanden. Aber wir wollen auch seine alten Lehrer nicht vergessen, seine Freunde und wissenschaftlichen Mitarbeiter, auch nicht seine Assistenten und Schüler, die inzwischen sein Werk in steigendem Maße weiterführten, und ebensowenig die lebendige Jugend der indischen Universitäten, an die es sich in besonderem Maße wendet.

Jerusalem 1920
P. Geddes

I. KINDHEIT UND ERSTE ERZIEHUNG

"Das Kind ist der Vater des Mannes". Darum suchten die Verfasser von Lebensbeschreibungen immer so viel wie möglich über die früheste Umwelt ihrer Helden zu erfahren und zu berichten. Denn diese gestaltenden Einflüsse und die Art, wie Kindheit und Jugend darauf antworten, werfen bekanntlich oft ein helles Licht auf den Charakter der späteren Jahre und auf das Lebenswerk. So pflegte August Comte immer ein Wort de Vignys anzuführen: "Was ist ein großes Leben? Wenn man einen Gedanken der Jugend im reifen Mannesalter verwirklicht." Und je größere Fortschritte die Psychologie macht, um so klarer wird uns nicht nur die grundlegende Bedeutung der vorelterlichen und elterlichen Einflüsse, die Einwirkung der kindlichen Umwelt, sondern auch die Tragweite kindlicher Gefühle und Ansichten, Träume und Taten. Wie gewichtig sind auch eines Knaben Gedanken und Unternehmungen. Wie weitgehend bestimmen sie den Jüngling, wenn er in sein künftiges Leben vorausblickt und am Kreuzweg sich entscheidet, wohin er gehen soll.

Vikrampur heißt ein weites Gebiet westlich von Dacca, der Hauptstadt des westlichen Bengalen. Die Gegend ist ziemlich fruchtbar, doch wird auch heute dort noch keine Jute gepflanzt, so daß das alte Landschaftsbild noch erhalten ist. Unter der Bevölkerung sind die Mohammedaner vertreten. Aber auch für die Hindus ist die Gegend anziehend durch den Reichtum ihrer kulturellen Ueberlieferungen und heiligen Erinnerungen. Vor fünfzig Jahren war das natürlich noch viel mehr der Fall. Vikrampur gehört zum Distrikt Dacca, und das Dorf Rarikhal in Vikrampur, etwa fünfunddreißig Meilen westlich von Dacca ist die Heimat der Bose. Jagadis Chandra Bose wurde am 30. November 1858 geboren. Seine früheste Kindheit verbrachte er hauptsächlich in Faridpur, dem Mittelpunkte des nächsten Distrikts, wiederum fünfunddreißig Meilen weiter westlich, das heißt in der Luftlinie. Der Fluß aber, der die Verbindung eines Ortes mit dem anderen ermöglicht, macht viele Windungen.

Vikrampur ist seit den allerältesten Zeiten, als Sitz der Wissenschaft berühmt gewesen. Aus der Umgegend und sogar aus entfernteren Provinzen Indiens kamen die jungen Leute in die Tols, die Sanskritschulen der alten Brahma-nen, der Hüter uralter Weisheit. Wir können uns Vikrampur bis in die neueste Zeit geradezu als einen geistigen Mittelpunkt denken, wie die Vergangenheit sie kannte. Vor fünfzig Jahren war noch ziemlich viel davon lebendig, man spürt sogar heute noch etwas davon. Die Ueberlieferung berichtet von dem Man Mandir, einem Observatorium zur Beobachtung der Stern- und Planetendurchgänge: Wieso gerade hier ? Auch dafür fehlen, wie in Indien so häufig, zuverlässige geschichtliche Berichte, während mündliche Ueberlieferungen durch Heilige und Weise reichlich auf uns gekommen sind. Ueberdies lassen die Denkmäler der Umgegend und noch mehr die zahlreichen Ruinen einwandfrei erkennen, daß Vikrampur ein besonders reicher und lebhafter Mittelpunkt buddhistischer Kultur war. Daher ist es nur natürlich, daß die Renaissance der Hindus, die daraus hervorging, hier besonders lebendig war und sich ihrerseits wieder tief und kräftig verwurzelte. Der Einfluß dieser alten Kultur hat eine Bevölkerung geschaffen, die lebhaft von Ideen und Idealen ergriffen ist und viel für Bildungsfragen übrig hat.

Die Schule, die neuerdings in Boses Heimatdorf gegründet worden ist und den Namen des Forschers trägt, mag einerseits wohl der Ehrung dieses Mannes gelten, ist aber andererseits auch ein Ausdruck uralter Teilnahme an kulturellen Fragen, die sich hier wie anderwärts ihren Weg ertastet, um sich den veränderten Zeiten anzupassen. Die Mohammedaner, auf die auch hier, wie fast überall, die Umgebung abgefärbt hat, gehen mit den Hindus zusammen.

Aber die Ostbengalen sind durchaus nicht alle nur liebenswürdige Bauern, bei denen Religion und Bildung ein Echo finden. Die großen Ströme bringen starke Anreize für Regsamkeit und Unternehmungslust, Fischerei und Transport. Auch die bäuerliche Bevölkerung wird dadurch auf mannigfache Weise angeregt, abenteuerlustig und unstet. Gegensatz, Vermischung und Zusammenprall von Bauern und Fischern, von so entscheidender Bedeutung für die Gestaltung der Geschichte des mittelländischen Meeres und Westeuropas, hat sich hier schon lange gezeigt, wenn auch natürlich in geringerem Maße, weil eben ein Flußsystem auch kleiner ist als Meere und Küsten. Die Bauern kamen dank der leichten Beförderungsmöglichkeiten wirtschaftlich vorwärts, die Fischnahrung steigerte Kraft und Gesundheit. Die Flüsse zogen auch, zur Erleichterung der Dörfer, die unternehmungslustigen jungen Leute in ihren Bann. Ihr Lauf, der sich in die unendliche Ferne verlor, verhieß freieres Leben und Abenteuer. Aber fast noch mehr als durch Kurzweil und Glück, den Zauber des Fischerlebens und das ehrgeizige Streben nach Gewinn und Reichtum durch Handel und Verkehr, locken diese Flüsse durch die Räuberromantik, derentwegen sie seit alter Zeit in schlechtem Ruf stehen. Sie erleichtern solche Räubereien außerordentlich, da ihre zahllosen Arme und das anschließende Unterholz jenachdem Ausfallhafen und Schlupfwinkel genug bieten. Es sind ajso alle Voraussetzungen für das Gedeihen der Bauern- und Fischerdörfer gegeben, zugleich aber auch die besten Möglichkeiten für robuste Gesetzesverächter, die sich der schönen Plündergelegenheit in den Dörfern freuen. Doch wurden die Räuber nie so stark, daß sie etwa ihren Distrikt hätten beherrschen können. Denn auch abgesehen von der Wachsamkeit und den Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung kann sich der Flußräuber nicht weit von seinem Boot fortwagen. So bewirkten die Beutezüge nur, daß die Dörfler wachsam wurden, sich oftmals sehr erfolgreich verteidigten und Widerstand leisteten, auch selbst angriffen und die Plünderer verfolgten. Kurz und gut, in solchen Dörfern wachsen die Leute schnell über das bloße mühselige Leben des Bauern hinaus, der sich die Mängel des Daseins nur zu leicht gefallen läßt, und entwickeln sich mehr oder weniger zu der Menschenart, von der ein Reisender des Altertums sagt, es sei schwierig und gefährlich, mit ihr umzugehen, denn wenn man sie angreife, verteidige sie sich. Seitdem sie eine moderne Regierung mit Magistrat und Polizei haben, sind sie freilich der Notwendigkeit der Selbstwehr enthoben. Aber auch die Regierung wird bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit am wirkungsvollsten von ausgesuchten bodenständigen Leuten unterstützt, die in früheren Zeiten die Verteidiger ihrer Dörfer gewesen waren, und den besten Magistratsbeamten gibt derjenige ab, der durch angeborene oder erworbene Fähigkeiten damals deren Führer geworden wäre.

So sehen wir denn, daß sich im Distrikt von Faridpur noch andere Kräfte zu denen gesellen, die in Vikrampur die erste Umwelt und die Erziehung des Knaben Jagadis bestimmt hatten. Diese Kräfte weckten den Einschlag mannhaften, unbeugsamen Mutes gegenüber Gefahren und Widerwärtigkeiten und unermüdlicher Kampflust gegenüber allen Schwierigkeiten, die wir in seiner Jugend und seinen Reifejahren immer wieder feststellen können.

Denn Boses Vater, Bhagaban Chandra Bose, stellvertretender Ortsrichter von Faridpur, war der Verteidiger nicht nur des Städtchens, sondern auch der umliegenden zahlreichen Dörfer. Heutzutage teilt der Ratsherr sein Leben zwischen dem Amtszimmer und seinem Hause, damals aber brauchte man einen Mann, der nicht nur zum Beamten fähig, klug und ortskundig, sondern auch geeignet war, selbständig und mutig vorzugehen, sowie in jedem Augenblick schnell entschlossen den Oberbefehl über Polizei und Volk zu übernehmen, um im Notfalle die Räuberbanden zu vertreiben. Von seiner schnellen Entschlußfähigkeit könnte man gar manches Stücklein erzählen. So hörte er z. B. einmal, in der Nachbarschaft habe sich eine Räuberhorde gezeigt. Bose stieg auf einen Elefanten, raffte die paar erreichbaren Polizisten zusammen und ritt geradeswegs mitten in das Räuberlager. Im ersten Schrecken der Ueberraschung brachen sie aus und liefen auseinander. Der schnellentschlossene Ortsrichter sprang ab, fing einen Führer mit eigener Hand und nahm ihn zur Aburteilung gleich mit.

Solch tatkräftiges Handeln, ohne jene stillschweigende Duldung des Verbrechens, die man der Polizei von einst nachsagt (und die auch heute in Indien noch nicht unbekannt sein soll), mußte die Räuber zur Verzweiflung treiben. Voll grimmer Wut unternahmen sie wiederholt planmäßig vorbereitete Rache--züge. Eine Gruppe, die Bose vor Gericht gezogen und verurteilt hatte, rief ihm bei ihrer Abführung noch die Drohung zu: "Wenn wir wieder herauskommen, setzen wir dir den roten Hahn aufs Dach!" Drei oder vier Jahre später lösten sie ihr Wort ein. Um Mitternacht wurde das Dach von Boses Hütte an drei oder vier Ecken angezündet, auch die Nebengebäude fingen Feuer. Die Hausbewohner wurden durch Knistern und Rauch geweckt und konnten gerade noch ins Freie gelangen, zu retten war nichts mehr. Die nächsten .Nachbarn, die zufällig Mohammedaner waren, eilten zu Hilfe. Einer von ihnen sah in dem brennenden Hause eine kleine Figur, die er in Rauch und Feuerschein erkannte. Er lief zu Herrn Bose und sagte: "Vielleicht ist es Ihnen nicht lieb, wenn wir Ihren Hausgott berühren, aber ich glaube, man könnte ihn noch retten." "Hausgott? Ich habe keinen Hausgott. Ich will einmal nachsehen." Es war die kleine, damals gerade dreijährige Tochter (später Fräulein M. M. Bose), die man nicht vermißt hatte, weil die ganze Familie voller Aufregung auseinander gelaufen war. Das Kind saß in seinem Bettchen, mehr verwundert und entzückt als erschreckt von dem schaurigen Bild. Der Vater sprang in das Haus und holte es heraus. Einen Augenblick später stürzte das Dach zusammen, alles war verloren. Als man die Geldkasse aus den Ruinen grub, waren Schmuck und Geld, Gold, Silber und Kupfer in einen Klumpen zusammengeschmolzen. Auch die Pferde und Kühe im Nebengebäude waren zugrunde gegangen. Aber ein Nachbar stellte einen Teil seines Hauses zur Verfügung, ein anderer lieh Kleider und Kochgeschirr. So behalf sich die Familie, so gut sie konnte, einen Monat oder länger, bis ein neues, diesmal klugerweise fester gebautes Haus gesichert war. Das abgebrannte war Herrn Boses Eigentum gewesen. Der schwere Verlust war der erste der vielen Schicksalsschläge, die ihn in seinem weiteren Leben noch treffen sollten.

Ein oder zwei Jahre später - der Knabe Jagadis war fünf oder sechs Jahre alt - fand ein Mela oder Volksfest statt, mit einem Ringkampf der Polizeimannschaften, zumeist stämmige, kernige Kerle aus den nordwestlichen Provinzen, die viel miteinander übten. Es war ein großartiges Schauspiel, obwohl, wie es später hieß, vorher ausgemacht worden war, wer gewinnen sollte. Ein Bauer, der zusah, sagte, wenn er mittun dürfte, wolle er den Besten niederringen. Herr Bose nahm ihn sogleich beim Wort und stellte die beiden einander gegenüber. Und wirklich machte der Bauer sein Wort wahr. -Der Polizist aber regte sich über seine Niederlage auf und schlang plötzlich seine Beine um des Siegers Nacken, bevor dieser wieder aufstehen konnte. Der Bauer erstickte beinahe. Die Zuschauer verlangten ehrlichen Kampf. Aber der Wütende ließ nicht ab, auch nicht als Herr Bose es befahl. Er mußte ihn erst derb auf die Füße schlagen, bis er den unglücklichen Sieger, der halb erwürgt war, freigab. Zornig sann jener auf Rache. In einer stillen Straßenecke lauerte er auf Bose, der zum Jatra erwartet wurde, einem alten indischen' Drama, das am Abend gespielt werden sollte. Aber er verfehlte sein Opfer. So wandte er sich am Eingang des großen Zeltes, in dem das Spiel stattfand, an seine Kameraden von der Polizei, die sich auch vor den Bauern gedemütigt fühlten" und hetzte sie auf, den Richter und die Seinen zu ärgern und aufzuhalten, wenn sie zur Vorstellung kämen, ja sie im Notfall durch Prügel am Betreten des Zeltes zu verhindern. Herr Bose beobachtete, daß Getümmel von weitem und ging hin. Als er die Polizisten ohne Anlaß toben sah, verlangte er ihnen ihre Stöcke ab und hatte auch bald den Arm voll. Der ehemalige Meisterringer aber weigerte sich. Bose entrang den Bambusstab seinen Händen - da fiel ein Schwert heraus. Als so sein beabsichtigtes Verbrechen vor allem Volke offenbar wurde, stürzte der Mann Bose zu Füßen und gestand, daß er ihn habe ermorden wollen. Bose aber vergab ihm auf der Stelle. "Steh auf! Geh an deinen Dienst". Fortan war er ein ordentlicher Mensch.

Von einem bekannten Räuber, den er zu einer jahrelangen Gefängnisstrafe verurteilt hatte, erzählt man eine ähnliche Geschichte, wie die Gnade zwar nicht die Strafe abwandte, ihr aber folgte. Als der Uebeltäter seine Strafe abgesessen hatte, kam er zum Richter Bose und sagte: "Was soll ich jetzt tun? Als entlassener Sträfling habe ich keine Aussicht, anständige Arbeit zu bekommen". Bose erwiderte: "Ich will dich in meinem Haus beschäftigen. Dieser kleine Junge soll in die Schule kommen. Bring ihn täglich hin und hole ihn wieder ab". Für den kleinen Jagadis, der neben dem Räuber aufsitzen durfte, wurde die halbe Stunde Schulweg jeden Tag ein wundervolles Erlebnis, weil seine kindliche Phantasie mit all den Abenteurergeschichten aus dem Leben seines neuen Wärters genährt wurde, der eine Geschichte für jeden Speerstoß und jede Pfeilwunde hatte, die ihm in den vergangenen Kämpfen seiner wilden Zeit Brust und Arme mit Narben bedeckt hatten. Er schilderte, wie sich die Räuber versammelten und ein Dorf angriffen, wie sie plötzlich die Fackeln anzündeten und laute Kriegsrufe ausstießen, um die Leute zu schrecken und zu überrumpeln. Aber er erzählte auch vom Mut der Verteidiger, wie sie besiegt und ausgeraubt wurden oder auch sich erfolgreich wehrten, wie er selbst mit knapper Not entkam und seine Kameraden fielen oder gefangen genommen wurden und wie auch er zuletzt erlag. Alle diese und viele andere Geschichten wurden dem staunenden Kinde immer wieder erzählt. So wurde ihm hier unmittelbar der Sinn für die Romantik eines gefahr- und abenteuerreichen Lebens geweckt, das die meisten Buben nur aus Büchern kennen.

Ein Jahr währte die Kameradschaft, da bekam der kleine Jagadis ein Ponny. Dessen Pflege gehörte zu den Pflichten des Räubers, der stets der denkbar anständigste und zuverlässigste Diener blieb. Es sollte sich ihm auch bald eine besondere Gelegenheit bieten, seine Treue zu beweisen. Als während Vater Boses jährlichen Urlaubs alle nach der elterlichen Heimat der Familie in Vikrampur fuhren -. eine ziemlich lange Flußreise - stieß ein verdächtig aussehendes Boot, mit vielen Ruderern bemannt, aus einem Seitenarm hervor und jagte ihnen nach: offensichtliche Flußräuber, denen man nicht mehr entrinnen konnte. Aber nun bewies unser zahmgewordener Räuber, daß er der Lage gewachsen war. Er sprang auf das Deck des Familienbootes, so daß die Räuber ihn erkennen konnten und sandte einen langen und eigentümlichen Schrei zu ihnen hinüber. Die Verfolger verstanden ihn und befolgten ihn sofort. Sie kehrten um und verschwanden. Dieser Mann blieb vier oder fünf Jahre in der Familie, bis Herr Bose befördert und nach Burdwan versetzt wurde. Dann kehrte er in sein Heimatdorf zurück mit dem gewichtigen Zeugnis, einem Ortsrichter jahrelang gedient zu haben. Nun brauchte niemand weiter in seiner Vergangenheit nachzuforschen. Wie oft werden Verbrecher so freundlich und klug behandelt? Könnten nicht alle Richter der Welt, deren Verfahren heute so strenge geregelt und in bestimmte Formen gezwängt ist, von solchen altmodischen Vorgängern etwas lernen - deren es doch immer in jedem Lande einige, wenn auch viel zu wenige gegeben hat ?

Die angeborene Güte dieses tatkräftigen Richters tritt uns immer stärker entgegen in den leider allzu knappen Berichten über sein Leben, das allein schon Stoff für ein Buch abgäbe. Denn trotz Seiner ungewöhnlichen Arbeitsüberlastung fand er immer noch Zeit, seine wirtschaftlichen und geistigen Interessen zu pflegen, jedes für sich und wechselseitig verbunden. So veranstaltete er alljährlich ein Mela. Diese Volksfeste begannen damals schon einzugehen, wurden aber von ihm wirkungsvoll neu belebt. Er ermutigte seine Leute, ihre alten religiösen Feste, öffentlichen Feiertage und Jahrmärkte mit dramatischen und athletischen Vorführungen zu bereichern. Auch pflegte er mit ihnen eine Ausstellung von Erzeugnissen des heimischen Gewerbes und Ackerbaues zu veranstalten, gerade so wie wir in europäischen Dörfern die alten Volksfeste mit ihren sport-.' liehen Veranstaltungen und Mysterienspielen wieder aufleben lassen und gern eine Gewerbeausstellung und Landwirtschaftsund Gartenschau damit verbinden.

Jagadis kann sich noch recht gut der Freuden eines solchen Mela erinnern. Der Vater hatte eine ausgezeichnete Truppe von Jatrasspielern gewonnen, deren Vorstellungen die Kinder Boses wie die übrigen Leute erfreut und erstaunt verfolgten. Wie stark der Eindruck war, bezeugt nicht nur die Tatsache, daß Bose das lebendige Bühnenbild und die atemlosen, dichtgedrängten Zuschauer immer im Gedächtnis behielt, sondern auch die eigenartige und köstliche Erinnerung an den englischen Oberrichter, der unter den Zuschauern war. Dieser verteilte eine gehäufte Handvoll Rupien unter die Spieler und die festliche Erregung und dramatische Erschütterung ließen ihn das übliche amtliche Dekorum und alle Reserviertheit so völlig vergessen, daß er sie noch etwas warten hieß, damit er schnell nach Hause laufen und noch mehr Geld holen könne. Dann entließ er die hochbeglückten Schauspieler unter immer neuen Lobesäußerungen nach Hause;

1869, als Jagadis zehn Jahre alt war, wurde sein Vater Assi-stant-Commissioner in Burdwan, wo er vier oder fünf Jahre, bis 1874, blieb. Hier hatte er mehr alltägliche Aufgaben, aber bald forderte eine neue Begebenheit seine besten Kräfte. Burdwan hatte lange im Ruf einer besonders gesunden Lage gestanden, und zwar in dem Maße, daß es ein eigentlicher Erholungsort für die Bevölkerung Kalkuttas geworden war. Wer einmal dort gewesen, bezeichnet den Ort geradezu als Sanatorium. Malaria war fast unbekannt. Aber 1870 brach ganz plötzlich eine heftige Epidemie aus, die zu den allerschlimmsten gehört, die Bengalen je heimgesucht haben. Tausende kamen um und viele Kinder verloren beide Eltern. Der Assi-stant-Commissioner hatte schon während der Epidemie entschlossen das Nötige veranlaßt und nahm sich auch sofort der Waisen tatkräftig an. Er gab nicht nur selbst, sammelte und linderte die größte Not, sondern schuf auch gewerbliche Anlagen, damit die Knaben ihren Unterhalt verdienen und sich nützlich machen konnten. Da kein Raum dafür zu finden war, verzichtete er auf einen großen Teil seines eigenen geräumigen Hauses und Anwesens. Dort richtete er eine Werkstätte ein für Zimmerleute, Metalldreher, für allgemeine Eisenverarbeitung, sogar eine Gießerei. Ein großer schöner Messingkessel ist heute noch vorhanden und im Boseschen Haushalt zu Kalkutta in täglichem Gebrauch, ein Erbstück, das noch lange die Güte der Gießerei beweisen wird. Dort erbettelte sich auch der kleine Jagadis von der Mutter ein paar alte Messinggeräte und beredete die Arbeiter in der Gießerei, sie in eine ziemlich große Messingkanone umzuschmelzen, die mit oder ohne Anlaß abgefeuert wurde, und deren er heute noch mit einer Liebe gedenkt, die womöglich die Anhänglichkeit an das wissenschaftliche Spielzeug seiner späteren Jahre noch übertrifft, obwohl dieses feiner gearbeitet, wenn auch nicht so lärmend und furchtbar war.

1875 wurde Bose Executive Officer für den Cutwa-Bezirk und hier erlebte er das furchtbarste Ereignis seiner ganzen Beamtenlaufbahn: die entsetzliche Hungersnot von 1880. Obwohl er die Höhe seines Lebens schon überschritten hatte, trat er diesem Unglück tatkräftiger als je entgegen. In seinem Distrikt sorgte er für schleunige Hilfe. Aber als die Hungersnot vorüber war, fühlte er doch den Verbrauch an Nerven-kraft und die körperliche Abspannung infolge von Ueberarbei-tung bedenklich. Voll heldischer Entsagung wollte er selbst nicht essen, während das Volk hungerte. So ging er Tag für Tag zu den hungernden Bauern hinaus, ritt lange Strecken hin und zurück, erledigte zwischen hinein die übergroße Arbeitslast und aß nur ein paar Handvoll geschroteten Weizens mit etwas Wasser, wie er es eben bekommen konnte. Seine Gesundheit war erschüttert - offenbar durch einen leichten Schlaganfall - und so mußte er einen zweijährigen Erholungsurlaub nehmen, den er hauptsächlich in Kalkutta verbrachte, wo sein Sohn gerade das College besuchte. Aber auch hier konnte sein nimmermüdes Hirn nicht rasten. Er hatte immer wieder gesehen, wie nötig es sei, Indiens Landwirtschaft und Gewerbe zu fördern. Und da ein Mann wie er sofort tut, was er denkt, legte er immer mehr die beträchtlichen Ersparnisse seiner Berufsjahre, zu denen noch das persönliche Eigentum und das Familienerbe kam, in derartigen Unternehmungen an. Er erwarb Land in Terai, rodete es und begann eine Viehfarm. Er hatte zwar zum Teil hervorragende Zucht, aber das Land lag zu weit ab von den Märkten und war geradezu ungesund. Der Versuch endete daher mit Verlust. Man machte damals die ersten Versuche mit Teepflanzungen. Er erkannte die Zukunftsmöglichkeiten und dachte: "Wenn Schotten das wagen und das Klima aushalten, warum sollten denn Inder es nicht auch aushalten können ?" So erwarb er ein paar tausend Acres (acre = etwa 40 Ar) Landes in Assam. Die Bereitung des Bodens und das Pflanzen wiederum in ungesunden Verhältnissen verschlang große Summen. Man mußte weiteres Kapital zu hohen Zinsen entleihen. Die langsam sich entwickelnden Einnahmen konnten das nicht decken. So gab es Jahr für Jahr Sorgen, Verluste, Enttäuschungen. Zuletzt, nur leider nicht mehr, als man es am nötigsten gebraucht hätte, wurde sein bahnbrechendes Vorgehen von Erfolg belohnt und die Pflanzung brachte Jahr für Jahr mehr ein. Zuerst unterstand sie einem indischen Verwalter, heute dessen Enkeln, gleichfalls tüchtigen Leuten.

Das letzte Mißgeschick erlebte Vater Bose mit den Leitern einer Weberei in Bombay. Durch Entwicklung großer Pläne mit patriotischem Hintergrund (durch deren Verwirklichung die Swadeshi-Bewegung vorausgenommen worden wäre) gelang es ihnen, ihn zu bewegen, den Rest seines Kapitals in ihrem Betrieb anzulegen. Sobald sie das Geld hatten, verschwanden sie spurlos damit.

Doch der Dulder ließ sich durch all diese Mißerfolge nicht verbittern. Als sein Erholungsurlaub abgelaufen war, trat er sein Amt wieder an, diesmal in Pabna, wo er noch vier oder fünf Jahre wirkte, worauf er in den Ruhestand trat.

Wir können uns nun wieder zu den früheren und glücklicheren Jahren wenden, wo der Vater den ersten Unterricht seines Sohnes leitete und sich bestrebte, ihn zu einem tüchtigen Mann zu erziehen.

Ein Vater, der im Dienste der Oeffentlichkeit so Außerordentliches leistet, weit über das übliche Maß hinaus, und der daneben noch andere Interessen hat, kümmert sich in unsern Tagen selten um die Erziehung seiner Kinder. Bei Bose war das anders. Der Vater galt dort nicht nur als Autorität, sondern als Führer und Freund. Für den Knaben Jagadis auch als Philosoph. Der Vater widmete ihm, als er die keimenden Kräfte erkannte, alle Freizeit, die er dem Beruf abgewinnen konnte, vor allem in den ersten Jahren der kindlichen Entwicklung und des Erwachens, die wohl das größte Wunder aller geistigen Entwicklung und daher für einen Erzieher die bedeutsamsten sind. Der Vater pflegte sich, müde nach langer Tagesarbeit, nach dem Abendessen neben das Kind zu legen, um die Fülle von Fragen über sich ergehen zu lassen und geduldig zu beantworten, die der lebhafte kleine Beobachter tagsüber gesammelt hatte .und die er durchbesprechen mußte, bevor man ihn zum Schlafen bringen konnte. "Ich sah das und das heute. Warum ist das so?" war eine der üblichen Fragen, die der Vater beantwortete, wenn er irgend konnte. Oft freilich - und das war vielleicht für die Erziehung des künftigen Forschers am bedeutsamsten - mußte er offen bekennen, er wisse es nicht. Niemals drückte er sich um eine Frage, niemals tat er, als wisse er alles besser als die Kinder, womit weniger offene und kluge Eltern ihre Kinder so oft entmutigen. "Das weiß ich nicht, mein Sohn. Darüber können wir nichts sagen. Wir wissen so wenig über die Natur", lautete häufig die Antwort. Aber anstatt die Achtung des Kindes vor dem Vater zu vermindern, wie törichte Eltern und Lehrer so oft befürchten, weckte das nur neues Staunen, so daß Fragelust und Beobachtung des Kindes immer lebendig blieben. So wird aus dem fragenden Kinde später der Wissenschafter. Und welcher Wissenschafter, der diesen Namen verdient, ist etwas anderes als solch ein Kind - das größer geworden? Der "Fortschritt der Wissenschaften" ist keine so leichte Sache, wie manche Gründer von Schulen und Richtungen meinen. Man braucht dazu einen entsprechenden Nachwuchs von Männern der Wissenschaft. Diese aber sind nicht nur das Produkt einer Fachschulung. Wissenschaftliche Bildung hat nur für die Wenigen Wert, die man in der Kinderzeit zu Beobachtungen und Fragen .ermutigte und die nicht, wie einstmals, ihre Eltern für das ganze Leben stumm und stumpf machten durch Bemerkungen wie: "Frag nicht so dumm U oder ausweichend: "Ich hab keine Zeit."

Die Fragelust ging soweit, daß es der Großmutter Bose einmal zuviel wurde und sie dem Kleinen mit einem Stocke drohte. "Warum läßt du meinen Sohn nicht schlafen", rief sie halb scherzend halb erzürnt, "Siehst du denn nicht, wie müde er ist? du wirst ihn noch unter den Boden bringen!"

Ein anderes Beispiel, wie ein Kind blitzähnlich das Wesentliche sieht: "Vater, bevor ich hereinkam, sah ich einen Busch in Feuer. Ich lief hin und sah, daß er über und über mit Fliegen bedeckt war, lauter feurigen Fliegen. Was war das ? Was bedeutet das? Warum machen sie das so?" Darauf kam die offenherzige Antwort, mehr hätte auch ein Wissenschafter damals nicht sagen können: "Das kann ich dir nicht sagen. Wir wissen zu wenig darüber." "Wenn es nur schön ist, nicht wahr Vater?"

Hierher gehört noch eine andere nette Geschichte von Kind und Großmutter. Sie war eine fromme Seele, die viel betete und sich daran gewöhnt hatte, täglich ein Bild Shivas in Ton zu modellieren, um sich noch inniger zu sammeln. Wenn sie am Schlüsse ihrer Andacht Blumen geopfert hatte, warf sie das Lehmbild beiseite. Die Kinder schätzten diese hübschen gekneteten Tonbilder sehr für ihre weniger frommen Uebungen. Und der kleine Jagadis wartete regelmäßig ganz geduldig, bis die Andacht zu Ende war und er das Bild, das nun seiner "Heiligkeit" wieder verlustig ging, als Spielzeug haben konnte. Eines Tages zog sich die Andacht ungewöhnlich in die Länge, das Kind konnte sich nicht länger beherrschen und rannte mit dem Shivafigürchen davon, trotzdem die Großmutter es noch zur Andacht brauchte. Als sie der Schändung gewahr wurde, erschrak sie sehr, und wenn es auch für den kleinen Sünder noch gnädig ablief, wurden doch Brahmanen und Arme gespeist und andere Sühnopfer dargebracht.

Wie ich schon erwähnte, lagen die Ländereien der Familie Bose in Rarikhal, einem Dorfe in Vikrampur, fünfunddreißig Meilen westlich vou Faridpur, so daß die alte Heimat im günstigsten Falle jährlich einmal aufgesucht werden konnte. Die Kinder verbrachten also fast ihre ganze Jugend in der Amtswohnung zu Faridpur, einem schönen geräumigen Hause mit reichlichen Nebengebäuden und Garten, an der Hauptstraße gelegen, jenseits deren man über eine große Wiese zu einem Seitenarm des Padmaflusses kam. Er ist zwar nicht so groß wie die Hauptflüsse Bengalens, aber zur Flutzeit wasserreich und ungestüm.

Damals hatte auch der Straßengraben viel Wasser, besonders staute es sich an dem engen Durchlaß der kleinen Brücke, die zum Hause führte. Das Kind beobachtete das Strömen: - "Wasser läuft - Wasser läuft" - mit einer Hingabe, mit begeisterter Hingerissenheit, deren sich der alternde Mann heute noch lebhaft erinnert. Hier sehen wir, wie tief und grundlegend ein Kind die bewegte Materie erlebt. Eben das aber brauchte der Knabe, um später der große Naturwissenschafter werden zu können. "Kinetische Energie", "Wellenbewegung" und dergleichen waren für ihn niemals Bücherwissen, wie ein Student es fürs Examen paukt, sondern erlebte, begrifflich umschriebene wirkliche Anschauung. So fanden die wissenschaftlichen und forschenden Gedanken des Mannes einen reichen Vorrat vertrauter und lebendiger Bilder, an die sie sich heften können - Bilder, die zugleich greifbar und schön, packend und geheimnisvoll sind. Verdankt nicht die Elektrizitätslehre die Klarheit der geistigen Vorstellungen, die sie im letzten Jahrhundert erarbeitet hat, in der Hauptsache dem Bilde des bewegten Wassers, weshalb sie ja auch vom "Strom" redet?

Abgesehen von dieser unterbewußten Vorbereitung zum künftigen Physiker zog den Knaben von Anfang an das Leben der Tiere auf das stärkste an, so daß er ebensogut auch Zoologe hätte werden können. Noch heute erinnert er sich lebhaft an die Fische und die Fischfalle an der kleinen Brücke, die über den Straßengraben zum Hause führte, und an die Wasserschlange, die er zum größten Schrecken seiner ältesten Schwester fing. Oder auch an die verschiedenen, oft so schönen oder fremdartigen Insekten, deren es in Indien besonders viele gibt. Ueber alles aber zogen ihn die freundlicheren Geschöpfe an, die sich zu Spielgefährten eigneten. Klugerweise wurde diese Liebhaberei von Anfang an gefördert.

Als er fünf Jahre alt wurde, bekam er ein Ponny und lernte bald, es zu reiten, und zwar so beherzt, daß einige Zuschauer beim Faridpur-Rennen im Spaß zu dem Knaben sagten : "Los, los! Du mußt auch mitreiten!" Der Knabe nahm den Zuruf ernst und spornte sein Ponny an. Das zeigte sich dem Augenblick durchaus gewachsen und trug den kleinen Reiter im Galopp um die Bahn, den großen Pferden nach. Die rauhen Sattelgurte, an denen er sich mit aller Kraft und mit seinen kurzen Beinchen festklammern mußte - er hatte keine Steigbügel ! - verschrammten und zerfetzten ihm die Haut so sehr, daß er heute noch Narben davon hat. Aber er empfand die Wonne des Rennens, beendete die Runde und ging, wie nicht anders zu erwarten war, als letzter durch das Ziel, vom tosenden Beifall aller begrüßt, als hätte er gesiegt. Er sagte nichts von seinen Wunden, bis das Blut verräterisch durchsickerte und man ihn zum Verbinden heimschickte. So zeigt sich schon früh in der Kindheit der Charakter des Mannes, Ein andermal, kurz bevor er in die Schule kam, hatte der kleine Jagadis gesehen, wie man einen Mann heimbrachte, den ein Tiger angefallen hatte. Er beobachtete, wie der Dorfarzt die Wunden verband. Einige Tage später wurde er von seiner Mutter getadelt. Er machte sich sogleich nach der Zuckerpflanzung auf, wo der Mann dem Tiger zum Opfer gefallen, um sich selbst diesem anzubieten - damit die Mutter ihre harten Worte bereue. Tief im raschelnden Zuckerrohrfelde aber sank ihm doch der Mut. Er kam weinend zurück. Die Mutter tröstete ihn und der Friede war wieder geschlossen.

Doch die häusliche Freiheit des Knaben endete gar bald. Schon mit fünf Jahren mußte Jagadis zur Schule gehen. Es gab in Faridpur zwei Schulen: eine indische, die Herr Bose für die einfachen Kinder gegründet hatte, und eine Regierungsschule mit englischer Unterrichtssprache. Dorthin schickte man nahezu alle Kinder, die eine höhere Bildung bekommen sollten, schon in frühester Jugend. Herr Bose aber bestand darauf, sein Sohn müsse, im Gegensatz zur öffentlichen Meinung und zu den entsetzten Einwendungen seiner Freunde, ja seiner eigenen Untergebenen, deren Söhne auch die englische Schule besuchten, in die indische Schule gehen. Er wies dabei nachdrücklich auf zwei Gründe hin, auf einen pädagogischen: ein Kind solle seine Muttersprache beherrschen, bevor es Englisch lerne, und einen sozialen: es solle seine eigenen Landsleute kennenlernen. Man dürfe sie ihm nicht fernhalten, weil heutzutage ein falscher Stolz die begüterten Klassen Indiens von ihren weniger begünstigten Brüdern trennen möchte, Englands unheilvolles Beispiel nachahmend, wo man sich seit zwei Geschlechtern so stark von >Tom Browns Schulzeit" beeinflussen läßt, dabei aber ganz das erste und wahrscheinlich vom besten Geiste echter Erziehung beseelte Vorwort übersieht, das schildert, wie Tom die kleine Dorfschule besucht, bevor er in die große staatliche Schule übertritt. Die Söhne der Fischer und Bauern waren Jagadis Schulkameraden. Der Sohn des Polizeidieners, der seinem Vater beigegeben war, wurde ganz von selbst sein täglicher Begleiter auf dem Schulweg. So sind bis heute, obwohl der Unterrichtsertrag jener Schuljahre längst dem Gedächtnis entfallen, noch manche bunte Eindrücke aus dem Bauernleben frisch geblieben, vielleicht am lebendigsten von allen, und mit unermüdlicher Liebe gehegt die Geschichten von den Fischerknaben, von den Erlebnissen ihrer Väter auf dem Flusse mit seinen Überraschungen und Gefahren. All das verwob der Knabe leidenschaftlich in seine Phantasie welt der Naturwunder und Menschenromantik. Sie verschmolzen mit den schon erwähnten Abenteuern des Flußräubers, der sein Wärter gewesen war.

Diese kleine Schule zu Faridpur schien der biederen, ungestörten Schläfrigkeit verfallen gewesen zu sein, die man in den Schulen des vergangenen Geschlechts im Osten und Westen gleicherweise antraf, und aus der sie nur schwer wieder wach zu rütteln sind. Spiele, die in späteren Jahren so beliebt, ja in vielen Schulen sogar Pflicht geworden sind, waren damals noch verboten. Der Lehrer mißbilligte etwa Kricket, auch wenn die Knaben es in der Freizeit des Nachmittags spielten, als "Zeitverschwendung", man solle statt dessen lieber seine Aufgaben machen. Aber die Jungen, die dort wie auch anderswo die nötige Schulrevolution durchführten, waren schlauer als ihr Lehrer. Sie überredeten den Dorfzimmermann, ihnen Schlaghölzer und Stöcke zu machen. Aus dem dicken Saft eines Gummibaumes, den sie langsam kneteten und rundeten, fertigten sie einen ziemlich brauchbaren Ball. Als Spielplatz wählten sie eine breite Straßenkreuzung in einer ruhigen Gegend abseits von der Hauptstraße zwischen Dorf und Schule. Auf jeder Seite stellten sie einen Posten auf und spielten dann mit ungeheurer Freude, bis gelegentlich einmal die Warnung kam, der argwöhnische Lehrer nahe! Aber die Jungen waren darauf vorbereitet. Die Stöcke wurden herausgezogen, alle krochen in das ausgetrocknete Flußbett, wo sie schon einen großen Haufen trockenen Laubes zusammengetragen hatten. Darunter lagen sie gut verborgen, bis die Gefahr vorüber war. Dann tauchten sie glückselig wieder auf, um ihr Spiel fortzusetzen. Auch die Schulbücher ahmten immer mehr das europäische Muster nach, das auf das Einpauken ausgeht. So konnten sie natürlich für die Kinder nicht sehr anziehend sein; immerhin lernte der kleine Jagadis, wenn auch langsam, für sich selbst zuhause das Lesen. Dank der vorzüglichen frühzeitigen Anregung durch die Jatras, die oben schon erwähnten alten Volksspiele, erwachte immer mehr sein Sinn für die Geschichten des "Mahabharata" und des "Ramayana". Im letzteren machte der Charakter Ramas und noch mehr die soldatische Hingabe seines Bruders Lakshmana tiefen Eindruck auf ihn. Doch waren die Charaktere eher zu gut, zu vollkommen. Die alten Krieger des Mahabharata reizten die Phantasie des Knaben stärker, weil sie rauher, männlicher, kühner waren. Ihre Fehler und Vorzüge waren zugleich menschlich und übermenschlich. So wirkten sie tiefer auf seine Charakterentwicklung und Lebensanschauung. Vor allem, und das ist sehr bezeichnend, wurde Karna der Lieblingsheld des Knaben und zwar vom zehnten Jahr an bis zu den bestimmenden Jahren der Geschlechtsreife. Der Eindruck war so tief, daß Bose trotz seiner grauen Haare und trotz aller Wissenschaft heute noch auf seiner Gartenbühne auftreten und die Rolle so lebendig wie einst spielen könnte. Das muß wohl so sein. Man höre seine eigenen Worte: Karna! Karna! der größte aller Helden! Er, der Aelteste der Pandavas, hätte König sein sollen. Aber er war mehr - der Sohn eines großen Gottes. Seine Mutter setzte ihn aus, die Frau eines Streitwagenführers fand ihn und zog ihn auf. Ihr Mann machte den großen Krieger aus ihm. Seine niedere Kaste trug ihm Zurückweisungen und jeden nur denkbaren Nachteil ein, doch immer spielte und kämpfte er ehrlich. Wenn auch sein Leben bis zum Schlüsse - als er von Arjuna erschlagen wurde - eine Kette von Enttäuschungen und Niederlagen war, wirkte es doch auf meine Knabenphantasie wie der größte Sieg. Ich denke immer noch gerne an das Turnier, in dem Arjuna siegte, und wie dann Karna als Fremder kommt, um ihn herauszufordern. Auf die Frage nach Namen und Geburt antwortet er : "Ich bin mein eigener Ahne. Du fragst auch nicht den gewaltigen Ganges, aus welcher der vielen Quellen er kommt; sein Fluten beglaubigt ihn. Mich sollen meine Taten ausweisen. "Und später, als vor der großen Schlacht ihm seine Mutter das Geheimnis seiner Geburt offenbart und ihm verspricht, wenn er vom Kampf mit ihren Söhnen - die er hier zum ersten Male als seine jüngeren Brüder erkennt - ablasse, werde sie dafür sorgen, daß er ihr Haupt werde und als Kaiser regiere, wehrt er ab. Nein! Meine wahre Mutter und mein wahrer Vater sind die beiden Alten, die mich aufzogen, obwohl sie arm waren. Und mein ganzes Leben lang war Duryadhana, der König der Kauravas, mein Oberhaupt. Ich kann mich nicht jetzt auf die andere Seite schlagen. Aber das verspreche ich dir: ich will deine anderen Söhne, meine Brüder, nicht antasten, außer Arjuna, mit ihm muß ich bis zu Ende kämpfen. Und dann kam die Schlacht! Auf Arjuna zielt sein Pfeil, und beinahe hätte er ihn getroffen. Dessen Schutzgott erschütterte aber die Erde unter seinen Füßen, gerade als er den Pfeil entsandte. So fehlt er seinen Feind um Haaresbreite. Aber es war, ohne daß Karna es wußte, ein Zauberpfeil. Er kehrte in seine Hand zurück und sprach zu ihm: "Ich bin bestimmt, Arjuna zu töten. Mit meiner geflügelten Schärfe und deiner Zielsicherheit sind wir unbesiegbar. Schieße mich noch einmal ab!" Aber Karna warf ihn weg und sprach: "Ich will keinen Vorteil ausnützen. Ich kämpfe nur mit meiner eigenen Kraft." Und er nahm einen anderen Pfeil. Aber dieses Mal öffnete der unfreundliche Gott einen Erdspalt, in dem Karnas Wagenrad versank. Er sprang ab, um es wieder herauszuheben. Als er sich bückte, schlug ihn Arjuna mit seinem großen Schwerte nieder. Und so fiel er, weil er immer wieder sein Schicksal herausgefordert hatte.

Diese Helden verglich ich gerne mit meinem Vater, der beständig um die Hebung des Volkes kämpfte, aber nur mit so geringem Erfolg und so entschiedenem Versagen, daß die meisten ihn für unfähig hielten. All das bewirkte, daß ich äußere Erfolge immer geringer einschätzte. Wie nichtig sind sie doch, die sogenannten Siege der Welt. Um so höher begann ich Niederlagen zu bewerten und wahren Erfolg, der aus ihnen entsprungen. Auf diese Weise lernte ich mit den größten Geistern meiner Rasse fühlen. Jeder Nerv bebte vor Begeisterung für die Vergangenheit. Das ist ihre erhabenste Lehre : Nur der erringt wirkliche und geistige Vorteile und Siege, der ehrlich kämpft, der nie krumme Wege wählt, sondern gradaus geht, mögen die Hindernisse noch so groß sein. Ein andermal sägt er: "Ich halte es für dringend nötig, die großen Ueberlieferungen des indischen Heldenzeitalters durch umherziehende Jatraspieler und durch Vortrag der Epen lebendig zu erhalten. Sie sind es, die von jeher die höchste nationale Kultur im Volke genährt. Sie verschwinden schnell, und wir müssen entweder die alte Einrichtung wieder pflegen oder etwas Neues an ihre Stelle setzen. In der vergangenen Nacht dachte ich an Ihre Gesellschaft für Theaterwissenschaft in Edinburgh und London, wo unsere indischen Studenten unsere alten indischen Spiele aufführen. Warum sollen wir das nicht hierzulande ebenso tun: ganz Indien von den arischen Ahnen an umfassend, so daß alle Rassen und Kasten ihre Helden und Propheten darstellen ? Und ähnlich die Städte von den ersten Tagen des alten Pataliputra und des heiligen Benares an bis auf das Bombay von heute. Und das Volk ebenso von den primitiven Urzeiten an bis zum modernsten Bengalen und Kalkutta mit allen Dichtern, Künstlern, Denkern. Warum sollte das unmöglich sein ? Man sollte es versuchen. Dann und nur dann werden wir das echte Indien ganz verstehen, wo alle Völker mit den verschiedensten Ueberlieferungen eins würden aus dem Geiste ihres Landes, und wo scheinbar gegensätzliche Teile vereint Eigenart und Kraft bedeuten können. Sie haben Indien immer neue Verjüngungsund Entfaltungskraft geschenkt. Sie werden es vor der tödlichen Lähmung bewahren, die schon so manche gleich alte Völker zum Erlöschen gebracht hat."

Kehren wir von diesem Ausblick zurück in die Kinderzeit Jagadis. Mit neun Jahren hatte er die Grundlage der nationalen Erziehung gewonnen, auf der sein Vater klug bestanden hatte. Nun konnte dieser ihn ruhig in eine höhere englische Schule gehen lassen. Eben um diese Zeit war Vater Bose als Assistant Commissioner nach Burdwan versetzt worden. So kam Jagadis, nachdem er drei Monate die Hare-Schule in Kalkutta besucht hatte, in die noch ausgesprochener englische St. Xavier Anstalt, wo man gerade damals die besten Ergebnisse der Jesuitenerziehung zu verwerten begann. Die eigentliche innere Erziehung allerdings überließ man weitgehend den Knaben selbst und äußeren Einflüssen, was natürlich auch seine bedenklichen Schattenseiten, hatte. Die Schule wurde fast ausschließlich von englischen Knaben besucht, die nur ganz wenig Bengali verstanden und nicht das, beste. So kam der kleine Jagadis in eine recht verwickelte Lage: er brachte nur einige Anfangsgründe im Englischen mit, eben genug, um Satz für Satz zu enträtseln, aber nicht so viel, daß er hätte wirklich lesen oder gar sprechen können. Ueberdies waren die anderen Knaben alle in der Großstadt aufgewachsen, der Neuling aber ein richtiges Landkind, das bisher die Stadt überhaupt nicht gekannt hatte. Die vertraute Welt lag weit hinter ihm und war hier nichts wert, höchstens eine schöne Erinnerung. Auf die üblichen Neckereien und Quälereien, die ein neuer Schüler so oft erdulden muß, folgte der unausweichliche Kampf. In diesem Falle, wie es sich für eine richtige Jugendgeschichte gehört, mit einem wesentlich größeren Mitschüler, dem Klassenführer, um nicht zu sagen -riesen, der schon oft seine Fäuste erprobt hatte, während der kleine Jagadis sie noch nicht einmal geballt hatte. Schwer verprügelt, mit blutender Nase, flammenden und tränenden Augen schien er unterlegen und der Kampf beendet zu sein. Aber da kam plötzlich eine kriegerische Begeisterung, vielleicht in Erinnerung an die Helden der Vorzeit, über ihn. Jedenfalls überraschte der wütende Angriff die ändern. Er schlug den Gegner nieder, daß er fast betäubt war und auf Anruf weder aufstehen wollte noch konnte. So wurde der Junge als Sieger bejubelt. Er hatte sich das volle Bürgerrecht erworben. Eine rechte Kameradschaft wurde es freilich nicht, denn die Herkunft aus Stadt und Land, Ostbengalen und England, blieb eben doch zu verschieden. Ein weiterer Nachteil für Jagadis war es, daß er in einem Heim untergebracht war, dessen übrige Bewohner nicht mehr Schüler, sondern bereits Studenten verschiedener Colleges waren und die sich wenig oder gar nicht um den kleinen Knirps kümmerten, dessen Welt ihnen auch allzu fern lag. Wenn er sich auch von den Spielen der Schulkameraden nicht ganz ausschloß, gab es für ihn doch nichts Anziehenderes als die Liebhabereien seiner Kinderzeit wieder zu pflegen. Von seinem Taschengeld erstand er seine Tierlieblinge, in seiner Freizeit sorgte er für ihre Hausung und Wartung. In einem Winkel des Grundstücks legte er auch einen kleinen Garten an. Die Wasserversorgung bereitete ihm viel Kopfzerbrechen: er brachte Röhren an, die sich zu verschaffen er irgendwie verstanden hatte. Er machte einen kleinen Fluß, über den eine Brücke führte, offenbar eine Erinnerung an zuhause. Es dürfte dem Leser wissenswert sein, daß Bose in seinem Garten zu Darjeeling diese Röhren- und Flußanlage wiederholte, und daß sich auch in dem kleinen Garten seines Hauses zu Kalkutta, unmittelbar beim Bose-Institut, Fluß, Brücke und alles andere wiederfindet. Tatsächlich vermag der Verfasser als sorgfältiger Berichterstatter, der zugleich kritische Erläuterung geben möchte, nur in diesen Liebhabereien der ersten Kinderzeit die Erklärung für ein sonst unverständliches starkes, ja leidenschaftliches Verlangen nach Strom und Brücke finden, die im .letzten Jahr bei der neuesten Verbreiterung des Gartens beim Bose-Institut wieder zutage trat. Als der Verfasser gemeinsam mit dem Architekten darauf hinwies, wie unzweckmäßig das sei, verzichtete er zunächst darauf. Aber wir müssen annehmen, der reife Mann, Direktor des Bose-Instituts, wurde von seinem innersten, unterbewußten Selbst gezwungen, sie trotz all unserer Einwände anzulegen. Denn der Knabe ist nicht einfach der Vater des Mannes. Der Knabe ist der Mann.

So zählten die Halbjahrsferien, die das Kind in Burdwan und später in Cutwa verbrachte, zu den schönsten Erinnerungen des Mannes und auch zu seinen wertvollsten Erlebnissen, die viel zu seiner Bildung beigetragen. Wenn er von der Schule heimkam mit all seinen neuen Tierlieblingen, Kaninchen, Tauben, einem langgeschwänzten Lamme und ändern, hatte er reichlich zu tun, für sie Wohnung zu schaffen, wobei ihm die Schwestern voller Bewunderung und Mitfreude gerne halfen. Zuhause hatte er auch immer ein Reitpferd, das man ihm getreulich pflegte. Und des Vaters Weisheit, die Liebe der Mutter, die Güte und Frömmigkeit der Großmutter ließen all die anderen Erinnerungen wieder aufleben und befruchteten weitere Entfaltung.

II. STUDENTENZEIT IN KALKUTTA UND ENGLAND

Mit sechzehn Jahren trat Jagadis von der Schule in das St. Xaviers College über und dort geriet er, während er seine Tagesarbeit mehr oder weniger ordentlich und gründlich, indes doch ohne besondere Begeisterung oder Auszeichnung verrichtete, unter den Einfluß eines Mannes, durch den er sich der Physik zuwandte, obwohl seine Vorliebe doch eigentlich der Naturgeschichte galt. Alle Schüler des Pater Lafont, des damaligen Physikprofessors im genannten College, erinnern sich noch lebhaft seines Unterrichts und seines wahrhaft bildenden Einflusses. Dank der Fülle von Versuchen, die er so lebendig und klar zu erklären verstand, waren seine Stunden die anziehendsten im ganzen College. Der junge Jagadis schätzte seine geduldige Geschicklichkeit, seine peinliche Sorgfalt und sein glänzendes Experimentieren über alles. Hier wurde der Grund gelegt für jene Verbindung von geistiger Klarheit mit unerschöpflicher Findigkeit für das Experiment, durch die er später seinen alten Lehrer weit übertraf und ihm gerade dadurch Ehre machte.

Aber er sah damals, wie das in der Jugend meistens der Fall ist, seinen künftigen Lebensweg durchaus noch nicht klar vor sich, weil das Denken noch in Gärung begriffen ist und Ehrgeiz das Wollen verwirrt. Als er die Prüfungen bestanden hatte - und zwar nicht ohne Auszeichnung - war sein erster Gedanke nach Erlangung des Bakkalaureats zur weiteren Ausbildung nach England zu gehen. Gerade um diese Zeit waren, wie ich schon im vorigen Abschnitt andeutete, Vater Boses Pläne und Unternehmungen nicht nur zum größten Teil fehlgeschlagen, sondern hatten ihren Schöpfer in Schulden gestürzt, deren hohe Verzinsung alles verschlang, was er einsparen und erübrigen konnte. Jagadis sah als seine erste unzweifelhafte Pflicht ein, dem Vater diese Last abzunehmen und selbst zu verdienen, um die Schuld abzutragen. Am meisten Aussicht dafür bestand, wenn er eine Anstellung im indischen Zivildienst bekam. Aber sein Vater erlaubte es ihm nicht, obwohl er selbst mit Erfolg, ja mit Auszeichnung im Dienste der Regierung gearbeitet hatte. Er empfand es zu tief, wie fern und hoch ein Beamter über den Schicksalen und Kämpfen des Volkes steht. Er wollte nicht, daß sein eigener Sohn die gleiche Erfahrung noch einmal mache. Er sollte in nähere Beziehungen zu seinen Landsleute.n treten. Er hätte es gern gesehen, wenn er Gelehrter geworden wäre, oder seine wissenschaftlichen Fähigkeiten und Erfahrungen zur Förderung der indischen Landwirtschaft verwertet hätte.

Der junge Bose wandte sich nun der Medizin zu, dem wahrscheinlich einzigen Beruf, der ihm soviel einbringen konnte, daß er nachher die Laufbahn eines Naturwissenschafters einschlagen konnte. Denn er hoffte immer noch, auf einer englischen Universität Naturwissenschaft studieren zu können. Er dachte an London. Aber man mußte mit den großen Kosten eines Aufenthalts in England rechnen. Gerade damals war der Vater mit Gehaltsabzug für zwei Jahre zur Erholung beurlaubt. Und es war ganz ungewiß, ob seine Gesundheit ihm die Rückkehr mit vollem Gehalt in das Amt gestatten würde. In so unsicheren Zeiten war es natürlich für Jagadis nicht empfehlenswert, das kostspielige Studium in England zu beginnen.

Die ganze Sache wurde noch verwickelter, weil die Mutter die Trennung so sehr fürchtete - für einen liebevollen Sohn natürlich der ernsthafteste Hinderungsgrund! - Sie fürchtete nicht nur die unbekannte fremde Welt Europas, nach der sich ihres Sohnes Herz sehnte, sondern auch das Meer.

Hatte sie doch ihren zweiten Sohn im Alter von zehn Jahren verloren, als Jagadis siebzehn war. Sie trauerte sehr lange und tief um ihn. Nun galt die höchste Hoffnung und die rührendste Fürsorge, deren eine indische Mutter überhaupt fähig ist, dem einzigen ihr verbliebenen Sohn. Und es bedeutete für sie eine doppelte Erschütterung der Nerven, als sie nach dem Verlust des zweiten Sohnes durch die Pläne des ersten von neuem beunruhigt wurde. Indessen verfolgte das Mißgeschick den Vater immer stärker. So hielt man einen Familienrat ab und beschloß aus all diesen Gründen, Jagadis solle nicht reisen. Er selber war, zu seiner Ehre sei es gesagt, nach langen inneren Kämpfen zu demselben Entschlüsse gekommen. Er gab unumwunden zu, daß unter den augenblicklichen Verhältnissen weiteres Drängen selbstsüchtig wäre. Kurz und gut, er gab seine Pläne auf und versprach, zu versuchen, was sich in Indien machen ließe.

Aber als man glaubte, alles sei erledigt, offenbarte sich die Charakterstärke der Mutter erst in ihrer ganzen Größe. Sie überdachte noch einmal die Angelegenheit und überwand ihre Aengste, die rein nervöser Art waren. Sie kam eines Abends an Jagadis' Bett, nahm seinen Kopf in ihren Schoß, als sei er noch der kleine Junge, und sagte : "Mein Sohn, ich kann nicht recht verstehen, warum man nach Europa gehen muß, aber ich sehe, es ist dein höchster Wunsch, dich so gut wie möglich weiter auszubilden. Und so habe ich es mir noch einmal überlegt. Dein Wunsch soll dir erfüllt werden. Wenn uns auch von deines Vaters Vermögen nichts mehr geblieben ist, habe ich doch noch meinen Schmuck. Ich besitze auch noch etwas eigenes Geld. Damit kann ich es bestreiten. Du sollst gehen."

Diesem Beschluß der Mutter widersprach natürlich kein Familienrat mehr. Auch das Zögern des Vaters wurde dadurch überwunden. Er hatte auch nur den Eintritt in den Regierungsdienst und das Studium der Rechte verboten. Den Gedanken, daß sein begabter Sohn Medizin studieren solle, begrüßte er lebhaft, denn an eine Wissenschaft als Lebensberuf dachte damals noch niemand. Da sich auch sein Gesundheitszustand besserte, konnte er seinen Dienst wieder aufnehmen (in Pabna). Das bedeutete eine Vermehrung der Einnahmen. Der Schmuck wurde nicht verkauft und die Mutter konnte überredet werden, ihr Geld bis zur Rückkehr ihres Sohnes aus Europa aufzuheben. Selbstverständlich lebte die Familie von nun an wesentlich sparsamer. Das Studium des Sohnes kostete viel und es galt, die Lasten des Vaters zu verringern.

Um die wechselnden Schicksale unseres Studenten genauer verfolgen zu können, müssen wir seinen Bildungsgang und seine Umgebung genau erforschen und dazu die weniger zutage liegenden Einflüsse, die auch an seiner Vorbereitung für das Leben mitwirkten. Die Liebe zur Natur, zu Tieren, Pferden entwickelt sich bei jungen Leuten oft zu Freude am Sport und an Abenteuern in der Wildnis. Als er in die kraftstrotzenden Jünglingsjahre gekommen, war in ihm der Wagemut erwacht. Er hatte sich auch gefährlichen Situationen ausgesetzt, wenn sich, was mehr als einmal vorkam, Gelegenheit bot. So ritt er einmal, als er noch nicht fünfzehn Jahre alt war, durch einen Fluß. Die Flut hatte die Furt tief ausgewaschen, das Pferd versank in den Untiefen und überstürzte sich unter Wasser, so daß der Reiter versuchen mußte, aus den Bügeln zu kommen. Er tauchte unter dem wild um sich schlagenden Tier empor und brachte das Pferd mit an Land.

Dieses vorzügliche Pferd duldete später keinen anderen Reiter, auch nicht Boses Vater, so daß es die ganze Zeit, während Jagadis in Kalkutta war, müßig im Stalle stand. Sein Wärter, heute ein alter Rajput Sepoy, lehrte den Knaben schießen. Fortan ging man so oft wie möglich auf die Jagd. Der Höhepunkt der Ferien war für den Neunzehnjährigen ein vierwöchiger Aufenthalt in der Tarai, wo er zum ersten Male Hochwild jagte und die tiefsten Eindrücke von Dschungeln und Wald empfing. Sechs Monate später bekam er eine verlockende Einladung zu einem Jagdausflug nach Assam von einem freundlichen Zamindar1 , einem berühmten Schützen und hervorragenden Jäger. In seinem Wald gab es nicht nur Wilde Büffel, sondern auch Rhinozerosse. Als Jagadis eines Abends an der nahegelegenen Eisenbahnhaltestelle eintraf, erwartete ihn ein Tragsessel für eine nächtliche Reise von einundzwanzig Meilen. Dann war er einen ganzen Tag auf der Jagd, am Abend aber hatte er einen beunruhigend schweren Fieberanfall. Man hielt es für das Beste, wenn er heimkehrte, bevor es noch schlimmer würde. Da er möglichst schnell abreisen wollte und der Tragsessel gerade nicht zu haben war, fragte er: "Können Sie mir nicht ein Pferd leihen?" - "Es käme nur ein Pferd in Frage, und das ist zu gefährlich für Sie, ein glänzender Renner, aber ein heimtückisches Vieh, voller Bosheiten, das seinen letzten Reiter beinahe ums Leben gebracht hätte. Seitdem ist es nicht mehr geritten worden." - "Lassen Sie es mich einmal sehen!" Das Pferd kam aus dem Stalle, aber als er zu ihm hingehen wollte, stieg. es hoch und wollte ihn schlagen und beißen. Er wich dem Angriff aus und sprang dem Pferd auf den Rücken, worauf das wütende Tier sofort mit ihm davonschoß. Es blieb ihm keine Zeit mehr, sich zu verabschieden oder für den Ritt geziemend herzurichten. Hals über Kopf mußte er losgaloppieren, ohne noch einmal anhalten zu können. Unterwegs kam er an einen Fluß, den er im Tragsessel schlafend überquert hatte. Die Straße lief offenbar auf die Brücke zu, kurz vorher 'aber zweigte ein Pfad seitwärts ab. Mit der feinen Witterung des Jägers lenkte er schnell das Pferd dahin und schon im nächsten Augenblick sah er, wie gut er daran getan hatte, die Brücke zu vermeiden: die Flut hatte sie unterbrochen. Roß und Reiter wären in das Wasser gestürzt, wenn er nicht den anderen Weg gewählt hätte. Gleich darauf führte der Pfad zu einem leichten Bambussteg, den man vorübergehend als Ersatz für die unterbrochene Brücke gebaut hatte. Mit ein paar Sprüngen war das wildgewordene Tier drüben. Fast wäre der Steg in Trümmer gegangen. Erst nach vierzehn Meilen hatte sich das Tier ausgegeben und ging die letzten sieben Meilen ruhig. Der Fieberkranke war noch mehr erschöpft, als er den Zug zur langen Reise nach Kalkutta bestieg. Das Fieber trotzte allem Chinin und anderen Mitteln und kehrte oft und heftig wieder, so daß Jagadis die Aufnahmeprüfung zur Universität nur unter großen Schwierigkeiten ablegen konnte. Und auch in den kurzen Ferien, die er im Elternhause verbrachte, bevor er nach England abreiste, war es ihm nicht möglich, sich völlig zu erholen.

Auf See wurde das Fieber nicht besser, sondern schlimmer. Als er eines Tages einen besonders starken Anfall hatte und zum Arzt gehen wollte, brach er an dessen Türe zusammen. Alle Behandlung und Pflege halfen nichts, genau wie in Kalkutta. Und der Kranke erlauschte zufällig, wie die Reisenden sagten: "Der arme Junge wird England nicht lebendig erreichen." Nur eine einzige angenehme Erinnerung hat er an die lange Reise: auf der Eisenbahnfahrt von- Southampton redeten ihn zwei Damen freundlich an und gaben ihm ihre illustrierten Blätter. Da dämmerte in ihm wieder etwas wie Leben und Freude auf und sein müdes Herz schlug ein wenig lebhafter.

Nach seiner Ankunft in London verhalf ihm sein Maturitätszeugnis zur Immatrikulation und dann begannen für ihn die üblichen ersten zwei Semester des jungen Mediziners: Physik und Chemie boten ungefähr das, was er schon vorher getrieben hatte, Ray Lankesters zoologisches Praktikum aber war für ihn völlig neu und deshalb besonders fesselnd. Denn noch heute schließt die Universität Kalkutta die zoologische Wissenschaft vom Lehrplan aus. Die Botanik im Sommersemester war der Zoologie ebenbürtig, so daß er das wissenschaftliche Vorexamen ohne Schwierigkeiten bestehen konnte. Im dritten Semester begann mit Anatomie das erste Jahr medizinischer Studien im engeren Sinn. Aber das Fieber war noch so schlimm wie je, es kehrte sogar noch häufiger wieder. Durch den Geruch im Seziersaal wurde es ganz besonders gesteigert. Deshalb riet der Anatom dem jungen Bose, sein Medizinstudium aufzugeben. Dr. Ringer, damals der bedeutendste Arzt im Krankenhaus und zugleich einer der besten und liebenswürdigsten Professoren, hatte ihn schon wiederholt mit Arsen- und anderen Einspritzungen, aber immer erfolglos, behandelt und stimmte nun diesem Rat zu. Von neuem ratlos, beschloß Bose, London zu verlassen und in Cambridge Naturwissenschaft zu studieren. Wiederum bestimmte das Fieber seinen Weg, aber diesmal für das Leben. Zuerst ging es in verzweifelter Anstrengung dahin, soviel Latein zu lernen, als die Aufnahmeprüfung erforderte. Dabei wurde Sanskrit an Stelle von Griechisch zugelassen. Er bekam ein Stipendium für Naturwissenschaften im Christs College, wo er im Januar 1881 eintrat. Nun begann ein ganz anderes Leben, das ihm zwar mehr zusagte, aber seine Genesung nicht gerade beschleunigte. Denn diese alte Hauptstadt der Marschlande hat für einen Fieberkranken ungefähr das schlimmste Klima irr ganz England, ja überhaupt nördlich des Mittelmeeres. Der junge Bose lehnte alle Arzneien ab und pflegte das Rudern, so daß er täglich entsprechend schwitzte und ganz allgemein seinen Körper kräftigte. Aber das Fieber blieb und wurde einmal sogar so schlimm, daß die Leiter des Colleges dadurch sehr beunruhigt wurden. Als einmal sein Boot in den eisigen Wassern des Cam kenterte, gab es einen bösen Rückfall. Die Fieberanfälle kamen immer wieder, zuerst wöchentlich, dann alle vierzehn Tage. Und erst nach reichlich zwei Jahren fand er einigermaßen seine frühere Gesundheit wieder, so daß sich seine Arbeitslust frei entfalten konnte. Von da an scheint Bose gegen Malaria unempfindlich geworden zu sein. Aber sechs bis sieben Jahre litt er an Schlaflosigkeit, wobei nicht festgestellt ist, ob es sich um eine nervöse oder erworbene Schwäche handelte. Sobald er überarbeitet war, drohte sie immer mehr oder weniger ernstlich wiederzukehren.

Wenn man sich heute alle Krankheitserscheinungen, ähnliche zum größten Teil tödlich ausgegangene Fälle, die Gegend der Ansteckung und andere Einzelheiten vergegenwärtigt, wird es hochwahrscheinlich, daß diese Krankheit gar kein gewöhnliches Fieber war, sondern Kala-azar, auch heute noch eine gefährliche und immer wiederkehrende Seuche, die besonders in Assam auftritt. Allerdings hat man nun wirksame Heilmittel dafür und glücklicherweise noch mehr Vorbeugungsmittel.

Die erste Studentengesellschaft, mit der der Neuling in Fühlung kam, bestand aus recht lockeren Leuten. Boses Lehrer machte ihn sehr liebenswürdig darauf aufmerksam und riet ihm, als Fremder solchen Verkehr ein für allemal zu meiden. So lebte er denn scheu und zurückgezogen für sich. Als er aber im zweiten Jahr wieder kräftiger wurde, begann für ihn die heitere Geselligkeit der Mahlzeiten im Saal, überhaupt die Freude am Universitätsleben und seiner Kameradschaft. Ihm erschloß sich ein großer Kreis von Bekannten, er gewann auch einige Freunde. Ein naturwissenschaftlicher Verein, der Versammlungen mit Vorträgen und Aussprachen veranstaltete und viel fröhliche Geselligkeit ermöglichte, erweiterte seine Beziehungen über die Collegekreise hinaus. Wenn natürlich auch nach fast vierzig Jahren die meisten alten Beziehungen eingeschlafen oder vergessen sind, sind doch einige herzerfreuende Erinnerungen lebendig geblieben, besonders an Theodor Beck, den spätem Vorsteher des Aligarh College, und an D'Arcy Thompson, der inzwischen in Dundee und St. Andrews gewirkt hat. Auch Shipley (heute Rektor vom Christs College) steht bei Bose, obwohl er älter war als er, in gutem Andenken, und noch einige andere, die durch ihren Beruf nach allen Windrichtungen auseinander geführt wurden und die er zum größten Teil aus den Augen verlor. Zu seinen Freunden gehörte auch Fitzpatrick, der spätere Physiker und Vorsteher des Emmanuel College, sowie der Botaniker Reynolds Green.

Die ersten Sommerferien verbrachte er im allgemeinen angenehm auf der Insel Wight. Als er einmal zu waghalsig allein außerhalb der Shanklin-Bucht ruderte, packte ihn eine Bö und er mußte drei Stunden lang, in steter Gefahr zu kentern, mit letzter Kraft kämpfen, um das Land wieder zu erreichen. Danach stieg das Fieber wieder. Glücklicherweise wurde er von der Frau, bei der er wohnte, gut gepflegt. Im nächsten Sommer wanderte er ein paar Monate lang mit einigen Studenten durch die Hochlande. Besonders die Trossachs machten auf ihn einen unvergeßlichen Eindruck. Die letzten langen Ferien verbrachte er über seiner Doktorarbeit in Cambridge.

Als er seine Studien in Cambridge beendete, wußte Bose immer noch nicht, was er nun beginnen solle und wofür er sich besonders eigne. Er beschloß, die wissenschaftlichen Vorlesungen so vollständig wie nur möglich zu besuchen - "eine wahre Vorlesungsorgie" - und daneben im Laboratorium zu arbeiten. Der Erfolg war hervorragend. Er konnte auch wohl kaum bessere Lehrer finden als Francis Balfour in Embryologie, der damals auf der Höhe seiner Leistungen stand, und Michael Fester in Physiologie. Auch für Geologie hatte er viel übrig, angeregt durch Professor Hughes und dessen gastfreundliche Frau. Aber in der Mitte des zweiten Jahres begrenzte er sich zu planmäßiger Arbeit in Physik, Chemie und Botanik. Aus Professor Liveings Chemiekurs erinnert er sich besonders der Anregung zur Spektroskopie. Vines botanische Vorlesungen und Laboratoriumsarbeiten schätzte er gleichfalls sehr. Vor seinem Abgang hörte er auch noch Francis Darwins erste Vorlesung über Pflanzen-Physiologie. Aber am meisten und ausschlaggebend beeinflußten den künftigen Physiker die Arbeiten Lord Rayleighs. Sie machten einen tiefen Eindruck auf ihn, den er sein ganzes Leben lang nicht vergaß. Er verstand es, mit bewundernswerter Geduld und Sorgfalt zu experimentieren, mit der peinlichsten Genauigkeit wurde jede Störungsmöglichkeit eingerechnet oder ausgeschaltet und alles entsprechend klar und sorgfältig erläutert. Nach Pater Lafonts glänzenden und aufschlußreichen Experimenten und seiner ausgezeichneten Einführung in die Wissenschaften bedeutete diese Schulung in unverdrossener Genauigkeit, ohne die man schwierige, umfassende Fragen nicht behandeln und keine Entdek-kungen machen kann, eine notwendige Ergänzung für den fortgeschrittenen Studenten. Und obgleich seine eigenen schöpferischen Kräfte noch nicht zutage traten, waren die Lehrer von seinen Arbeiten befriedigt. Das beweist einmal sein Cambridger Examen in Naturwissenschaften und dann sein wissenschaftliches Bakkalaureat, das er gleichzeitig und ohne weitere Vorarbeiten in London erwarb. Als er später mit Ergebnissen seiner Forschungen hervortrat, wurden die freundschaftlichen Beziehungen zu diesen Lehrern immer enger und trugen ihm manche Aufmunterung ein. Von seinen alten Lehrern haben Lord Rayleigh und Prof. Vines die lange Reihe seiner physikalischen und pflanzenphysiologischen Forschungen mit Wort und Tat anerkannt und sowohl vor der Royal wie vor der Linne Society vertreten. Die herzlichen Beziehungen zu Francis Darwin pflegte er sehr, und immer wieder einmal wird eine andere alte Bekanntschaft aufgefrischt.

III. FRÜHE KÄMPFE

Mit drei akademischen Graden ausgestattet (zu London und Cambridge kam noch der von Kalkutta), glaubte der junge Bose die Zeit gekommen, nach Indien heimzukehren, wohin ihn nicht nur Familienbande und Heimweh, sondern gesteigerte Familiensorgen schon lange zogen. Vier Jahre sind eine lange Zeit, vor allem in der Jugend. Und jetzt ist der nahezu Fünfundzwanzigjährige ein fast erwachsener Mann, bereit und begierig, einen Beruf zu ergreifen. Er hatte Glück: der Volkswirtschafter Professor Fawcett, damals englischer Generalpostmeister, der von früher her mit Boses wesentlich älterem Schwager bekannt war, schrieb ihm eines Tages spontan, er solle ihn doch einmal besuchen. Fawcett fragte infolge dieses Besuches seinen Amtsgenossen, den damaligen Staatssekretär für Indien, Lord Kimberley, ob er Bose nicht eine Anstellung im englischen Unterrichtsministerium verschaffen könne. Doch bestand keine Aussicht. So riet er ihm denn, nach Indien zurückzukehren und sich dort umzusehen und gab ihm einen Empfehlungsbrief an den damaligen Generalgouverneur, Lord Ripon. Bose überreichte das Schreiben auf der Heimreise in Simla. Er wurde auf das Liebenswürdigste empfangen. Der Vizekönig versprach ihm eine Stelle im Schuldienst. Im Laufe des Gespräches brach der Generalgouverneur unvermittelt in den Ruf der Enttäuschung aus: "Meine Arbeit hier im Lande war erfolglos. Ich wollte Indien dienen und die Inder viel mehr zu verantwortlichen Posten heranziehen. Dann aber kam diese unglückselige Ilbertgeschichte. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß die Engländer ihre liberalen Ueberlieferungen in diesem Maße verleugnen könnten."

Als Bose in Kalkutta eintraf, suchte er den Leiter des öffentlichen Bildungswesens auf, der durch die Regierung bereits ein Schreiben Lord Ripons erhalten hatte, worin Bose für eine Stelle empfohlen wurde. Der Direktor war durchaus nicht sehr erbaut davon und platzte heraus: "Gewöhnlich kommt man von unten, nicht von oben an mich heran. In den kaiserlichen Lehranstalten ist augenblicklich keine Stelle frei, ich kann Sie nur in der Provinz unterbringen. Sie können später befördert werden." Darauf verzichtete Bose. Als der Vizekönig in der Zeitung nichts von einer Anstellung Boses las, erkundigte er sich brieflich bei der Regierung Bengalens nach dem Grund der Verzögerung. Dieser Druck von oben ärgerte den Direktor sehr. Er forderte Bose auf, sich bei ihm einzufinden und erklärte ihm: da ein Zwang auf ihn ausgeübt worden sei, wolle er ihm eine Anstellung im höheren Schulwesen anbieten, doch handle es sich nur um eine Vertretung, die kein Anrecht auf Daueranstellung gebe. Wenn Bose seine Obliegenheiten zur Zufriedenheit der Behörde versehe, wolle er weiter erwägen, ob eine ständige Anstellung möglich sei.

Man hegte also ernstliche Zweifel, nicht zu sagen Vorurteile: ob ein Inder in der Wissenschaft wirklich Bedeutendes leisten könne. Scharfes Denken in der Metaphysik und Sprachen hatte man ihnen immer zugestanden, war aber der Ansicht, den Indern fehle die Eignung für die genauen Arbeitsweisen der Wissenschaft, darum müsse sich Indien seine wissenschaftlichen Lehrer aus Europa holen. Die Regierung ging stets von dieser Einstellung aus, die das Unterrichtsministerium so weitgehend teilte, daß der Vorsteher, als Bose zum stellvertretenden Physikprofessor im Presidency College ernannt wurde, aus den oben erwähnten Gründen gegen die Anstellung Einspruch erhob.

Damit beginnt ein Abschnitt in Boses Leben, für dessen Schilderung der Verfasser sich rückhaltlos entschlossen hat, sich durch das Stillschweigen seines Helden die Freiheit der Darstellung in keiner Weise beschränken zu lassen, mag jener auch gern Vergangenes vergangen und begraben sein lassen. Der Verfasser aber hat mehr als persönliches Interesse an seinem Gegenstand, dessen Darstellung er einzig und allein aus sachlichen Gründen unternommen hat, um Boses Lebens werk, seine Stellung im Unterrichtswesen und seine Bedeutung als Vermittler zwischen östlicher und westlicher Kultur und Geisteswelt zu würdigen. Aus diesen Gründen und in diesem Geiste müssen Schwierigkeiten von einst, die in anderer Hinsicht als allzu polemisch beurteilt werden mögen, erwähnt und offen erörtert werden.

Damit die unmittelbar gegebene. Lage und was daraus folgte verständlich wird, darf der Verfasser wohl feststellen, daß er ganz auf eigene Verantwortung schreibt, zumal er fünf Jahre lang Gelegenheit hatte, die betreffenden indischen Verhältnisse kennenzulernen. Zunächst einmal muß der nichtindische Leser wissen, daß zwar die Stellen im indischen Staatsdienst jedem Inder offenstehen, der durch eine Prüfung seine Eignung dafür nachgewiesen hat, und daß er danach in Rang und Gehalt seinen englischen Amtsgenossen durchaus gleichgestellt ist, daß aber die Stellen im höheren Unterrichtswesen nur durch Ernennung besetzt werden, kraft derer bisher noch nie oder doch nur außerordentlich selten ein Inder berufen worden war, auch wenn er noch so glänzende Zeugnisse aus Europa mitgebracht hatte. Im allgemeinen kamen die indischen Professoren trotz gleicher Amtspflichten und Verantwortung nur für einen viel geringer bezahlten "Dienst in der Provinz" in Betracht. Formell können zwar alle hervorragenden Professoren der Provinz in eine höhere Klasse befördert werden, aber es kommt nur äußerst selten vor. Das geht so weit, daß nicht einmal der Chemiker, der heute in seinem Fache, wie Bose in der Physik, der führende Mann in Indien ist, wirklich auf die entsprechende Stelle befördert wurde, trotzdem er bei seiner Rückkehr nach Indien nachweisen konnte, daß er mit Auszeichnung zum Doktor der Chemie promoviert hatte, trotzdem er seitdem alle Erwartungen . reichlich erfüllte und im Presidency College Anstellung fand. Er unterrichtet und prüft seit Jahren ohne europäische Kollegen und seine Entdeckungen sind auch in Europa anerkannt worden. Der Verfasser ist überzeugt, daß es nicht zuletzt diesem unglückseligen System zuzuschreiben ist, wenn die geringere Höhe der einzelnen Durchschnittsleistung und des schöpferischen Gesamtertrags, verglichen mit anderen Universitäten der Welt, ihn, am meisten von allem, was er in Indien sah, überraschen und enttäuschen mußte. In den Behörden, vor den Schranken des Gerichts müssen Europäer und Inder zusammenarbeiten und tun es auch. An der Universität aber und an den Colleges, wo einheitliches Zusammenarbeiten selbstverständliche Voraussetzung ist und viel leichter erreichbar sein sollte, sind sie tatsächlich nach der Rasse in zwei verschiedene Lager getrennt. Das macht die einen nicht besser und bedrückt die anderen. Wenn man die höhere Bildung in Indien und damit das tätige Geistesleben entsprechend entwickeln will, muß das System nicht nur seiner Wirkungsweise nach aufgegeben, sondern auch in seinem Geist geändert werden. Ein sehr wesentlicher Anlaß für den Verfasser, diese Biographie zu schreiben, war tatsächlich - nun ganz abgesehen von dem Großen, was Bose zur Förderung der Wissenschaft leistete - das Bestreben, die äußeren und inneren Maßstäbe für die Eignung eines Professors ein für allemal von der Ebene der Rassenunterschiede auf eine andere und höhere zu heben. Eben als dieser Abschnitt abgeschlossen wurde, erfuhr der Verfasser zu seiner großen Befriedigung, daß diese häßliche Unterscheidung offiziell abgeschafft worden ist, wie jüngst vor der Indian Service Commission festgestellt wurde. Wir verdanken diesen Fortschritt zum größten Teil dem Lebenswerk Boses, nicht nur dem Wissenschafter, sondern auch dem Lehrer, der furchtlos diese und andere notwendigen Verbesserungen im höheren Bildungswesen förderte.

Kehren wir zu Bose zurück. Junge Lehrer sandte man zunächst in die Provinz. Wenn sie dort in einem College Erfahrungen gesammelt und sich bewährt hatten, wurden sie an das Presidency College versetzt, das seit langem als erste Bildungsstätte Indiens galt. Die Studenten waren alles andere als umgänglich. Sie standen der Lehrfähigkeit ihrer Professoren sehr kritisch gegenüber. Auch waren sie in den Ruf eines Unabhängigkeitsdranges gekommen, der nur zu schnell für Zuchtlosigkeit angesehen wurde, wodurch sie sich manchmal tatsächlich dazu getrieben sahen. Und so war es, kurz bevor Bose die Stelle antrat, zwischen zwei englischen Professoren und ihren Studenten zu einem unglückseligen Streit gekommen, der so weit führte, daß die Regierung einen Untersuchungsausschuß einsetzen mußte. Die Stimmung war sehr erregt und man konnte sich kaum einen schwierigeren Versuch denken, als diese wilden Geister in Zucht und Schach zu halten. Die Verhältnisse, denen sich Bose bei Beginn seiner Lehrtätigkeit gegenübersah, hätten auch den entschlossensten Menschen schrecken können.

Als Bose seine Stelle antrat, betrug das Einkommen eines Inders auch im englischen Dienst zwei Drittel von dem eines Europäers. (Es gelang Bose später, diese Unterscheidung zu beseitigen.) Bald genug mußte er erfahren, daß er auch von diesen zwei Dritteln nur die Hälfte bekam, weil er nur vertretungsweise angestellt war, mit anderen Worten, nur ein Drittel der mit dieser Stelle verbundenen Bezüge. Von Anfang an war er sich über seinen Weg klar. Er wollte alles tun, was man nur irgend von ihm erwarten konnte, ja noch mehr. Aber zugleich beschloß er bei sich, solange er im Amte sei, mit aller Kraft für Besserung der Lage des indischen Professors einzutreten. Persönlichen Stolz mit Treue gegen seine Landsleute und Amtsgenossen verbindend, entschloß er sich zu einer neuen Art von Kampf, bei der er in noch nie dagewesener Entschiedenheit und Zähigkeit beharrte. Da sein Anspruch nicht beachtet wurde, weigerte er sich, den Scheck, mit dem man ihm sein Monatsgehalt anwies, zu berühren. Das führte er drei Jahre lang durch, unter welchen Entbehrungen, brauche ich hier nicht zu schildern, muß aber mit einem ehrenden Wort seiner Frau gedenken, die tapfer mit ihm durchhielt.

Bose stand noch vor anderen Schwierigkeiten. Das Vermögen der Familie war gerade jetzt völlig verbraucht. Einige der zahlreichen Unternehmen, die sein Vater in das Leben gerufen hatte, waren von Anbeginn sehr erfolgreich. Es sei nur die Volksbank genannt, die Vorläuferin der späteren Co-operative Society. Da er ihr eigentlicher Gründer war, hatte er viele Anteile übernommen. Diese Bankanteile stiegen in wenigen Jahren sehr hoch. Die Bank ist heute eine der erfolgreichsten Unternehmungen ihrer Art. Hätte er diese Anteile behalten, so wäre für ihn und seine Familie gesorgt gewesen. Aber er gab sie, immer zu seinem Nachteil, großmütig an Aermere ab. Dagegen lag die ganze Last anderer industrieller und landwirtschaftlicher Unternehmungen, die nicht sofort gewinnbringend waren, allein auf ihm. Außerdem leistetete er noch Bürgschaft für andere, die ähnliche Unternehmungen begonnen hatten. Zuletzt mußte Herr Bose für sie einstehen. So wurde dem jungen Bose die Notwendigkeit immer klarer, da er unter Einsatz aller seiner geistigen und wirtschaftlichen Möglichkeiten seinen Vater von der schweren Schuldenlast befreien müsse. Er nahm die Dinge persönlich in die Hand, ging geradewegs in die Heimat seiner Familie und schlug den ganzen Familienbesitz los. Nur ein Inder kann verstehen, welch ein Schlag das für eine Familie ist, ihren uralten Besitz zu verkaufen, der geweiht ist durch die Erinnerung an die Vorfahren, denn in Indien ist dieses Empfinden nicht nur dem Adel, sondern jedem einzelnen eigen. Alle Verwandten kamen, um ihn von dieser Demütigung abzubringen, aber Boses Entschluß war, unerschütterlich. Aller Grundbesitz wurde verkauft und der Erlös den Gläubigern gegeben. Dadurch wurde die Hälfte der Schuld abgetragen. Bose wandte sich nun an seine Mutter. Im Gesetz der Hindus ist das Eigentum der Frau unantastbar, und der Gatte oder seine Gläubiger können es ihr unter keinen Umständen entziehen. Frau Bose hatte ihr Vermögen für den Sohn aufgehoben; als dieser nun erklärte, daß er auch ohne Vermögen unverzagt in die Zukunft blicke, zeigte sich die Mutter ihm an Opfersinn ebenbürtig und gestattete, daß auch ihr persönliches Eigentum verkauft wurde. Nun waren drei Viertel des Kapitals und der aufgelaufenen Zinsen getilgt. Die Gläubiger waren von dieser Entschlossenheit einer Familie, das Aeußerste zu tun, auf das tiefste ergriffen und erklärten sich zufriedengestellt: Sie nahmen die unerwarteten Zahlungen als volle Abfindung. Der junge Bose freilich war anderer Ansicht, behielt sie jedoch für sich. Neun lange Jahre kämpfte er schwer, bis aus seinen eigenen Einnahmen der Rest der Schuld, auf den die Gläubiger verzichtet hatten, bei Heller und Pfennig abgetragen war.

Im Presidency College, wo seine Befähigung als Lehrer und Erzieher erprobt werden sollte, gelang es Bose vom ersten Tag an die Studenten für sich zu gewinnen. Der bekannte Brauch, täglich die Namen aufzurufen, um den regelmäßigen Besuch des Unterrichts zu erzwingen, erwies sich bald als überflüssig. Die Studenten waren von seinen Vorlesungen so begeistert, daß man um die vordersten Plätze kämpfte, um die Experimente ja genau verfolgen zu können. Die bisher zum Pauken gebrauchten Hilfsbücher wurden bald als überflüssig weggelegt. Seine früheren Schüler, auch die, die später einen anderen Beruf wählten, erinnern sich, wie der Verfasser bezeugen kann, immer noch mit Freude an den unvergeßlichen Eindruck, den ihnen seine unmittelbare und lebendige Lehrweise machte.

Drei Jahre dieser Tätigkeit hatten ihm sowohl die Zuneigung des Vorstehers, Herrn C. H. Tawney, als auch des Direktors des öffentlichen Bildungswesens (Sir Alfred Croft) gewonnen, die nun seine Leistung und seinen Charakter voll zu würdigen gelernt hatten. Sie wurden fortan seine zuverlässigsten Freunde. Der Direktor hatte erfahren, daß Bose unbeugsam sein konnte, wenn es um grundsätzliche Fragen ging. Und Bose war sich immer mehr darüber klar geworden, daß man mit einem Engländer am besten fertig wird, wenn man es mit ihm aufnimmt. Selbst der frühere Gegner kann, wenn ihm ein Inder entschieden gegenübertritt, zu einem guten Freund werden, ja noch mehr, sich in seinen ganzen Vorstellungen über die Inder und in seinem Benehmen gegen sie beeinflussen lassen. Das ist sehr bedeutsam. Wir werden später noch ein oder zwei ähnliche Beispiele aus der Fülle der Erfahrungen zu erwähnen haben, die Bose im Laufe seines Lebens machen mußte.

Infolge dieser neuen Einstellung des Direktors und durch einen Sondererlaß der Regierung wurde Bose fest angestellt, sogar mit rückwirkender Kraft. Er erhielt also auf einmal für die letzten drei Jahre sein volles Gehalt. Er überwies sofort den ganzen Betrag den Gläubigern seines Vaters. Der Rest der Schuld wurde allmählich im Laufe der nächsten sechs Jahre abgetragen.

Der Vater überlebte die Schuldentilgung nur noch um ein Jahr, die Mutter um zwei Jahre. Die wissenschaftlichen Erfolge des Sohnes erlebten sie nicht mehr. Viele Jahre später baten die Einwohner von Faridpur Bose anläßlich der fünfzigsten Wiederkehr des von seinem Vater gegründeten Mela, eine Rede zu halten. Er sprach über "einen großen Fehlschlag" und erzählte die Geschichte der Bemühungen und Unternehmungen seines Vaters, und wie seine Saat so häufig keine Frucht brachte. Er schloß also: "Ein Fehlschlag? Ja, aber nicht unwürdig oder ganz vergeblich. Aus der Beobachtung dieses Kampfes lernte der Sohn, Erfolg und Fehlschlag gleich zu achten und zu begreifen, daß eine Niederlage manchmal mehr sein kann als ein Sieg. Für mich bedeutete sein Leben nur Segen und Anlaß zu täglichem Dank. Trotzdem sagte jedermann, er habe sein Leben, das zu Großem bestimmt war, verfehlt. Nur wenige wissen, daß aus den Resten von Myriaden lebendiger Wesen ganz riesige Festländer aufgebaut werden. Und über dem Wrack dieses Lebens und vieler Tausende ähnlicher wird einmal noch das größere Indien erstehen. Wir wissen nicht, warum es so sein sollte. Aber wir wissen, daß unsere Mutter Erde immer Opfer verlangt."

Die Erinnerung an die zwei Menschen, deren Liebe sein Dasein reich gemacht hatte, hat ihn sein ganzes Leben lang begeistert. Später hatte er nicht mehr für die Ehre seiner Familie und für die Durchsetzung in seinem Beruf zu kämpfen. An seinem fünfunddreißigsten Geburtstag, am 30. November 1894, war es für ihn beschlossene Sache, sein künftiges Leben vor allem der Erforschung neuer Wissensgebiete zu widmen. Drei Monate nach diesem Entschluß konnte er bereits, ohne ein richtiges Laboratorium zu besitzen, nur mit Hilfe eines unerfahrenen Blechschmids, neue Apparate für seine ersten Forschungen über einige der allerschwierigsten Fragen der elektrischen Strahlung entwerfen und bauen. Er hatte sofort Erfolg : schon ein Jahr später veröffentlichte die Royal Society seine Untersuchungen und stellte ihm aus den vom Parlament ausgeworfenen Geldern einen Betrag zur Weiterarbeit zur Verfügung. In Anerkennung seiner Erfolge verlieh ihm die Londoner Universität den wissenschaftlichen Doktorgrad ohne Prüfung. Lord Kelvin schrieb ihm 1896, er sei "buchstäblich von Staunen und Bewunderung erfüllt. Gestatten Sie mir, Ihnen meine Glückwünsche zu solch außerordentlichen Erfolgen auf einem so schwierigen und neuartigen Versuchsfelde darzubringen". Herr Cornu, der frühere Präsident der französischen Akademie der Wissenschaften, seit langem führend auf dem Gebiete der Physik, schrieb im Anfang des Jahres 1897: "Schon die allerersten Erfolge Ihrer Untersuchungen bezeugen Ihre Fähigkeit, zum Fortschritt der Wissenschaft beizutragen. Meinerseits erhoffe ich größten Vorteil sowohl für die polytechnische Schule als für meine eigenen Forschungen, die ich noch weiter auszubauen gedenke, von der Vervollkommnung der Apparatur, wie sie nun von Ihnen erreicht worden ist."

Ganz unerwartet war ihm der wissenschaftliche Erfolg gekommen. Wie nahm er ihn auf? Gewiß nicht als Befriedigung persönlichen Ehrgeizes, sondern als Ermutigung zu unablässiger Arbeit, mit der er die Anerkennung der wissenschaftlichen Fähigkeiten seiner Landsleute erringen und diese selber zu ähnlichen Leistungen anspornen wollte. Damals träumte er zum ersten Male davon, selbst ein wissenschaftliches Institut einzurichten, in der Hoffnung, damit anderen die entmutigenden Schwierigkeiten zu ersparen, die sich ihm entgegengestellt. Aber er war zu stolz, als daß er andere, die diesen Plan eben nur für einen unerreichbaren Traum hielten, gebeten hätte, ihm bei der Verwirklichung zu helfen. Soweit es überhaupt erreichbar war, mußte er es auf eigene Gefahr selbst schaffen. Er und seine Frau legten sich also noch immer größere Einschränkungen, beinahe schon Entbehrungen, in ihrer Lebenshaltung auf, um eines Tages in der Lage zu sein, die alten wissenschaftlichen Ueberlieferungen Indiens in neuzeitlichen Formen wiedererstehen zu lassen. Fünfundzwanzig Jahre lang behielt er dieses Ziel unverrückbar im Auge. Und die zahlreichen Aufsätze und Bücher, die er verfaßte, versteht man am besten, wenn man in ihnen Stufen sieht, die zur Gründung des Forschungsinstitutes führen, das er schließlich wirklich zu schaffen vermochte.

Ich möchte noch mit ein paar Worten erwähnen, unter welchen Bedingungen er seine Arbeit durchführen mußte. Das Bildungsministerium war ihm lange ungünstig gesinnt. Der Vorsteher und der Direktor, deren Freundschaft er endlich gewonnen hatte, traten in den Ruhestand. Die Erfolge Boses aber trugen ihm Feindschaft ein, die mehr oder weniger zähe anhielt. Die vorgesetzte Behörde war der Ansicht, der Klassenunterricht, sei die einzige Aufgabe des Professors und die Tätigkeit als Forscher müsse wohl oder übel zu einer Vernachlässigung der eigentlichen Dienstpflichten führen. Und das alles, obwohl er mit der ihm eigenen Gründlichkeit und mit besonderem Stolz sechsundzwanzig Stunden wöchentlich im College unterrichtete und Versuche vorführte, während seine Amtsgenossen bedeutend weniger leisteten. So blieb ihm erst dann noch etwas Zeit für seine Untersuchungen, wenn der lange Unterrichtstag und die Vorbereitung für den nächsten vorüber waren. Von Unterstützung seiner Forschungen war sowieso nicht die Rede. Bose mußte von seinem knappen persönlichen Gehalt die Mittel absparen, um seine Apparate zu bauen und seine Helfer zu bezahlen.

Zum Glück für Bose erregte die Teilnahme, die führende europäische Wissenschafter seiner Arbeit entgegenbrachten, die Aufmerksamkeit des Gouverneur-Stellvertreters von Bengalen. Er hatte Sinn für die höheren Aufgaben einer Universität und erkannte, daß sie nicht nur den üblichen Lehrstoff vermitteln, - was vor allem in Indien die Examenspaukerei viel zu sehr großgezüchtet hatte - sondern auch die Studenten in klarem und selbständigem Denken schulen und ihr Wissen auf diese Weise erweitern solle. Er verstand recht wohl, unter welchen Schwierigkeiten Bose arbeiten mußte, und veranlaßte die Einrichtung einer neuen Stelle mit höherem Einkommen, die mehr Bewegungsfreiheit und reichlicher Zeit für eigene Forschungen gewährte. Die Arbeitsaufgabe dieser Stelle war: in den zahlreichen, weit verstreuten, der Regierung unterstehenden Colleges Laboratorien einzurichten und auszubauen und die fortgeschritteneren Studenten auf eigene Forschungstätigkeit vorzubereiten. Der Entwurf wurde genehmigt und Bose mitgeteilt, daß er in einigen Tagen die Anstellungsurkunde erwarten könne.

Gerade in diesem Augenblick aber trat ein Ereignis ein, das alle Hoffnungen vernichtete. Bose gehörte der Universitätsgemeinschaft in Kalkutta als Mitglied an. Diese Universität ist, obschon von der Regierung unterstützt, bis heute eine unabhängige Körperschaft geblieben. Bose hatte seine ganz bestimmten Ansichten sowohl über die Pflichten als Beamter eines der Regierung unterstehenden College wie auch als unabhängiges Mitglied der Universität zu Kalkutta. Im Zeitpunkt, da seine neue Anstellung endgültig bestätigt werden sollte, kam es auf dem Professorenkonvent zu einer Auseinandersetzung, in der die Mehrheit der von der Regierung abhängigen Lehrer eine sehr einseitige Haltung einnahm. Bose, der sich an der Versammlung beteiligte, stimmte bei der Entscheidung nicht wie sein amtlicher Vorgesetzter. Darauf ward die für ihn vorgesehene neue Anstellung sofort hinfällig.

Später einmal machte ihn ein Sekretär der Regierung darauf aufmerksam, daß die Universität eine Angelegenheit zu behandeln habe, an der einige Mitglieder der Regierung ganz besonders interessiert seien. Bose konnte an dem betreffenden Tage den Verhandlungen nicht beiwohnen und wurde deshalb ersucht, den Grund seiner Abwesenheit anzugeben. In seiner

Antwort erhob Bose die Frage, ob die Regierung von ihm verlange, daß er sich bei vorkommenden Abstimmungen seinen Vorgesetzten anschließe, unbekümmert der Ansicht, die er sich während den Verhandlungen selber gebildet. Halte die Regierung dafür, daß er seinen Pflichten als Mitglied der Universität nicht richtig nachkomme, wenn er sich ein unabhängiges Urteil gestatte, suche er um die Erlaubnis an, auf die Mitgliedschaft verzichten zu dürfen.

Der Gouverneur-Stellvertreter, dem der Fall unterbreitet wurde, billigte zwar Boses Haltung, konnte aber doch den Widerstand im Unterrichtsministerium nicht so weit überwinden, .daß die Neuanstellung unterzeichnet worden wäre. Er hielt es jedoch nur für recht und billig, Bose für die großen Geldopfer zu entschädigen, die er auf sich nahm, um seine Forschungen durchzuführen, die ja doch irgendwie das Ansehen der indischen Regierung hoben. Und dem Gelehrten wurde amtlich mitgeteilt, die Regierung wolle ihm die Summen ersetzen, die er zur Durchführung seiner Forschungen ausgelegt habe. Bose bedankte sich für das freundliche Angebot, lehnte es aber ab, sich für vergangene Arbeiten entschädigen zu lassen. Darauf gewährte ihm die Regierung einen jährlichen Zuschuß von 2500 Rupien (ungefähr 5000 Franken) für seine weiteren Forschungen am Presidency College.

Damit aber waren die Anforderungen des täglichen Unterrichtes nicht gemildert. Für seine Forschungen brauchte Bose in erster Linie eine Verminderung der Ueberzahl von Unterrichtsstunden. Es war eine große Enttäuschung, daß nach der ausdrücklichen Anerkennung seiner hervorragenden Dienstleistungen die geplante Neuanstellung nicht zustande kommen sollte, weil er sich in Universitätsfragen nicht immer gehorsam den andersartigen Ansichten seiner amtlichen Vorgesetzten anschließen konnte. Er hatte Jahre schlimmster Ueberarbeitung und Ueberlastung hinter sich und die feindselige Haltung des Ministeriums hatte die Frische und Ursprünglichkeit gelähmt, die man eben für alle schöpferische Arbeit braucht. Er suchte deshalb den Lieutenant Governor auf und legte ihm die Bitte vor, man möge ihm gestatten, einen ihm zustehenden Urlaub zu einer Reise nach Europa zu verwenden, um wieder mit anderen Wissenschaftern und ihrer Arbeit in Fühlung zu kommen. Der Lieutenant Governor, der, wie wir schon sahen, Bose persönlich hochschätzte, war durchaus dafür zu haben. Da er aber wußte, wie begrenzt Boses Mittel waren, meinte er, ob eine so kostspielige Auslandsreise, selbst wenn sie seine wissenschaftlichen Arbeiten fördern könnte, nicht gar zu gewagt für ihn wäre. Einem inneren Antrieb folgend, fragte Bose, ob ihn die Regierung nicht etwa mit einem offiziellen Auftrag nach England senden könne. Der Governor erwiderte, darauf werde die britische Regierung unter keinen Umständen eingehen. Nun hatte das Unterrichtsdepartement erst vor kurzem eine Kundgebung erlassen, in der es sein Bedauern darüber ausdrückte, daß Indien trotz aller Bemühungen der Regierung noch keine wissenschaftlichen Leistungen aufzuweisen habe. Bose hatte die Ungerechtigkeit empfunden, mit der man seine Leistungen einfach totschwieg, die doch, seitdem sie in Europa volle Anerkennung gefunden hatten, auch in Indien allgemein bekannt geworden waren. Er konnte es sich nun nicht mehr versagen, seiner schmerzlichen Enttäuschung darüber Ausdruck zu geben, daß das Unterrichtsdepartement einerseits behaupte, wissenschaftliche Arbeit und Forschung in Indien sei erwünscht, anderseits aber tatsächlich vorliegenden Leistungen gegenüber gleichgültig bleibe. Solch offene Rede schien den Leutnant Governor zu verstimmen, er gab der Unterhaltung eine andere Richtung, und die Besprechung verlief im Sande. Bose war zu der Unterredung nach Delhi gereist und wollte am nächsten Tage nach Kalkutta zurückkehren. Im Augenblick aber, als er den Zug bestieg, brachte ihm ein Bote ein Schreiben des Direktors des öffentlichen Unterrichtswesens: der Governor habe beschlossen, ihn auf eigene Verantwortung nach England zu entsenden. Er könne abreisen, wann es ihm beliebe. Der Lieutenant Governor werde sich drahtlich mit der indischen Regierung und dem Staatssekretär in London in Verbindung setzen.

Die nachfolgende Drahtnachricht enthielt eine Mitteilung des Direktors des öffentlichen Unterrichtswesens, der jetzt zu jeder Unterstützung bereit war: "Dr. Bose bereitet nicht nur die Kandidaten für die akademischen Grade vor, er leistet auch auf physikalischem Gebiete bahnbrechende selbständige Arbeit. Wer ihn darin unterstützt, fördert die Sache der Wissenschaft. Und das gehört meiner Ansicht nach zu den Befugnissen der Regierung." Als persönliche Empfehlung fügte der Lieutenant Governor an, er habe alles getan, was in seiner Macht stehe, um Bose bei seinen wissenschaftlichen Forschungen zu ermutigen und zu fördern, weil er es für die Pflicht der Regierung eines großen Landes halte, einen Mann von so außergewöhnlicher Begabung zu unterstützen. Er messe der Europareise Boses und seinen Verhandlungen mit den Führern der dortigen Wissenschaft große Bedeutung bei.

Durch unbeugsames, beharrliches Weiterarbeiten und durch die Kraft seiner Persönlichkeit hatte Bose der Regierung ein Maß von Anerkennung und sichtbarer Förderung wissenschaftlicher Arbeit abgenötigt, das damals einzigartig -war und auch heute leider noch wenig Nachahmung findet. Ungeachtet aller Schwierigkeiten, die sich in dem zuständigen Departement erhoben, hatte er schließlich die Anerkennung und den Beistand der Regierung erworben, und dieser Erfolg bedeutete einen unschätzbaren Gewinn für die Wissenschaft der ganzen Welt auf ihrem Wege der besseren Würdigung ihrer inneren Bedeutung entgegen.

IV. DIE ERSTEN PHYSIKALISCHEN FORSCHUNGEN

Elektrische Wellen

Nun zu den ersten Versuchen unseres Gelehrten! Seit dem Aufdämmern der Zivilisation zielt der Fortschritt der Wissenschaft und ihrer praktischen Anwendungen nach einem neuen Zeitalter. In der Vergangenheit hatte ihr Wachstum viel von einem Korallenriff an sich - Stürme verwüsteten und zerschmetterten es, oft genug zerfiel es ganz. Heute nun hoffen die Werkleute Städte für ewige Zeiten zu errichten, indem sie an dem idealen Bau der Wissenschaft arbeiten, der unbegrenzt wachsen soll, auch wenn er nie völlig verwirklicht werden kann. Jeder dieser emsigen Arbeiter gräbt und bricht seinen Baustein aus, behaut ihn und fügt ihn an seiner Stelle ein. Da ruht er nun, seinen Zweck erfüllend, auf dem höchsten Rande der wachsenden Mauer, bis früher oder später, oft sehr bald ein neuer Stein sich auflegt. So wird an jedem guten und dauerhaften Werk weitergebaut - und insofern wird es überholt. Meist trägt der Stein sein Steinmetzzeichen, aber die Welt hat darauf nicht acht. Es ist ganz natürlich, daß ihr flüchtiges Interesse nur dem neuen Stein gilt, der hochgezogen und dem Himmel entgegengetürmt wird.

Wollen wir also die Leistung eines lebenden Wissenschafters würdigen, so müssen wir die Arbeit vergangener Jahre, die heute in ihrem ganzen Umfang in den allgemeinen Unterbau einbezogen wird, kurz erwähnen, bevor wir an die Stelle des wachsenden Baues kommen, wo die eigene Arbeit des Forschers einsetzt. Betrachten wir Boses Arbeiten von diesem Gesichtspunkt, so müssen wir seine frühe physikalische Forschung naturgemäß zum großen Teil zu der unteren Schicht zählen, zu der anerkannten, feststehenden Wissenschaft, die heute schon restlos ins Ganze eingegliedert und nutzbar gemacht worden ist. Dagegen gehört sein späteres Werk, das um die "Antwort des Lebendigen und Nichtlebendigen" kreist, zu den oberen Schichten, wo der Baumeister mit seinen Helfern an jener unsichtbaren Stelle arbeitet, von der aus der Bau der Wissenschaft weiterwächst. Einzelne Bestandteile seiner physikalischen Untersuchungen gehören hingegen auch zu einer dritten, noch brachliegenden Schicht, die darauf wartet, urbar gemacht zu werden.

Im vorhergehenden Kapitel haben wir gesehen, wie wenig Zeit zu neuen Forschungen Bose nach einem Tag verblieb, an dem er drei oder vier Kollegien gelesen, mehrere Stunden beim Bau von Apparaten oder bei der Vorbereitung von Versuchen verbracht, Vorlesungen ausgearbeitet, Aufsätze durchgesehen usf. Auch die abendliche Stille wurde ihm nur zu oft entzogen, sowohl durch die vielfältigen Kämpfe um seine akademische Stellung wie durch die ausgedehnte Ueberarbeit, mit der er sich quälte, um von seinem außergewöhnlich bescheidenen Einkommen auch noch die Ehrenschulden der Familie abtragen zu können. Wie schon gesagt, gewann Bose erst 1894, also mit 35 Jahren, endgültig Freiheit genug, um planmäßige Forscherarbeit in Angriff nehmen zu können. Indischer Sitte gemäß gelobte er sich das gerade an diesem Geburtstag. Und er war dafür, wie wir schon sahen, auch wirklich glänzend ausgerüstet, nicht nur als wissenschaftlich gebildeter Physiker und erfahrener Experimentator, sondern auch als Charakter, da seine angeborene Abenteuerlust und Kühnheit jetzt durch das Leben gereift und gefestigt war.

In jenen Jahren konzentrierte sich das Interesse der physikalischen Wissenschaft vornehmlich auf das Lebenswerk des leider allzu früh verstorbenen hervorragenden Forschers Hertz, des Erzeugers elektrischer Schwingungen, die Clerk Maxwell, seinerseits auf der Arbeit von Faraday weiterbauend, bereits zwanzig Jahre zuvor in seinem genialen Erfassen der Beziehungen zwischen Lichtwellen und elektromagnetischen Störungen vorausverkündigt hatte. So waren, wie ältere Leser sich wohl noch erinnern, in den Entwicklungsjahren unseres Forschers die Hertzwellen das Wunder der Zeit, ähnlich wie etwa später die X-Strahlen Röntgens und noch ein wenig später das geheimnisvolle Radium der Madame Curie und die folgende Entwicklung dieser sich immer weiter verzweigenden Forschungen.

Zuerst aber sind einige erläuternde Worte nötig, ehe wir zu Hertz und seinem Problem kommen und zu dessen Weiterbehandlung durch Bose. Ein Menschenalter vorher hatte Fresnel die Wellentheorie des Lichtes aufgeklärt und das Licht als -Aetherschwingungen veranschaulicht; aber nicht als longi-tudinale, wie die Schallwellen in der Luft, sondern als transversale, wie die des Wassers, dessen Wellen sich fortpflanzen, ohne daß sich das Wasser selber von der Stelle bewegt, bis sie am Ufer zerschellen. Wirf einen Stein in ein stehendes Gewässer und beobachte, wie sich die Oberfläche hebt und senkt, indes die Wellenkreise bis zum Ufer weiterschwingen. Beobachte auch, wie das Ufer diese Wellenkreise in den Teich zurücksendet und zwar in demselben Winkel, in dem sie am Ufer aufstießen. Diese kleinen, unendlich sich schneidenden Wellchen, die so entstehen, geben uns eine einfache, erste Vorstellung von den höchst verwickelten, aber streng geordneten Wellenbewegungen des Aethers, mit dem der Physiker sich den Weltenraum, angefüllt denken muß, um die vielfältigen Erscheinungen deuten zu können, die ihm bei seinen optischen Studien aufstoßen und die er so nicht nur experimentell nachweisen, sondern auch mit mathematischer Sicherheit erklären kann.

Ein Zeitgenosse Fresnels, des Lichtmathematikers, war Ampere, der Mathematiker der Elektrizität. Er arbeitete die Gesetze von der Wechselwirkung der Ströme aus, die von einer Reihe glänzender Experimentatoren bis auf Faraday entdeckt worden waren. Indem er so die Elektrodynamik von der Stufe des Experimentes und der Empirie zur Wissenschaft erhob, vermutete er aus naheliegenden Gründen, der Aether, als Träger der Lichtwellen müsse auch der Leiter aller elektrischen Wellen sein. Diese fesselnde Hypothese wurde aber versuchsmäßig - was keine leichte Sache war - erst von Clerk Maxwell nachgeprüft und durch die Entdeckung gekrönt, daß elektrische Wellen sich mit derselben Geschwindigkeit wie das Licht fortpflanzen, ein Ergebnis, das völlig mit der schon früher ganz unabhängig angestellten Berechnung der Stromgeschwindigkeit in einem sehr gut leitenden Draht übereinstimmt. Es konnte also nicht mehr lange bezweifelt werden, daß zwischen Elektrizität und Licht irgendeine sehr nahe Beziehung bestehe.

Maxwell versuchte darauf, den bekannten Unterschied zwischen Leitern und Nichtleitern neu zu erklären. Und anstatt nun, wie es bis dahin in wissenschaftlichen Kreisen üblich war (so daß man es dem Leser nicht übel nehmen kann, wenn er es heute noch tut!), die Nichtleiter als untätig anzusehen, erklärte er beide Erscheinungen auf neue Weise. Der übliche Kupferdraht ist kein vollkommener Leiter, er leistet einen wahrnehmbaren Widerstand, dessen einfaches Gesetz bereits von Ohm aufgestellt worden war. Je mehr Energie in der Ueberwindung des Widerstandes verloren geht, um so heißer wird der Draht. Diese Erhitzung, im Draht der elektrischen Birne bis zur Weißglut gesteigert, liefert uns das elektrische Licht. Den Vorgang, daß sich Elektrizität in Wärme umsetzt, veranschaulicht Maxwell durch folgende von ihm beobachtete Tatsache: wenn man Wasser durch eine Röhre treibt, nimmt die Reibung und Erwärmung in demselben Maße zu, wie die Röhre enger wird. Da alle Flüssigkeiten nur mehr oder weniger flüssig sind (Wasser ist im Vergleich zu anderen eine >zähe" Flüssigkeit!), muß früher oder später ihre Bewegung gleich Null werden und sich ihre gesamte Energie in Wärme umsetzen. Man kann sich also kurz gesagt den Widerstand der elektrischen Leiter als einen "Zähigkeitswiderstand" vorstellen.

Wie aber steht es nun mit den Nichtleitern? Auch dieser Ausdruck ist nur relativ, da die Nichtleiter untereinander große Unterschiede aufweisen. Man hielt sie daher zuerst nur für äußerst schlechte Leiter. Maxwell aber hatte die neue Idee, daß ihre Eigenschaft des Nichtleitens keineswegs mit einer gesteigerten "Zähigkeit" zu vergleichen, sondern ganz anderer Natur sei, ähnlich dem Widerstand, den eine Sprungfeder bietet, die eine auf sie einwirkende kinetische Energie nicht in Reibung und Wärme verschwendet, sondern in ihren Spiralen, soweit deren Bau es zuläßt, als potentielle Energie aufspeichert und dann, wenn der auf sie ausgeübte Druck nachläßt oder ganz aufhört, wieder auswirkt. Während also der übliche Leitungsstrom so lange durch einen Draht fließt, wie seine elektromotorische Kraft anhält, können die Verdrängungsströme, die Maxwells spekulatives Auge in den nichtleitenden Körpern entdeckte, entsprechend den Sprungfedern aus seinem obenerwähnten der Mechanik entnommenen Vergleich nur kurze Zeit währen, weil ihre Spannungsverschiebung bald wieder das elektrostatische Gleichgewicht finden würde. Nun stelle man sich vor, die Sprungfeder zerbreche oder schnelle hoch. Ihre gebundene Energie wird dann plötzlich und vollständig frei, offenbar ein wesentlich anderer Vorgang als die Wärmeausstrahlung, die wir in stromführenden Leitern finden.

So vermied Maxwell die alte, rein negative Ansicht, die Nichtleiter seien nur ein passives Hindernis. Er sah, daß sie innerlich von verdrängten Strömen bebten, wie eine Menge von Sprungfedern in rascher Schwingung. Gewöhnliche Ströme aber machen sich bemerklich 1. indem sie sich infolge des Widerstandes unvollkommener Leiter in Wärme umsetzen, - 2. indem sie auf den Magneten wirken, was man bequem durch Einschaltung eines Galvanometers in den Stromkreis nachweisen kann, - 3. dadurch, daß sie Induktionsströme in benachbarten Leitern hervorrufen. Wenn es also die von Maxwell in Nichtleitern angenommenen Ströme wirklich gibt, müssen sie diese drei Eigenschaften haben. Ihre Schwingungszahl ist jedoch so hoch und die Stromdauer so kurz, daß man sie auf gewöhnlichem Wege nicht feststellen kann. Aber mit der wohlbegründeten Sicherheit seines mathematischen Verfahrens blieb Maxwell dabei, die Ströme seien trotz alledem da. Und so formulierte er seine elektromagnetische Theorie vom Licht. Für unsern Zweck und unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die Lichtwellen im Aether, wie Fresnel und andere sie bereits deutlich aber gesondert veranschaulicht und gemessen hatten, als Wirkung schnell wechselnder Ströme deuten, die von dielektrischem Aether (entsprechend den Schwingungen der Sprungfedern) durch den Raum getrieben werden. In der mathematischen Welt machten Maxwells Theorie und ihre Berechnungen großen Eindruck. Doch weder der Physiker noch der Alltagsmensch konnte sich ohne zwingenden Beweis durch das geglückte Experiment damit zufrieden geben. Wie aber Wechselströmen und Schwingungsentladungen von so hoher Frequenz beikomrnen, wie sie sich bei der bekannten Geschwindigkeit des Lichtes - etwa 300000 km in der Sekunde - ergeben? Und erst mit den zahllosen Wellen in diesem winzigen Zeitraum, wenn schon die längsten der sichtbaren Strahlen, die roten, Sekunde um Sekunde wenigstens 25000 auf jeden Zoll der ganzen unendlichen Entfernung auf unsere Netzhaut entladen? Wenn die auf die photographische Platte einwirkenden mehr als das Doppelte im gleichen Zeitraum betragen? Solch ein Experiment muß ungeheuer schwierig sein. Dennoch nahmen die Fachleute es in Angriff. Und Feddersen photographierte mit Hilfe eines raschkreisenden Spiegels den wohlbekannten Funken aus der Leydener Flasche. Wenn nun diese Entladung ununterbrochen währte, müßte die Photographie einen hellen Strich aufweisen, ähnlich dem, als welcher ein bei der Erdbewegung mit langsamer Zeitaufnahme auf die Platte gebannter Stern erscheinen würde. Die Bilder zeigten jedoch eine Reihe von Lichtpunkten, wodurch die Unterbrechung der Ladung bewiesen wurde, und die Photographien solcher Lichtpunkte ergaben, daß sie nicht von einheitlichem Gefüge waren, sondern symmetrisch gegeneinander gestellt, indem den hellen Stellen am einen Ende dunkle am ändern entsprachen und umgekehrt. Hier war also deutlich sichtbar nachgewiesen, daß die Entladung, die für unser Auge wie ein einziger Entladungsfunke aussieht, in Wirklichkeit aus einer ganzen Reihe von Funken besteht, die zwischen Positiv und Negativ überspringen. Für diese Funkenoszillation fand dann Lord Kelvin ein entsprechendes Bild, indem er vom "Schwingen des elektrischen Pendels" sprach. Aber wird die Energie dieser elektrischen Schwingungen nun durch Widerstand einfach verbraucht und in Wärme umgewandelt, die wir in den sichtbar leuchtenden Teilchen des Funkens wahrnehmen? Maxwell hatte vorausgesagt, daß es auch für elektrische Wellen eine solche Strahlung geben müsse. So erhebt sich hier ein Wettstreit der Experimente zwischen seiner Theorie und den vorangehenden Theorien, durch die kein derartiges Phänomen berücksichtigt worden, ja bei denen es vielleicht nicht einmal denkbar war.

Hier griff nun Hertz ein, und bald glückten ihm entscheidende Versuche. Zuerst mußte er einen neuen Apparat erfinden, der die oszillierenden Entladungen gleichmäßiger und schneller erzeugte (also ein verkürztes elektrisches Pendel!), wobei die Entladungen besser beobachtet und geregelt werden konnten. Das gelang ihm, aber erst nach Ueberwindung großer Schwierigkeiten, die vor allem von dem unzuverlässigen und unregelmäßigen Verhalten der Messingkugeln herrührten, zwischen denen die oszillierende Entladung vor sich ging. Aber wie sollte er nun ausfindig machen, ob die elektrischen Wellen, die Maxwell vorausgeahnt, und die er gesucht hatte, tatsächlich von der oszillierenden Entladung seines Senders in den Raum geschleudert würden oder nicht? Hier brauchte er offenbar eine Art Empfänger für die vermuteten Strahlen. Ihn zu beschaffen war eine neue schwierige Aufgabe. Er ging so vor: In den Weg der vermuteten Strahlen stellte er einen Prüfungsapparat - ein paar einander ganz dicht angenäherte Metallstäbchen, in denen die Strahlen eine elektrische Spannung erzeugen sollten. Wenn sie stark genug war, mußten zwischen den beiden Polen der Stäbchen kleine Funken überspringen. Doch kein Funke zeigte sich. Hertz aber ließ sich nicht so leicht entmutigen. Er sagte sich, daß solche Induktionsströme notwendigerweise äußerst schwach sein müßten, deshalb nahm er das Mikroskop zu Hilfe. Infolgedessen konnte er die Pole auf eine verschwindend geringe Entfernung einander nahebringen, und auf diese Weise gelangte er zu dem ersehnten Erfolg, denn ein Funke - winzig, aber unverkennbar - erschien jetzt nach jedem Impuls des in einiger Entfernung aufgestellten Senders. Dieser winzige Funke bedeutete sowohl das Gelingen des grundlegenden Experimentes, um das man sich so lange bemüht hatte, damit Clerk Maxwells Theorie demonstriert werden könne, als auch eine Genugtuung für den jungen Experimentator. Auf einen Schlag sah sich dieser auf jene Höhe des Erfolges gehoben, die Achtung erweckt und Bewunderung erzwingt, - herausgehoben aus der großen Schar der Träumer und Erfinder, die von den meisten verlacht oder verachtet werden, so lange sie keine Erfolge aufzuweisen haben.

Doch wenden wir uns nun vom Verlauf und den Einzelheiten des Versuchs zur Würdigung der Tragweite der Hertz-schen Errungenschaft des Beweises, daß diese neue Gruppe von Aetherschwingungen wirklich und tatsächlich vorhanden ist. Sie bedeutete nicht nur eine Freude für die Mathematiker, deren ausgezeichnete Arbeitsweise als straff gezügeltes und kühn vorstoßendes Denken in Maxwell wieder einen dramatischen Sieg errungen hatte. Die wundervollste Ueberraschung lag auf physikalischem Gebiet. Denn hier haben wir auf der einen Seite das Licht, von dem unser Leben in geistiger Beziehung nicht minder als in praktischer abhängt, und das wir überdies von allen Naturkräften am umfassendsten und ge-nauesten kennen. Auf der ändern Seite aber die elektrischen und magnetischen Erscheinungen, die so gewaltig sind und doch so fein, so mannigfaltig und verwickelt, so rätselhaft, so dunkel, so geheimnisvoll, und die so lange Zeit jedem Versuch getrotzt hatten, sie in gewohnter Weise darzustellen und sichtbar zu machen. Auch die Wärme ist uns ihrem Wesen nach vertraut und seit Jahrhunderten hat ihre Messung und Beobachtung stete Fortschritte gemacht. Als man die Strahlungswärme mit dem Licht als der Fortsetzung des Spektrums nach der Seite der ultraroten Strahlen gleichsetzte, war das für jene Zeit - sie liegt noch nicht so weit hinter uns - einer der großen wissenschaftlichen Fortschritte, der unmittelbar und seinem Wesen nach auch in Verbindung stand mit den alles umfassenden Lehren von der Erhaltung der Energie, vor allem aber ihrer Ausstrahlung. Das kurze sichtbare Spektrum, in das der weiße Lichtstrahl durch Newtons Prisma zerlegt wird, schließt zwar die ganze Pracht unserer Farben von rot bis violett ein, - doch nun wurde, gezeigt, daß dies nur eine Oktave eines viel umfassenderen Spektrums, einer kosmischen Strahlung sei. Das Beweisen die weiteren Oktaven immer kürzerer ultravioletter (photographischer) Strahlen und ' ihnen entsprechende Oktaven von Wärmewellen, die länger sind als das dunkelste noch sichtbare Rot. Nun hatte Hertz experimentell aber ganz neue Strahlen unterhalb der im Vergleich zu den Lichtstrahlen (60000-25000 pro Zoll) breiten Wärmestrahlen des großen Spektrums nachgewiesen - Strahlen, deren Vorhandensein und damit zugleich in gewissem Sinne lichtwellenartiges Verhalten Maxwell zwar vorausgesehen, deren seltsame und mannigfaltige Eigenschaften er aber nicht geahnt hatte. Wie überrascht und begeistert wäre er gewesen bei dem Gedanken, daß sie so bald ausgewertet werden würden! Um uns eine Vorstellung von der im Vergleich mit den Wärmestrahlen ungeheuren Längen der Hertzschen Wellen zu machen, müssen wir von den Massen der bisher bekannten Aetherwellen ganz absehen und sie mit den langen Schallwellen vergleichen, die sich langsam durch das schwere und zähe Fluidum unsefer Atmosphäre bewegen, die mit dem unberechenbaren, elastischen Aether nichts gemein hat. Nehmen wir also die Durchschnittsgeschwindigkeit des Schalls bei warmem Wetter mit 400 m in der Sekunde an und den Umfang der hörbaren Schwingungen von 16 in der Sekunde für den tiefsten und 30 ooo für den höchsten Ton, was eine Reihe von 11 Oktaven ausmacht, so ergibt das etwa 21 m für die längsten und daher tiefsten hörbaren Klangwellen und etwa 12 cm für die kürzesten und höchsten. Dagegen zeigten selbst die kürzesten der Hertzschen Wellen eine Länge von 4 Yards (1 Yard = 0,9143 m), die längsten aber einige hundert Yards, und bald sollte es sich zeigen, daß sich dieses ungeheure elektrische Spektrum nach beiden Seiten noch viel weiter erstreckte, nicht nur in immer kürzeren Wellen gegen das Wärmespektrum hin, sondern auch in immer längeren Wellen o bis zu Längen von unbekannter Größe.

Aber wenn Hertz damit Maxwells Lebenswerk auch unanfechtbar rechtfertigte, stand er selbst doch erst am Beginn der erforderlichen vollständigen Beweisführung. Mußten sich nicht diese elektrischen Wellen, wäre auch ihre Länge unendlich größer als die des Lichtes, ebenso verhalten wie dieses? Wenn ja, dann stand zunächst zu erwarten, daß sie sich für verschiedene Stoffe auch verschieden durchlässig erweisen würden, daß also gewisse Stoffe sie durchlassen würden, andere nicht, d. h. daß sie von ihnen absorbiert würden, während dritte mittelmäßig durchlässig für sie sein müßten. Der Versuch erwies sofort die Richtigkeit dieser Annahme, wenn auch die Durchlässigkeit der Medien - wie ein Physiker von vornherein erwarten mußte - für sie anders ist als für das Licht. Eine Wasserschicht ist für elektrische Wellen undurchlässig, während Glas und Pech sich beide als durchlässig zeigen.

Die nächste Frage ist natürlich: Können diese Wellen reflektiert werden wie das Licht ? Große Flächenspiegel, Zink- und andere Metallscheiben reflektieren die Wellen, aber nicht wie bei optischen Erscheinungen, wo der Ausfallwinkel gleich dem Einfallwinkel ist. Hier war er größer. Das aber war bei der Länge der Wellen von vornherein zu erwarten. Tatsächlich war beim geradlinig sich fortpflanzenden Licht längst eine gewisse Einwärtsdrehung der Wellen beim Durchlaufen eines Hindernisses festgestellt worden. Diese "Brechung" war mathematisch und experimentell bereits erforscht. Bei der ungeheuren Länge der Hertzschen Wellen, die den Schallwellen ähnlich, aber noch viel länger sind - bis zu 1600 m - war es nicht überraschend, daß sie sich nur annähernd geradlinig fortpflanzen und um Ecken biegen gleich den Schallwellen.

Nächstdem prüfte Hertz, ob Newtons klassischer Versuch der Lichtbrechung durch das Prisma auch mit seinen neuen Strahlen möglich sei. Doch angesichts der Riesenzahlen und des großen Brechungswinkels brauchte er auch ein entsprechend großes Prisma, das man nicht mehr aus Glas gießen konnte. Hertz war jedoch der Lage gewachsen. Er goß aus etwa zwei Tonnen Pech ein riesiges Prisma. Der Versuch lohnte es ihm, denn die elektrischen Strahlen wurden unzweifelhaft nach der Basis zu gebrochen. Und wenn auch seine Messungen angesichts so langer und gegekräuselter Wellen natürlich nur erste grobe Annäherungswerte ergaben, so war doch die Hauptsache bewiesen, - die vermutete Brechung fand statt, und zwar deutlich wahrnehmbar. Dadurch ermutigt, suchte Hertz festzustellen, ob seine elektrischen Strahlen nicht auch wie das Licht polarisiert werden könnten. An Stelle des Polarisators und Analysators der Optiker verwandte er Metallgitter, deren jedes aus einer Reihe gleichlaufender Drähte bestand, und fand, daß alle elektrischen Schwingungen, die mit ihnen parallel liefen, absorbiert wurden, während alle im rechten Winkel auf den Draht stoßenden hindurchkamen. Standen sie aber parallel zueinander, so wurda der Strom völlig aufgehalten, genau wie beim Licht, wenn es auf das Nicolsche Prisma auftrifft. Im großen ganzen hatte Hertz also seinen Vergleich der neuen elektrischen Strahlen mit dem Licht durchgeführt und damit die Maxwellsche Theorie bestätigt. Natürlich blieb noch viel zu tun übrig, sowohl in bezug auf die ganze Reihe neuer Apparate, die in vielen Einzelheiten verbessert werden mußten, als auch auf eine genauere Untersuchung jener Erwägungen, die sich bei der Lehre vom Licht bewährt hatten, ganz zu schweigen von noch unbekannten Entwicklungsmöglichkeiten. Zweifellos wäre Hertz in dieser Richtung noch weitergegangen. Doch gerade da brach sein schwacher Körper zusammen. Er hatte sich in langen Jahren angespanntesten Denkens und Arbeitens überanstrengt. Er starb an den Folgen eines einfachen Näsenkatarrhs, einer auch damals selten tödlichen Krankheit. Die Trauer der ganzen wissenschaftlichen Welt um diesen frühen Verlust hatte kaum ihresgleichen. Aber Hertz' Wunsch war erfüllt: der Weg war gefunden und tüchtige Physiker gingen ihn weiter, zuerst prüfend und beweisend, dann ihre Forschungen auf neue Gebiete ausdehnend. Der erste Mangel, der behoben werden mußte, war die Unsicherheit und Unregelmäßigkeit, mit der die Entladungen zwischen den Messingkugeln vor sich gingen. Diesen Teil des Apparats zu verbessern, war das Hauptbestreben der späteren Forscher, die nur "gute" Funken ohne "schlechte" erzeugen wollten. Hier nun setzte Bose ein. Seine Bemühungen waren von besonderem Erfolg gekrönt. Er überzog die Flächen, zwischen denen die Funken entstanden, mit Platin, um alle Rauheiten der Oxydation zu vermeiden. Boses Radiatoren wurden nicht, wie es früheren Experimentatoren ging, durch Staubflecken verdorben, sondern sandten unaufhörlich ihre Funken aus und diese wiederum so stetig ihre Wellen, daß auch dann keine Unterbrechung eintrat, wenn ein Luftzug, der Straßenstaub mitführte, darauf-gelenkt wurde. Daneben verwendete Bose als Funkenerzeuger auch eine Kugel, die von zwei großen hohlen Halbkugeln umgeben war. Diese Anordnung steigerte die Funkenerzeugung.

Weitere Fortschritte in der Bestimmung der optischen Eigenschaften elektrischer Strahlung durch quantitative Messungen wurden dadurch sehr verzögert, daß man bei der ungeheuren Wellenlänge keine streng geradlinige Fortpflanzung erreichen konnte. Bose gelang es, außerordentlich kurze Wellen zu erzeugen, die die Brücke zwischen den infraroten Strahlen und den Hertzschen elektrischen Wellen zum großen Teil ausfüllten.

Zu diesem Zweck wurde der ganze Radiator zwischen doppelte Metallwände eingeschlossen, um jede Strahlenstreuung zu verhindern. Die Außenwände waren aus Kupfer, damit keine elektrischen Strahlen entweichen konnten, die inneren aus weichem Eisen als Schutzschild gegen magnetische Störungen.

Die nächste Aufgabe der Experimentatoren war, den Hertzschen Empfänger zu verbessern. Hier wies Professor Branly von der katholischen Universität in Paris, dessen Radiokon-duktor seitdem so bekannt wurde, den Weg. Im wesentlichen war es nur eine dünne Röhre mit Eisenfeilspänen, die zwar an sich gute Leiter sind, aber doch noch beträchtlichen Widerstand leisten, da sie untereinander wenig Bewegungsmöglichkeiten haben, und auch die wenigen noch sehr wechselnd und unvollkommen sind. Aber Branly stellte fest, daß die Hertzwellen, die in den Feilspähnen beträchtliche Induktionsströme erzeugten, den Widerstand auf ein Geringstes, manchmal bis auf ein Millionstel verringerten. Daraus folgte, daß der Apparat als der gesuchte Empfänger verwendet werden konnte, da er elektrische Ausstrahlungen noch viel feiner und schärfer feststellte als Hertz' erster Empfänger. Wenn man die Feilspäne so verwendet hat, genügt ein leiser Stoß, um sie wieder durcheinander zu schütteln, so daß der Apparat für den nächsten Versuch bereit ist.

Lodge nutzte dieses einfache Hilfsmittel geschickt aus und gab auch eine Erklärung des ganzen Vorgangs. Er führte ihn darauf zurück, daß die Feilspäne durch die Induktionswirkung, die durch den Zustrom Hertzscher Wellen entsteht, an ihren winzigen Berührungspunkten zusammengeschweißt werden. Darum gab er ihm den neuen Namen "Kohärer". Branly hält indes an dem ursprünglichen Namen fest mit der Erklärung, die Hertzschen Wellen veränderten nur den nichtleitenden Ueberzug der Feilspäne. Boses Empfänger, der einen großen Fortschritt über diejenigen von Branly und Lodge hinaus bedeutet, deren Empfindlichkeit schwankend, oft geradezu launenhaft ist, ersetzte die unregelmäßigen Feilspäne durch Spiralfedern aus feinstem Draht, die tausend oder noch mehr Berührungsmöglichkeiten haben und in Ebenholz gefaßt, durch eine Schraube verstellbar sind. Wird ein schwacher Strom durchgeleitet, so setzen ihm die Spiralen einen recht beträchtlichen Widerstand entgegen. Der Strom wird, wie in Branlys Apparat, sehr stark reduziert, aber noch empfindlicher und regelmäßiger, wenn der Apparat in der Richtung der elektrischen Wellen aufgestellt wird, erst recht, da der elektrische Strahl aus Boses Erzeuger nicht nur genau und sorgfältig abgegrenzt, sondern auch besser reguliert ist. "Die Empfindlichkeit dieses Apparates, sagt Poincare (dessen klarer Darstellung der Verfasser viel verdankt), ist hervorragend. Er ist für alle Strahlen im Intervall einer Oktave empfänglich, wenn man die elektromotorische Kraft, die den durch den Empfänger fließenden Strom erzeugt, verschieden einstellt." Daneben glückte Bose die Erfindung noch anderer Empfängerformen, die sich ohne besonderen Anstoß von selbst "erholten". Es ist auch sehr beachtenswert, daß der ganze Apparat von Bose nicht nur verbessert und in allen Einzelheiten vervollkommnet wurde, sondern daß er auch die ungeheuren Ausmaße der ersten Hertzschen Entwürfe und die immer noch sehr beträchtlichen Größenverhältnisse bei Lodge und anderen Erfindern in eine übersichtliche, knappe Gruppe ineinandergreifender Vorrichtungen umwandelte, die man bequem auf dem Schreibtisch aufstellen und im Handkoffer überallhin zu Vorführungen mitnehmen kann.

Bose hatte sich nun das beste Rüstzeug aller auf diesem Gebiet arbeitenden Wissenschafter geschaffen. Denn jetzt, wo er auf das vollkommenste Strahlen erzeugen und kontrollieren konnte, war es möglich, immer kürzere Wellen zu erzielen, die bei der Brechung wenig streuen und als feststehender Strahl von 1/2 Zoll (1,27 cm) Schnittfläche erzeugt werden können. Außerdem übertraf sein Empfänger alle vorhergehenden nicht nur durch seine in jeder Form sehr große Empfindlichkeit, sondern, was noch wichtiger ist, durch sein zuverlässiges, gleichmäßiges Arbeiten. So konnte Bose sein Problem viel umfassender und klarer aufstellen. Er kam im wesentlichen zu folgendem : Hertz' Studium der elektrischen Wellen und mehr seine Vergleichung ihres Verhaltens mit optischen Phänomenen war mehr oder weniger qualitativ. Doch "Wissenschaft ist Messung?. Sie muß die Quantität genau feststellen. Zu diesem Behufe mußten noch regelmäßigere und kürzere Wellen erzeugt werden, um den Wärme- und Lichtwellen so nahe wie möglich zu kommen.

Mit seinem vervollkommneten Apparat führte Bose nun seine ausgedehnten Untersuchungen der optischen Eigenschaften elektrischer Strahlen durch. Er ging dabei nach folgendem Plan vor:

a) Beweis des Reflexionsgesetzes (Flachspiegel, Hohlspiegel);
b) Brechungserscheinungen (Prismen und vollständige Reflexion, Undurchsichtigkeit infolge mehrfacher Brechung und Reflexion, Bestimmung der Brechungswinkel);
c) Selektive Absorption (elektrisch gefärbte Medien);
d) Interferenzerscheinungen (Bestimmung der Wellenlänge);
e) Doppelbrechung und Polarisation (polarisierende Gitter, polarisierender Kristall, Doppelbrechung durch Kristalle, durch andere Stoffe 3 und durch Spannung, zirkuläre Polarisation, Elektropolariskop und Polarimeter, Drehung der Polarisationsebene).
J. G. Bose beim Freitag-Abend-Vortrag "über Elektrische Wellen" vor der Royal Institution (1896)
J. G. Bose beim Freitag-Abend-Vortrag über "Elektrische Wellen" vor der Royal Institution (1896)

Es ist nicht möglich, hier die Ergebnisse dieser umfassenden experimentellen Untersuchungen alle zusammenzutragen. Es möge genügen, wenn ich aus dem Ueberblick, den neuerdings ein hervorragender amerikanischer Physiker, Dr. Kunz von der Universität Illinois, gegeben hat, einen Abschnitt anführe:

"Bose zeigte, daß diese kurzen elektrischen Wellen dieselben Eigenschaften haben wie ein Lichtstrahl. Sie werden zurückgeworfen, gebrochen, zeigen sogar totale Reflexion, Doppelbrechung, Polarisation und Drehung der Polarisatiönsebene. Die dünnste Luftschicht genügt, um sichtbares Licht mit seinen äußerst kurzen Wellen zurückzuwerfen. Aber bei Boses kurzen elektrischen Wellen wurde die kritische Dicke des Luftraums bestimmt durch die Brechungskraft des Prismas und die Wellenlänge der elektrischen Schwingungen. Er fand einen besonderen Kristall, das Nemalit, das die Polarisation elektrischer Wellen genau so sichtbar werden läßt, wie ein Lichtstrahl durch selektive Absorption in Kristallen wie Turmalin polarisiert wird. Bose fand die Ursache in ihrer verschiedenen Leitungsfähigkeit nach zwei Richtungen hin. Die Drehung der Polarisationsebene zeigte er mittels einer Vorrichtung, die wie ein Tau gedreht war. Er konnte Rechts- und Linksdrehungen erzielen, wie auch verschiedene Zuckersorten die Polarisationsebene des gewöhnlichen Lichts nach dieser oder jener Seite drehen. Der Brechungswinkel dieser elektrischen Wellen wurde bei verschiedenen Stoffen bestimmt. Eine Schwierigkeit in der Maxwellschen Theorie wurde beseitigt; sie betraf das Verhältnis zwischen dem Brechungswinkel des Lichts und der dielektrischen Konstante der Isolatoren. Bose maß auch die Wellenlänge der verschiedenen Schwingungen. Um die kurzen Schwingungen erzeugen und wahrnehmen, sowie ihre optischen Eigenschaften studieren zu können, mußte er erst eine große Zahl neuer Apparate und Instrumente erfinden, und er hat in der Tat die Physik um eine Fülle von Apparaten bereichert, die hervorragend einfach, zweckmäßig und geistvoll sind."

Zum Schlüsse des Kapitels aber lassen wir am besten Bose selber zu Wort kommen in einer Stelle aus seinen Schriften, die die Seele aller wissenschaftlichen Forschung klar erkennen läßt: jenen Teil der wissenschaftlichen Vorstellungskraft, die Einsicht und Experiment in sich vereinigt.

"Man denke sich eine großb elektrische Orgel mit einer Unzahl von Pfeifen, deren jede einen besonderen Aetherton erzeugt, und zwar die größte Pfeife eine Schwingung in der Sekunde. Wir bekämen dann eine riesige Aetherwelle von 186000 Meilen Länge. Die nächste Pfeife erzeuge zwei Schwingungen in der Sekunde und jede weitere einen immer höheren Ton. Welche Unzahl von Pfeifen ergäbe das I Man denke sich nun, eine unsichtbare Hand drückte ganz schnell hintereinander alle Tasten .von der untersten bis zur obersten herunter. Der Aetherton wird also die Schwingungen von einer Sekunde auf zehn, hundert, tausend, auf Hunderttausende, Millionen, Milliarden steigern. Während das Aethermeer, in das wir eingetaucht sind, durch diese Unzahl von Wellen erregt wird, werden wir gar nicht davon berührt, denn wir haben keine Möglichkeit, diese Wellen wahrzunehmen. Wenn der Ätherton noch höher steigt, werden wir auf einen kurzen Augenblick Wärme verspüren. Dieser Augenblick wird eintreten, wenn die Aether-schwingungen einige Billionen in der Sekunde erreichen. Steigt der Ton noch höher, so werden unsere Augen einen rötlichen Lichtschimmer wahrnehmen. Die paar Farben, die wir sehen, sind in einer einzigen Schwingungsoktav enthalten, zwischen 400 und 800 Billionen Schwingungen in der Sekunde. Steigen die Schwingungszahlen noch höher, so versagen unsere Wahrnehmungsorgane vollständig und eine große Lücke in unserm Bewußtsein schluckt den Rest ein. Dem kurzen Aufleuchten von Licht folgt undurchdringliche Finsternis.

Wie blind sind wir! Wie eng begrenzt ist unser Wissen! Ist doch das bißchen, das wir zu sehen vermögen, nichts im Vergleich zu dem, was wirklich vorhanden ist!

Aber was heute noch dunkel ist, wird eines Tages deutlich werden. Unser Wissen wächst Stufe um Stufe, langsam aber sicher. Neuerdings sind viele wunderbare Dinge entdeckt worden. Schon haben wir dann und wann unsichtbare Lichter aufleuchten sehen. Eines Tages, in vielleicht nicht allzuferner Zukunft, werden wir Lichtstrahlen wahrzunehmen vermögen, sichtbare und unsichtbare, die in ununterbrochener Folge ineinander übergehen."

V. WEITERE PHYSIKALISCHE FORSCHUNGEN UND IHRE WÜRDIGUNG

Die im letzten Kapitel beschriebenen wissenschaftlichen Errungenschaften Boses wurden von der wissenschaftlichen Welt bald übernommen, desgleichen seine Lehrbücher ins Englische und in andere europäische Sprachen übersetzt, und durch Lord Rayleigh, dessen immer gleichbleibende Zuneigung der schönste Ansporn für den jungen Forscher war, in einer ganzen Reihe von Abllandlungen der Royal Society übermittelt.

Der Hauptinhalt dieser Abhandlungen wurde auch breiteren Kreisen auf dem üblichen Wege, durch zahlreiche Vorträge, vermittelt, deren Krönung eine Vortragsreihe im Rahmen der bekannten Freitagabende der Royal Institution war, die seit altersher eine so günstige Stätte zur Bekanntgabe neuer Forschungen ist.

Die an Bose ergangene Einladung, diese Vortragsreihe zu übernehmen, machte auf die indische Regierung so starken Eindruck, daß sie ihm drei Monate Sonderurlaub gewährte, um sie vorzubereiten und durchzuführen. Die Aufnahme war durchaus würdig und anerkennend. Die Teilnahme der wissenschaftlichen Oeffentlichkeit an Boses Werk war seit langem geweckt, nicht nur durch die Abhandlungen der Royal Society und die Veröffentlichung umfassender Auszüge und zustimmender Aufsätze im Electrician und anderen technischen Zeitschriften, sondern auch durch Boses erstes Auftreten in England auf der Liverpooler Tagung der British Association. Als Bose dort seinen Vortrag beendet hatte, klatschte Lord Kelvin nicht nur herzlichst Beifall, sondern eilte in die Damen-gallerie hinauf, um Frau Bose begeistert zu der glänzenden Leistung ihres Gatten zu beglückwünschen. Ueberdies waren Tagespresse und öffentliche Meinung ihm günstig gesinnt, weil er der erste Inder war, der sich durch wissenschaftliche Forschungen auszeichnete, und zwar auf einem bislang ausschließlich von Europäern beackerten Felde, das überdies zur Zeit das fortgeschrittenste war.

Nachdem das vergangene Jahrhundert uns eine Fülle von Leistungen auf dem Gebiete der angewandten Physik hinterlassen hatte - das erste transatlantische Kabel, ferner elektrisches Licht, Fernsprecher, Grammophon, Röntgenstrahlen usw. - bereitete sich in der Stille ein neues Wunder vor, das eines Tages die Welt überraschen sollte : die Entwicklung der drahtlosen Telegraphie auf Grund der Hertzschen Wellen, von der Hertz selber schon eine Vorahnung gehabt zu haben scheint, und zu der verschiedene spätere Forscher ihren Weg suchten, so Lodge und vor allem Marconi. Bose selbst hatte schon 1895 in einem öffentlichen Vortrag zu Kalkutta gezeigt, wie elektrische Wellen von dem Vortragsraum durch ein Zimmer und einen Gang in einen dritten, 25m vom Sender entfernten Raum ihren Weg fanden. Dabei durchdrangen sie drei dicke Mauern und den Körper des Vorsitzenden (es war der Vizegouverneur). Der Empfänger hatte auch auf diese Entfernung noch genug Kraft, eine Klingel in Bewegung zu setzen, eine Pistole abzuschießen und eine winzige Mine zu sprengen. Um mit seinem kleinen Sender dieses Ergebnis zu erzielen, stellte Bose einen Apparat auf, der die luftige Antenne der drahtlosen Telegraphie vorwegnahm : eine kreisrunde Metallplatte an der Spitze einer 7 m hohen Stange war mit dem Sender und eine ähnliche mit dem Empfänger verbunden. Von seinen Erfolgen ermutigt, ging der Erfinder weiter: er signalisierte nicht nur durch das ganze College, sondern plante auch, eine solche Stange auf dem Dach seines Hauses und eine zweite auf dem eine Meile entfernten Presidency College anzubringen. Bevor er das jedoch ausführen konnte, reiste er nach England.

Als The Electrician im Jahre 1895 Boses Arbeiten über elektrische Wellen veröffentlichte, lenkte er im Rundschaubeitrag die Aufmerksamkeit auf die Verwendungsmöglichkeiten der Entdeckung

"zur Anlage elektromagnetischer Leuchttürme. Der Empfänger an Bord des Schiffes ist ein elektrisches Gegenstück zum menschlichen Auge. Die Entwicklung brauchbarer Krafterzeuger kann nach unserer Ansicht nur geringe Schwierigkeiten bereiten. Einen geeigneten Empfänger zu bauen, dürfte indessen nicht ohne beträchtliche Hindernisse möglich sein. In diesem Zusammenhang möchten wir die Aufmerksamkeit auf die von Professor Bose erfundene ausgezeichnete, brauchbare Form des "Kohärer" lenken, die er am Schlüsse seines Aufsatzes "Ueber ein neues Elektro-Polariskop" beschreibt. Die Empfindlichkeit und Reichweite dieses Kohärertyps dürfte nur wenig zu wünschen übrig lassen. Er wird sicher die unzähligen Erschütterungen einer Seefahrt viel besser aushallen, als irgendeine sonstige bisher herausgebrachte Form."

Und nachdem dann Bose seine Freitagabendvorträge in der Royal Institution gehalten hatte, drückte The Electric Engineer seine Verwunderung darüber aus, "daß der Bau dieser Erfindung keinen Augenblick geheim gehalten worden sei, so daß die ganze Welt in der Lage sei, sie für wissenschaftliche und vielleicht auch geschäftliche Zwecke zu verwerten." Bose wurde überhaupt öfters, und nicht ohne Grund, der Vorwurf gemacht, er sei unpraktisch, weil er keinen Gewinn aus seinen Erfindungen ziehe. Aber diese Frage war von vornherein für ihn erledigt. In seiner Kindheit hatten die reinen weißen Blumen, die in Indien beim Gottesdienst dargebracht werden, einen unvergeßlichen Eindruck auf ihn gemacht. Und schon in jungen Jahren nahm er sich vor, was sein Leben an Erfolgen bringen möge, nicht durch Erwägungen über Gewinn beflecken zu lassen. Außerdem war ihm Gewinnsucht, die er selbst bei Wissenschaftlern beobachtete, und die er für ein Anzeichen von Entartung hielt, von jeher besonders schmerzlich gewesen. So beschloß er damals schon, niemals persönliche Vorteile aus seinen Erfindungen zu ziehen.

1901 unterbreitete, kurz bevor Bose den fälligen Jahresvor-trag vor der Royal Institution hielt, einer der bedeutendsten Fabrikanten von Apparaten für drahtlose Telegraphie ihm einen sehr günstigen Kaufvertrag für seine neue Empfängerform. Zur größten Ueberraschung, um nicht zu sagen Enttäuschung des Geschäftsmannes lehnte er das Angebot ab. Ein amerikanischer Freund, der sich über diese scheinbar unpraktische Donquichoterie ärgerte, ließ die Erfindung auf seinen Namen in Amerika patentieren, aber Bose weigerte sich, die Rechte auszunützen und ließ das Patent verfallen. Infolgedessen wurde sein Kohärer überall benützt, bis er durch eine neue Form ersetzt wurde.

Man darf offen zugeben, daß es unter den augenblicklichen industriellen und wirtschaftlichen Verhältnissen tatsächlich oft ausgeschlossen ist, gewisse nützliche und wünschenswerte Erfindungen auszubauen und einzuführen, wenn man sich nicht den üblichen Geschäftsformen anpaßt. Im Hinblick auf die herrschenden Ansichten über wirtschaftliche Fragen ist es vielleicht nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß bei Bose keinesfalls von Donquichoterie die Rede sein kann. Er handelt, kurz gesagt, wie die alten indischen Rishis und wird daher auch immer mehr von seinen Landsleuten als moderne Erscheinungsform eines alten Weisen angesehen.

Als sich Boses Englandaufenthalt im Jahre 1897 seinem Ende zuneigte, wurde er von hervorragenden Mitgliedern der Pariser Physikalischen Gesellschaft eingeladen, auch dort über seine Forschungsergebnisse zu sprechen, und bald darauf ebenso von den führenden deutschen Physikern in Berlin. In der Societe de Physique übernahm M. Cornu den Vorsitz, einer der früheren Präsidenten der Akademie der Wissenschaften und selbst alterprobter Forscher auf dem Gebiete der Optik und Elektrizität, dessen hochherzige Anerkennung der Verdienste Boses zu den liebsten Erinnerungen des indischen Gelehrten zählt. Lippmann, damals schon durch seine Erfindung der Farbenphotographie berühmt, Cailletet, dem als einem der ersten gelungen war, Gase flüssig zu machen, und andere hervorragende Fachleute waren zugegen. Lippmann und andere waren so begeistert, daß sie auf einer weiteren Vorführung in der Sorbonne bestanden. Kurz darauf wurde Bose zum Ehrenmitglied der Societe de Physique ernannt.

In Berlin sprach Bose vor der Akademie der Wissenschaften, die einen umfassenden Ueberblick über seine Versuche druckte. Zu seinem Vortrag kamen nicht nur die in Berlin ansässigen Physiker, sondern auch weit entfernt wohnende. So machte der alte Professor Quincke von Heidelberg, der lebhafteste Teilnahme an der Sache zeigte und Boses Apparat nachzubauen versucht hatte, eigens die lange Reise und lud Bose ein, sein Laboratorium zu besuchen. In Berlin war es auch, daß Professor Warburg, der Nachfolger Helmholtz', einem Forscher, der ihn um Rat fragte, ob er sich mit elektrischen Wellen befassen solle, die Antwort gab: "Bose hat ihnen so gut wie nichts mehr zu tun übrig gelassen, versuchen sie lieber etwas anderes!" Eine Fahrt nacli Kiel, wo er an der Universität vortrug und Ebert, einen bedeutenden Fachmann auf elektromagnetischem Gebiete besuchte, und dann ein angenehmer Aufenthalt in Heidelberg, wo er Quincke, Lenard und andere traf, beendete die Reise. Von Marseille aus trat Bose die Heimfahrt an.

Aus diesem Bericht über die Erfolge der wissenschaftlichen Europareise ergibt sich wohl überzeugend, daß das althergebrachte Vorurteil Europas, die Inder seien zu wissenschaftlichen Arbeiten im höheren Sinne unfähig, geschwunden war. Bose war hier tatsächlich der Bahnbrecher, dem es gelang, die so lange, anscheinend für immer verschlossene Tür aufzustoßen und so seinen Landsleuten den Weg zu selbständiger und schöpferischer Wissenschaft zu erschließen.

Sir Henry Roscoe, der Vizekanzler der Universität London, gab in dem Bericht über Boses Leistungen ausdrücklich zu, daß die östlichen Völker ebenso fähig seien wie das Abendland, große wissenschaftliche Entdeckungen zu machen und schöpferische Experimentatoren hervorzubringen. Und Lord Reay, der ehemalige Gouverneur von Bombay, lenkte als Staatsmann die Aufmerksamkeit auf Indiens bedeutsame Beiträge zur Wissenschaft: "Denn die Wissenschaft ist unbedingt international, und jedes Ergebnis, das Bose in Indien erzielt, können wir ohne Widerspruch übernehmen."

Nicht nur auf die wissenschaftliche Welt machte diese Zusammenarbeit zwischen Osten und Westen zur Förderung wissenschaftlicher Zwecke Eindruck. Begeisterung äußerte sich auch da, wo man sie gewiß nicht erwartet hätte. Die Lon- -doner Zeitschrift Spectator hatte sich indischen Ansprüchen gegenüber immer kritisch verhalten. Aber der Herausgeber hatte, sich doch von Neugierde verlocken lassen, Boses Vorträgen in der Royal Institution beizuwohnen. In der darauffolgenden Woche erschien ein langer Leitaufsatz, aus dem ich folgenden Auszug wiedergeben möchte:

"Es ist für unsere Einstellung immerhin ein eigentümlich anziehendes Schauspiel, das sich bietet, wenn ein reinrassiger Bengale in London vor einer Versammlung angesehener europäischer Gelehrter über eines der dunkelsten Gebiete der neueren Physik liest. Es liegt zum mindesten die Möglichkeit nahe, daß wir eines Tages einen unschätzbaren Zuwachs zu der großen Schar derer erleben, die durch schärfste Beobachtung und geduldige Versuche der Natur eines ihrer am vorsichtigsten gehüteten Geheimnisse zu entwinden suchen. Gerade den Völkern des Ostens ist eine starke Einbildungskraft eigen, die aus einer Masse scheinbar zusammenhangsloser Einzelheiten eine Wahrheit herauszuholen vermag, die Gewohnheit einer auch nicht die geringste Abschweifung erlaubenden Konzentration, wie sie große Mathematiker kennzeichnet, und eine Ausdauer - Geduld sagt nicht ganz dasselbe -, wie man sie bei einem Europäer kaum je findet. Wir kennen Professor Bose nicht, wagen aber die Behauptung, er würde, wenn er mit seiner wissenschaftlichen Vorstellungskraft auch nur eine Spur eines der Menschheit unbekannten, aber unablässig den Aether durchschweifenden wunderwirkenden "Strahles" erfaßte und dessen Eigenschaften und Möglichkeiten im Experiment feststellen zu können glaubte, bis an sein Lebensende unablässig experimentieren und auf dem Sterbebette das Werk seinem Nachfolger übergeben würde, sei dieser ein Sohn oder Schüler. Nichts wäre ihm bei seinen Untersuchungen zu mühsam, nichts bedeutungslos, nichts lästig, genau wie einem echten Sanyasi, der nach den letzten Beziehungen seines eigenen Geistes zum göttlichen sucht. Man stelle sich einmal vor, wie unsere Forschungsmittel bereichert würden, wenn nur tausend Menschen sich der wissenschaftlichen Forscherarbeit mit dieser Sanyasi-Einstellung widmeten, die den Körper völlig beherrscht und unausgesetzt forschen und sinnen kann, solange das Leben währt, ohne auch nur einen Augenblick die Sache aus dem Auge zu verlieren, sie nur einen Augenblick durch irdische Versuchungen trüben zu lassen.

Wir sehen den Grund nicht ein, weshalb sich der Geist Asiens nicht von jenen unlöslichen Rätseln abwenden und sich dafür voll leidenschaftlichen Durstes und Hungers auf die Erforschung der Natur werfen sollte, die unendlich ist, sich aber stets Erfolge abringen läßt - manchmal vielleicht mehr Unglück- als glückbringende, die aber in jedem Falle den Grund zu weiterzielenden neuen Forschungen abgeben können. Trete dies ein - und Professor Bose ist unbedingt ein lebendes Beispiel dafür, daß es eintreten kann - so wäre das die größte Steigerung menschlicher Geisteskraft, die bisher erreicht wurde."

Die Times faßte sich etwas kürzer wie folgt: "Die Eigenart der Leistung wird durch den Umstand noch gesteigert, daß Bose sein gesamtes Werk neben den zahlreichen Arbeiten schaffen mußte, die ihm aus seiner Physikprofessur in Kalkutta erwuchsen, und mit Apparaten und Hilfsmitteln, die man bei uns zulande als durchaus ungenügend abweisen würde. Er mußte sich die Apparate für seine Arbeiten immer erst selbst bauen. Sein Werk ist der Ertrag seiner zwiefachen Arbeit in Apparatebau und Forschung."

Viele Männer der Wissenschaft wollten ihre Wertschätzung der bedeutsamen Leistungen Boses auch durch die Tat be-, zeugen. Ihr gegebener Sprecher, Lord Kelvin, war sich durchaus über die geradezu unmöglichen Verhältnisse klar, unter denen Bose bisher hatte arbeiten müssen. Er schrieb dem damaligen Staatssekretär für Indien, Lord George Hamilton: "Es würde das Ansehen Indiens und der wissenschaftlichen Ausbildung in Kalkutta nur fördern, wenn die Arbeitsmöglichkeiten der dortigen Universität in Verbindung mit der Professur Boses durch ein wohlausgestattetesphysikalischesLaboratorium erweitert würden."

Dem Schreiben folgte eine Denkschrift, die die Aufmerksamkeit des Staatssekretärs darauf lenkte, "wie bedeutsam es wäre, wenn im indischen Reich in Verbindung mit dem Presidency College zu Kalkutta ein Zentrallaboratorium für höheren Unterricht und höhere Forschung eingerichtet würde. Es würde, so glauben wir, nicht nur der höheren Bildung sehr zugute kommen, sondern auch das wirtschaftliche Gedeihen des Landes wesentlich fördern. Wir gestatten uns daher, Ihnen eindringlich nahezulegen, wie sehr wünschenswert es wäre, in Indien ein physikalisches Institut einzurichten, das des britischen Reiches würdig wäre."

Die Denkschrift war unterzeichnet von Lord Lister, dem damaligen Vorsitzenden der Royal Society, Lord Kelvin, den Professoren Clifton, Fitzgerald, Poynting, Silvanus Thompson, Sir William Rücker, Dr. Gladstone, Sir William Ramsay, Sir Gabriel Stokes und ändern.

Der Staatssekretär zeigte sich für die Anregung zugänglich und unterbreitete im Mai 1897 der indischen Regierung ein Schreiben, mit dem er die Denkschrift in empfehlendem Sinne weiterleitete, "in der Ueberzeugung, die Frage der Errichtung einer Anstalt, wie die Beilage sie schildert, verdiene von Ew. Exzellenz im Staatsrat erwogen zu werden".

Der damalige Vizekönig, Lord Elgin, sagte Bose, die Zentralregierung sei seinem Plan sehr günstig gestimmt und werde mit der Regierung Bengalens in Verbindung treten. Das geschah dann auch auf dem Dienstweg, doch trug der Akt die Bemerkung, wenn der Plan auch sehr wichtig sei, könne die Ausführung doch auf später verschoben werden. Bose wußte recht gut, was dahinter steckte. Es war ihm zwar geglückt, das India Office und die Regierung zur Anerkennung der berechtigten Ansprüche wissenschaftlicher Arbeit zu bringen. Aber zugleich war er sich auch völlig darüber klar, daß alle Arbeiten der Regierung jederzeit durch die in den einzelnen Abteilungen vorhandenen Hemmungen vereitelt werden konnten. Seine Freunde in England wollten alles Menschenmögliche tun, um bei der Regierung die Sache zu fördern, wenn er ihnen nur mitteilen wollte, wo die Hindernisse steckten. Das hätte aber für ihn Vertagung seiner wissenschaftlichen Arbeit auf unbestimmte Zeit bedeutet. So entschloß er sich, den alten Schwierigkeiten zu begegnen, so gut er konnte, und auf alle Hilfe zu verzichten, die die Regierung vielleicht bieten, die ihm aber aller Voraussicht nach nur wenig nützen konnte. Es ist merkwürdig, daß plötzlich alle diese Hindernisse schwanden, als die Zeit heranrückte, da Bose sein Rücktrittsalter erreichte. Nun wurde der Plan, für den er so manches Jahr gekämpft, auf einmal verwirklicht: 1914 wurde ein großartig ausgestattetes physikalisches Laboratorium eingerichtet. Kam es auch zu spät, um ihm noch viel zu nützen, so hatte er doch einen Trost: er konnte das Presidency College in besserem Zustande zurücklassen, als er es seinerzeit angetroffen. Schüler, die er herangebildet hatte, leiteten jetzt die physikalischen Abteilungen in den Laboratorien verschiedener Colleges. Sein Mühen war also doch nicht ganz vergeblich gewesen.

Daß Bose sich damals nicht stärker für die Sache eingesetzt hatte, war, wie sein Verhalten in manchen früheren Angelegenheiten, vielen töricht und unpraktisch erschienen. Wich er auch niemals Kämpfen um Grundsätzliches aus, so verhielt er sich doch gleichgültig, wo persönliche Vorteile in Frage standen. Auf die Kritik seiner Freunde erwiderte er, er habe sich schon vor langen Jahren entschlossen, nie den leichteren, immer den schwierigeren Weg zu gehen. Das erscheine ihm als Mann das Gegebene.

Aber wenn er auch auf den Vorteil verzichtete, die allgemeine Anerkennung seines Werkes auszunützen, um sich weitere Forschungen zu erleichtern, so blieb es doch sein Traum, diese Erleichterung für seine Nachfolger zu erlangen. Deshalb war er mehr denn je entschlossen, ein Forschungsinstitut zu gründen, wenn irgend möglich aus eigener Kraft und aus eigenen Ersparnissen. Wieder einmal schränkten er und seine Frau sich soviel als möglich ein und sparten treulich einen Teil jedes Gehaltes und jeder Einnahme aus Universitätsprüfungen, aus Büchern und Vorträgen. Diese Summen legte er in Hypotheken an, deren Wert sich in zwanzig Jahren verdreifachte. Ganz unerwartet hatte er auch noch Glück. Dem Dienstalter nach und auf Grund seiner hervorragenden Leistungen kam er für den höchsten Posten im Volksbildungs dienst, für die Stelle eines Direktors des öffentlichen Unterrichts in Betracht. Aber er blieb lieber als Professor im Pre-sidency College. Auch dort war er seinem Alter entsprechend Anwärter auf die höchste Stelle, die mit einer Gehaltszulage verbunden war. Bose hatte sich in seiner gewohnten Gleichgültigkeit nie um die Rangliste gekümmert, sonst hätte er feststellen müssen, daß seine Beförderung auf den leitenden Posten längst fällig war. Die Provinzialbehörde aber hatte es nicht für nötig erachtet, die Regierung auf diese Tatsache aufmerksam zu machen. Als diese Behörde nun aber kurz vor Boses Pensionierung die Bewerbung eines jüngeren Beamten einreichte, fragte die Regierung an, warum denn die viel älteren Ansprüche Boses nicht gemeldet worden seien. Da keine genügende Aufklärung erfolgte, veröffentlichte die Regierung Boses Beförderung mit rückwirkender Kraft. Die sehr beträchtliche Nachzahlung überschrieb er sofort auf das Konto des Forschungsinstituts, das in einigen Jahren Wirklichkeit werden sollte. Dazu kam noch das Vermögen eines alten hochgeschätzten Freundes.

Zur Ehre der Regierung muß gesagt werden, daß sie Boses Antrag, ihn bei seinen Forschungen zu unterstützen, nicht von vornherein abwies. Als Lord Curzon Vizekönig wurde, wollte er die Sache wieder aufgreifen. Da er selbst aber kein Wissenschafter war, fragte er vier englische Gelehrte um ihre Meinung. Die beiden Physiker unter den Angefragten kabelten zurück, sie schätzten Boses Arbeiten ungemein hoch. Die beiden ändern waren jedoch als Physiologen, wie wir später sehen werden, samt allen ihren Kollegen Bose feindlich gesinnt und deshalb gegen den Plan. So zwischen zwei einander entgegengesetzte Ansichten gestellt, wählte der Vizekönig einen Ausweg, indem er Bose beim Durbar in Delhi 1902 den Orden vom "Companionship of the Indian Empire" verlieh.

VI. FORTSETZUNG DER PHYSIKALISCHEN FORSCHUNGEN

Die Theorie von der Molekularspannung und ihre Deutungsversuche

Man vergegenwärtige sich noch einmal Branlys Empfänger elektrischer Wellen (Kapitel IV), von Lodge "Kohärer" genannt auf Grund seiner schlichten und fesselnden These, daß durch die Induktionswirkung der elektrischen Wellen die Metallteilchen an ihren Berührungspunkten miteinander verschmolzen würden. Weiter erinnere man sich, wie unregelmäßig und schwierig damit zu arbeiten war, was alle Beobachter mehr oder weniger empfanden, und daß dies durch Boses neue Konstruktion des Empfängers vermieden wurde. Wie wir sahen, glückte es Bose, einen äußerst zuverlässigen Empfänger für elektrische Wellen zu bauen, zuerst aus Stahlsprungfedern, die später auf galvanischem Wege mit Kobalt überzogen wurden, um nicht zu oxydieren. Auch der Bau weiterer Empfänger glückte ihm, die außer ihrer hohen Empfindlichkeit noch den Vorzug hatten, sich von selbst zu "erholen". Durch etwas stärkeren Kontaktdruck und gesteigerte Stromerzeugung im Stromkreislauf des Empfängers konnte er die Empfindlichkeit seines Empfängers bis zu jeder gewünschten Höhe steigern. Doch nach all diesen Verbesserungen machte sich eine ganz neue Unregelmäßigkeit geltend. Nachdem ein paar Stunden lang ununterbrochen experimentiert worden war, wurde der Empfänger weniger empfindlich, und als die Versuche noch länger ausgedehnt wurden, immer unempfindlicher, gerade als wenn er müde würde. Was konnte diese Ermüdungserscheinung bedeuten? Wenn man den erschöpften Empfänger einige Stunden rasten ließ, wurde er wieder empfindlich. In der naheliegenden Erwartung, längere Rast werde die Emp findlichkeit steigern, ließ Bose den Apparat einige Tage unberührt stehen. Solch überraschendes Ergebnis hatte er allerdings nicht erwartet: der Apparat war wieder ganz unempfindlich geworden, und diese Unempfindlichkeit konnte nicht, wie zuvor, durch Rast behoben werden. Doch durch einen elektrischen Schock gelang es Bose, den "trägen" Empfänger wieder zu erregen. Der Erfolg war überraschend: der Apparat fand seine alte Empfindlichkeit wieder. Es hatten sich also in den beiden Fällen zwei ganz verschiedene Behandlungsweisen als notwendig ergeben: Ruhe für den "erschöpften" und Aufpeitschung für den "trägen" Empfänger.

Die bisherige Theorie vom "Kohärer" war also unzulänglich. Denn wenn die Abnahme des Widerstands bei Reizung von außen einfach durch ein Zusammenschmelzen der Feilspänchen erzielt wurde, so mußte sie ganz unabhängig von allem sein, was vorher mit dem Apparat geschehen war, also von der kurzen Rast, die den "Erschöpften" wieder empfindlich machte, und von der verlängerten Rast,. die die Empfindlichkeit wieder bis zur völligen "Trägheit" schwinden ließ.

Der Versuch, diese Störungen zu erklären, führte Bose auf ganz neue und unabsehbare Forschungsgebiete. Er schrieb zwei Arbeiten darüber2 , in denen die Ausdrücke "elektrische Berührung" oder Berührungsempfindlichkeit gewählt wurden, um die im Ausdruck "Kohärer" liegende Theorie zu vermeiden, und auch aus dem Grund, weil die Art der Gegenwirkung von der Berührungsfläche und nicht vom Kern abhing. Wenn man ein unempfindliches Metall, wie etwa Kupfer, mit einer dünnen Schicht von empfindlichem Metall, wie Kobalt, überzieht, wurde es außerordentlich stark empfindlich, während ein hochempfindliches Metall, wie Eisen, das man mit einer dünnen Schicht unempfindlichen Metalls (Kupfer) überzieht, wenig " oder gar nicht reagiert. Bose begann zunächst eine planmäßige Untersuchung der Berührungsempfindlichkeit aller erreichbaren Metalle, Nichtmetalle und Metalloide. Viele seltenere Metalle waren gerade nicht zu haben, aber in einigen Fällen isolierte er die Elemente in einem elektrischen Ofen von ihrer Umgebung und überwand durch immer neue Versuche viele andere Schwierigkeiten, die sich ihm beständig in den Weg stellten.

Die Metalle untersuchte er in der Reihenfolge ihres Atomgewichts. Beginnend mit Lithium als Träger des geringsten Atomgewichts (7) bis zu Blei, das das hohe Atomgewicht von 205 hat, war er sehr überrascht, zu finden, daß die elektrische Berührung einen periodischen Wechsel ergab. Wo ein Stoff unter elektrischer Bestrahlung eine Zunahme in der Leistungsfähigkeit aufwies, stellte er dessen "Berührungszeichen" als positiv fest. Das ist typisch für den aus Eisen hergestellten Kohärer. Die Minderung des Widerstandes war nun aber nicht etwa allgemein. Boses Forschungen ergaben die erstaunliche Tatsache, daß bei Kalium eine genau entgegengesetzte Wirkung eintrat, nämlich eine Steigerung des Widerstandes. Ein mit Kalium hergestellter Empfänger hatte überdies die Eigenschaft, sich sehr rasch und ganz von selbst, ohne jeden äußeren Anstoß, zu erholen. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß eine Zunahme des Widerstandes und die selbsttätige Erholung des Kohärers nicht von der vermuteten Verschmelzung und Verbindung benachbarter Partikelchen durch den Induktionsfunken herrühren konnten. Ob die Reaktion positiv oder negativ ist, hängt von der chemischen Eigenart der Substanz ab. Die Erscheinung muß also von molekularen Veränderungen herrühren.

Indem Bose die Elemente nach der Zunahme des Atomgewichtes ordnete, ergab sich, wie oben bemerkt, daß die "elektrische Berührung" eine auffallende Periodizität aufwies, wie es die beigegebene Zeichnung andeutet. Alle oberhalb der Waagerechten verzeichneten Elemente sind positiv, alle darunter befindlichen negativ. Diejenigen, die sich mehr oder weniger neutral verhalten, kommen in die Nähe der Linie oder auf diese selbst zu liegen. Für sie sind Kupfer und Silber typisch.

Im Verhalten verschiedener Metalle ergaben sich noch andere Unterschiede. In einigen Fällen war der unter elektrischem Einfluß erzielte Wechsel des Widerstandes nicht von Dauer, die betreffende Substanz kehrte vielmehr vollkommen in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Es war, als ob die Moleküle durch die einwirkende Kraft in Spannung versetzt worden wären. Unter elektrischer Einwirkung waren einige sehr elastisch und erholten sich schnell wieder. Andere wieder waren weniger elastisch, die "gespannten" Moleküle blieben in ihrem Zustand und erholten sich nur außerordentlich langsam. In solchen Fällen beschleunigte alles, was eine Molekularstörung hervorrief, z. B. die Einwirkung von Wärme, die selbsttätige Erholung. Sogar Stoffe wie Eisen, die als Nachwirkung einer elektrischen Anregung leitend blieben, erholten sich ganz von selbst, wenn sie bei höherer Temperatur gehalten wurden.
Fig. I. Periodizität der elektrischen Erregung. Auf der Abszisse sind die Atomgewichte dargestellt, auf der Ordinate, ob die Erregung positiv oder negativ ist.
Fig. I. Periodizität der elektrischen Erregung. Auf der Abszisse sind die Atomgewichte dargestellt, auf der Ordinate, ob die Erregung positiv oder negativ ist.

Die Beobachtung dieser verschiedenen Eigentümlichkeiten führte Bose zu der Vermutung, elektrische Strahlung erzeuge eine Molekularveränderung "allotroper" Art, ähnlich den allotropen Veränderungen im Schwefel und Phosphor unter der Einwirkung von Licht.

Die Wirkung des Lichtes auf verschiedene Stoffe ist ja allgemein bekannt, wird aber nur selten richtig verstanden. Jeder hat schon beobachtet, wie Farben verblassen, wenn sie dem Lichte ausgesetzt sind. Die Chemiker wissen schon lange, daß gelber Phosphor, der in roten verwandelt wird, weniger gefährlich ist, weil er an der Luft nicht so schnell oxydiert, sich also nicht so leicht entzündet wie der gelbe. Schwefel, der dem Licht ausgesetzt ist, ändert sich nicht sichtbar. Behandelt man ihn aber mit Schwefelkohlenstoff, der sonst gewöhnlichen Schwefel so leicht auflöst, so zeigt sich, daß er durch das Licht irgendwie unlöslich gemacht worden ist. Auf diese Erscheinung von Allotropismus werden wir später noch zurückkommen. Es genügt zunächst, festzuhalten, daß die Wirkung von Licht auf gewisse Körper in einzelnen Fällen unmittelbar wahrnehmbar ist, in anderen jedoch nicht. Wie aber sollen wir vorgehen, um diesen Wandlungen experimentell beizukommen? Kann man den Vorgang selber erhäschen ? Wie soll man zwischen belichteten und nichtbelichteten Stoffen unterscheiden? Man weist gern auf die* photographische Platte als Beispiel hin. Aber so sehr sich die Chemiker auch bemüht haben, den Vorgang (etwa bei der Reduktion von Silberchlorid und bei dessen Rückverwandlung in metallisches Silber) zu klären, - die verwandelte Stoffmenge ist viel zu gering, um analytisch nachgeprüft werden zu können. Bose zeigte Wege, wie man sie elektrisch feststellen könne. Das Galvanometer ist für solche Untersuchungen unvergleichlich viel empfindlicher als chemische Berechnungen.

Nun muß eine allotrope Variation oder Aenderung der Molekularanhäufung in einer Substanz nach Bose mehr oder weniger deren sämtliche physikalischen und chemischen Eigenschaften verändern, z. B. ihre Löslichkeit, Dichte, chemische Aktivität und ihre Stellung in der Voltaschen Reihe, auch ihre mehr oder minder große Leitungsfähigkeit. Man beachte in diesem Zusammenhang den bekannten Unterschied der Leitungsfähigkeit bei den drei allotropen Modifikationen von Kohle. Holzkohle leitet ausgezeichnet, Graphit nur mäßig, Diamant so gut wie gar nicht. Nennen wir diese Stufen A, B und C. Wenn wir Graphit (B) in Holzkohle (A) verwandeln könnten, würden wir eine Steigerung der leitenden Eigenschaften feststellen. Könnten wir ihn in Diamant (C) verwandeln, dagegen eine Abnahme. Die unsichtbaren molekularen Veränderungen können so durch diesen scharfsinnigen elektrischen Versuch aufgezeigt werden, der aller chemischen Berechnung weit überlegen ist, weil diese für die Analyse große Mengen braucht und viel Zeit erfordert, während welcher die Substanz ganz von selbst wieder in ihren früheren Zustand zurückkehren kann.

Daß allotrope Umwandlungen auf elektrischem Wege festgestellt werden können, vermag man auch noch auf andere Weise zu zeigen. In einer Selenzelle verursacht eindringendes Licht eine Steigerung der Leitungsfähigkeit. Wird das Licht entfernt, dann tritt der alte Zustand wieder ein. Wenn der Einfluß mäßig ist, geschieht das sehr schnell. Ist er stärker, das Licht also sehr grell, so dauert es viel länger. Aber Licht ist nicht die einzige Ursache solcher allotroper Umwandlungen. Auch Wärme vermag sie hervorzurufen. Wenn man gewöhnliches Quecksilberjodid ganz dünn aufträgt, gibt es eine rote Schicht. Bestrahlt man es aber mit Wärme, so wird es in eine gelbe, allotrope Abart umgewandelt. Wenn man die Wärmestrahlen ausschaltet, erholt es sich wieder. Die Rückverwandlung kann durch Kratzen beschleunigt werden. Die dünne Schicht wird dann wieder rot. Bose fand, daß sich mit dieser sichtbaren Veränderung auch der elektrische Widerstand veränderte.

Zusammenfassend finden wir also, daß bei Stoffen, die sich wie Eisen verhalten, mit positivem Vorzeichen die Veränderung eine Steigerung der Leitungsfähigkeit bedeutet, bei solchen, die sich wie Kalium verhalten, dagegen eine Minderung. Genau so, wie alle Stoffe nach ihren magnetischen Eigenschaften in zwei Klassen zerfallen, paramagnetische und diamagnetische, so kann man auch alle Stoffe in zwei Gruppen teilen, von denen die eine positiv, die andere negativ reagiert.

Bose hatte hier neue Klassen elektrischer Erscheinungen entdeckt. Wir können diese beiden Klassen leitender Körper (denn der Versuch war nur bei gut leitenden Körpern möglich) als "berührungspositiv" und "berührungsnegativ" bezeichnen. Von fast neutralen, aber doch ein wenig positiven Stoffen - wie Silber - konnte Bose durch chemische Mittel eine negative Abart erzielen, die mit verminderter Leitungsfähigkeit reagierte. Diese Abart erwies sich als wenig beständig, da Wärme sie schnell in die alte Form zurückverwandelte. Auch durch Reizwirkungen vermochte er wiederholten Wechsel zu erzielen, so daß er also eine Zickzackkurve erhielt. Die in verschiedenen Stoffen durch elektrische Bestrahlung erzeugte Veränderung deutete Bose ganz einfach als Molekularspannung infolge äußerer Einwirkungen. Er stellt sich die Frage, ob solche Veränderungen, wenn Dauer und Wahrnehmbarkeit ausreichen, dem Physiker nicht einen Einblick in die bislang rein empirische Sammlung "allotroper Stoffe" des Chemikers gewähren, vielleicht sogar eine Möglichkeit, sie weiter zu erforschen ? Denn wenn der so entdeckte vorübergehende Allotropismus als Molekularspannung, die sich jedoch wieder zurückbilden kann, gedacht werden kann, dann wird auch der verhältnismäßig beständige gewöhnliche Allotropismus verständlich, nämlich als eine Ueberspannung, deren selbsttätige Entspannung unter gewöhnlichen Umständen schwierig oder ganz unmöglich ist.

Von dieser feinen Untersuchungsmethode wurde mit Recht gesagt, sie sei "in vieler Hinsicht sehr verheißungsvoll für die Erforschung der Molekularphysik" . . . Die Fülle der Erscheinungen ist unbegrenzt. Denn bei jedem Stoff müssen wir die besondere chemische Beschaffenheit berücksichtigen, seine Reaktion auf die Aetherwellen, und die Molekular-Viskosität. Das alles zusammengenommen ergibt für jeden Stoff seine besondere und eigenartige Kurve. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Kurven uns manchen Aufschluß über die chemische Eigenart und physikalische Beschaffenheit der verschiedenen Stoffe geben. Boses neue Untersuchungen sollten uns eine ganz neue Art von Erscheinungen enthüllen, von denen uns die Elektro-Optik nichts ahnen ließ: die verschiedene Reaktion der Metalle, sobald sie zur Herstellung von Kohärern oder besser von Empfängern verwendet werden. Hier zeigte sich, um zu den oben erwähnten chemischen Anregungen zurückzukommen, eine hochbedeutsame Beziehung zwischen elektrischen Eigenschaften und Atomgewicht. Das Ergebnis bot manch anregende Aehnlichkeit mit Mendeleeffs berühmter Klasseneinteilung und reizte infolgedessen zu neuen Untersuchungen.

Zurückkommend nun wieder zum Wesen der elektrischen Strahlung, das wir in Kapitel IV besprachen, handelt es sich also erstens um ein ausgedehntes Spektrum mit immer längern Wellen jenseits der Wärmewellen und die sich doch, wie Maxwell ahnte und Hertz bewies, ähnlich verhalten wie Lichtwellen; sodann stimmen sie bezüglich Reflexion, Brechung, Polarisation und anderer durch Bose immer genauer festgestellten Phänomene mit diesen überein. Kurz, ein Fortschritt der Elektro-Optik.

Wir kommen nun zu einer dritten Gruppe von Problemen : den Wirkungen verschiedener Bestrahlungsarten auf verschiedene Arten von Materie. Bose vermochte für die elektrische Strahlung nachzuweisen, daß sie eine vorübergehende oder dauernde Molekularspannung im Stoffe erzeuge, begleitet von physikalischen oder chemischen Wandlungen. Sollten, da die elektrischen Wellen sich den Lichtwellen in Wesen und Verhalten so nahe verwandt gezeigt hatten, nicht auch ihre Molekularreaktionen mehr oder weniger dem Effekt auf der photographischen Platte gleichen? Im Schlußabschnitt seines Aufsatzes über die elektrische Reaktion sagt Bose:

"Unter der Einwirkung der elektrischen Strahlung werden ähnlich wie bei der sichtbaren Lichtstrahlung die Atome oder Moleküle eines Stoffes neu geordnet. So erzeugt das Licht auf einer photographischen Platte Neugruppierungen der Atome oder Moleküle. Man kann sich nun vorstellen, daß die Berührungsstellen im Kohärer den Partikelchen auf einer photographischen Platte entsprechen. Forschungen unter diesen Gesichtspunkten haben mich zu außerordentlichen Resultaten geführt. Es sieht so aus, als würden dadurch Phänomene miteinander verknüpft, die auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben. Ich versuche augenblicklich einen Apparat zu bauen, der ganz von selbst - durch den Ausschlag des Galvanometers - die verschiedenen durch äußere Kräfte verursachten Molekularänderungen anzeigt."

Hier kommt noch ein anderer Gesichtspunkt in Betracht. Erst hatte es den Anschein, als ob es in der Optik nichts gäbe, was der Kontaktempfindlichkeit oder "Berührung" auf dem Gebiete der elektrischen Strahlung entspreche. Heute aber sehen wir, wie diese Entdeckung uns von den neu beobachteten elektrischen Erscheinungen zur Erklärung der vom Licht oder den ultravioletten Strahlen hervorgerufenen führt. Dadurch wird die grundsätzliche Einheitlichkeit des langen Spektrums von einem seiner bekannten Enden bis zum ändern - von der Elektrizität bis zur Photographie - erneut belegt.

Eine Art Vorgefühl oder Instinkt veranlaßte Bose schon 1896, als er seinen Empfangskontakt für elektrische Wellen beschrieb, ihn mit den "photographischen Partikelchen" zu vergleichen, und diese Vorahnung vermochte er nun immer überzeugender zu beweisen. In einem Aufsatz über "Der Zusammenhang zwischen der Wirkung der Licht- und der elektrischen Strahlung"3 , zu dessen eingehender Würdigung uns hier der Raum fehlt, ging er der Sache in zahlreichen Stoffen nach und verallgemeinerte seine Entdeckung immer mehr. Dann wies er die zunächst nur vorausgesetzten "Aehnlichkeiten" zwischen Strahlung und mechanischer Spannung im Versuche nach, so durch den Bau einer "Spannungszelle", durch die er zeigte, daß eine wahrnehmbare und meßbare Menge elektrischer Kraft erzeugt wird, wenn plötzlich einer von zwei gleichartigen, in Wasser getauchten Metalldrähten um einen bestimmten Winkel gedreht wurde. Der so behandelte Draht verhält sich meist wie die Zinkplatte eines gewöhnlichen Elements, jedoch nicht immer: manchmal verhält es sich wie Kupfer. Es gibt also auch hier, genau wie wir es bei der elektrischen Strahlung feststellen konnten, zwei Gruppen von Körpern. Auch hier konnten die gleichen Wirkungen festgestellt werden: die Erholung von mäßiger Spannung und von Ueberspannung.

Wir kommen nun endlich zu der bedeutsamen Abhandlung über "Die Spannungstheorie des photographischen Vorgangs4 , die trotz ihrer technischen Einzelheiten im großen und ganzen auch für den Nichtphotographen verständlich ist. Die photographische Wirkung auf eine lichtempfindliche Platte wird durch das Entwickeln nach der Belichtung sichtbar. Diese Lichtwirkung auf die empfindliche Substanz kann vorübergehend oder dauernd sein. Auch alle dazwischenliegenden Grade kommen vor. Bose nimmt an, das Bild mit seinen Lichtern und Schatten bringt auf der empfindlichen Schicht der Platte verschiedene Spannungen hervor, und die in verschiedenem Maße vom Licht getroffenen Teilchen würden dann vom Entwickler ungleichmäßig angegriffen und festgehalten. Wenn aber die Erklärung dieses Bildes durch die Annahme einer molekularen Spannung richtig ist, so ist seine allmählich eintretende Erholung zu erwarten, so daß es also mit der Zeit wieder verschwinden müßte. Tatsächlich hatten die ersten Photographen dadurch viel Aerger mit ihren Daguerreotypien. Die fortschreitende photographische Technik hatte viel damit zu tun, dauerhaftere Platten herzustellen. Heutzutage kann man sich beim Belichten und Entwickeln einer Reihe von Platten oder Filmen Zeit lassen. Solche verbesserte Platten verzögern oder verhindern nach Boses Theorie ganz einfach die elastische Molekularerholung der verschieden "gespannten" Teilchen, aus denen das Bild besteht. Die Platten brauchen also nicht innerhalb eines so kurzen Zeitraums entwickelt zu werden. Der Ausdruck "Sensitivierer" ist in vielen Fällen irreführend, weil er in Wirklichkeit eine Verlangsamung der Erholung herbeiführen kann.

Aber die Erholungsspanne sollte eine bestimmte Grenze haben, und hier ist es wichtig zu sehen, daß die Erfahrung dies bestätigt. Als Bose seine Theorie in der Royal Photographie Society vorgetragen hatte, berichtete ein Zuhörer, wie ihm nach einer photographischen Reise durch Indien infolge besonderer Umstände ein Satz Platten zwei Jahre lang unentwickelt liegen geblieben war. Als er dann endlich dazu kam, sie zu entwickeln, erschien überhaupt kein Bild mehr, was er sich mit der schädlichen Einwirkung des Klimas erklärt habe. Allein auf Grund von Boses Theorie betrachte er den Vorgang heute als Erholung der Platten von der "Bildspannung" durch die Belichtung. Einige Zeit danach wollte er eine wichtige Aufnahme machen, hatte aber gerade keine einzige ungebrauchte Platte bei der Hand. Da schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, eine jener schon belichteten, jedoch noch unentwickelt daliegenden indischen Platten zu verwenden. Zu seiner größten Ueberraschung gelang ihm die Aufnahme und wurde genau so scharf, wie wenn die Platte frisch gewesen wäre. Erst jetzt verstehe er diese Erscheinung und gebe seine Erfahrung als lebhafte Bestätigung der Boseschen Theorie von Spannung und Erholung zum besten.

Es gibt indes auch empfindliche Stoffe, die kein Lichtbild erzeugen. Da fast alle Stoffe durch Bestrahlung, wenn auch in verschiedenem Maße, molekularen Veränderungen unterliegen, war theoretisch anzunehmen, daß auch noch andere photographisch empfindliche Stoffe für Aufnahmen verwendet und eine größere Zahl von Entwicklern dafür gefunden werden könnten. Damit erweitert sich in entsprechendem Maße unsere Vorstellung von den Wirkungen strahlender Kräfte und von ihrem Einfluß auf empfängliche Stoffe über das ganze Spektrum hinweg. Und wenn dies für die ganze anorganische Stoffwelt gilt, warum sollte es nicht auch für die Welt des Lebendigen gelten, deren Empfänglichkeit für Strahlungen wir ja kennen ? Hier eilen wir allerdings der in Rede stehenden Abhandlung weit voraus, wenn auch nicht dem rastlosen Denken ihres Verfassers.

Warum sollen wir nicht als Beispiele für empfindliche Materie an Stelle der photographischen Platte mit ihren Silbersalzen Platten aus anderm Material nehmen ? Moser hatte ja bereits durch lange Belichtung reiner Silber- und Kupferplatten, die er mit Quecksilberdampf entwickelte, unsichtbare Bilder erzielt, und Waterhouse bei ähnlichen Versuchen, sogar mit Blei und Gold, die gebräuchlichen Entwickler benutzt. Seit Bose festgestellt hatte, daß alle Metalle für elektrische Bestrahlung empfindlich sind, erwartete er, daß sie es auch für Licht seien. Bei den Versuchen ergab sich, daß alle Stoffe, deren Lichtempfindlichkeit unter der der Silbersalze liegt, viel länger belichtet werden müssen, damit die nötige Molekularspannung erzielt wird. Auch mechanischer Druck kann entwicklungsfähige Bilder erzeugen, die sogenannten "Druckmarken". Und durch elektrische Spannung kann "Induktionsschrift" entstehen.

Um diese Zeit beschäftigte Bose die Frage, ob man Photo-graphien ohne Lichteinwirkung bekommen könne. Es wurden damals verschiedene radioaktive Stoffe gefunden, deren Emanationen die photographische Platte angriffen. Doch Bose arbeitete mit Stoffen, die nicht radioaktiv waren. Der Querschnitt durch einen trockenen Baumstamm zeigt konzentrische Kreise, die von ungleichmäßigem Wachstum herrühren. Diese Ringe mußten nach Boses Ansicht unter der Wirkung eines Reizes in verschiedenem Maße radioaktive Partikelchen aussenden. Er schloß einen solchen Querschnitt in einen dunklen Kasten, ihm gegenüber eine photographische Platte, ohne daß beide sich berührten. Außerhalb des Kastens waren zwei Metallplatten in Verbindung mit einer Maschine angebracht, durch die der Zwischenraum mit raschen elektrischen Schwingungen angefüllt wurde. Unter der Wirkung dieses Reizes machte sich die Radioaktivität des Holzes deutlich sichtbar, und zwar in Gestalt eines außerordentlich klaren Abdrucks seiner Struktur auf die photographische Platte - und das ohne jede Einwirkung von Licht! Das nebenstehende Bild ist die auf solche Weise gewonnene Photographie eines Bobaumblattes. Bei ähnlichen Aufnahmeversuchen erzielte Bose bemerkenswerte Erfolge mit verschiedenen Steinen und Kristallen, die charakteristische Unterschiede in ihrer Zusammensetzung erkennen ließen. Damit war ein ganz neues Forschungsgebiet der unmittelbaren Bearbeitung erschlossen. Doch mußte Bose das alles auf unbestimmte Zeit vertagen, weil eine andere Aufgabe, wie wir später sehen werden, seine ungeteilte Aufmerksamkeit beanspruchte.
Fig. 2. Photographie ohne Licht.
Fig. 2. Photographie ohne Licht.

Seine Theorie von der Molekularspannung aber wurde bei physikalischen und chemischen Forschungen erfolgreich ver wendet und später durch Hartley in dessen Werk über die Absorptionsspektra von Lösungen metallischer Nitrate bestätigt. In der Zusammenfassung seiner Ergebnissevmachte Hartley auf drei bemerkenswerte Mitteilungen aufmerksam, die J. Chander Bose in den "Verhandlungen der Royal Society" 1902 veröffentlicht hat. Man habe guten Grund anzunehmen, daß "die Strahlungswirkung einen Zustand der Molekularspannung erzeugt". Dabei wird auf das Experiment verwiesen, aus dem hervorgeht, "daß die durch die Lichtwirkung hervorgerufene Molekularspannung die physikalisch-chemischen Eigenschaften der Stoffe verändert, wodurch es möglich wird, ein latentes Bild durch Unterschiede in der chemischen Stabilität hervorzurufen, etwa durch reduzierende Faktoren." Dr. Hartleys eigene Versuche bestätigten dies nachdrücklich, denn die von ihm erzielten Spektren zeigten, "daß Lösungen metallischer Nitrate sich in einem Zustand der molekularen Spannung befinden".5

Soviel über diese photographische Theorie. Nun zu Boses "künstlicher Netzhaut". Seine verschiedenen elektrischen Empfänger waren für alle Wellen empfindlich, die länger waren als Wärmestrahlen, während die photographische Platte normalerweise nur für die kurzen Wellen auf der ändern Hälfte des unendlich langen und verschiedenartigen Spektrums empfindlich ist. Aber, so fragte er sich, sollte es nicht möglich sein, Stoffe von noch umfassenderer Empfänglichkeit zu finden ? Der ideale Stoff wäre der, der für die ganze ungeheure Reihe empfindlich wäre, auf den nicht nur das für uns sichtbare Licht wirkte, sondern auch alle die unzähligen Oktaven des uns unsichtbaren Lichtes zu beiden Seiten der einzigen Oktave, für die unser Farbensinn empfänglich ist. Daraus ergab sich eine ganz neue, systematische Versuchsreihe über die Empfindlichkeitsordnung zahlloser natürlicher und künstlicher Stoffe. Den Beginn bezeugt die Abhandlung über "Electric Touch". Sie ist nie vollendet und veröffentlicht worden. Der ersehnte Stoff aber wurde endlich noch gefunden, einerseits von so ausgesuchter Empfindlichkeit für die langen elektrischen Wellen, daß er alle schon erwähnten, für den Bau elektrischer Empfänger von Radioapparaten verwendeten übertrifft, anderseits aber dennoch die gleiche unzweifelhafte galvanometrische Reaktion auf Wärme, Licht- und ultraviolette Strahlen ergibt.

Diese alles wahrnehmende künstliche Netzhaut auf das geringe Maß unserer menschlichen Möglichkeiten herabzustimmen, war dann nicht mehr schwierig. Wenn man nämlich eine Flasche mit Wasser davorstellt, als Ersatz für die Luftfeuchtigkeit, werden die elektrischen und die Wärmestrahlen aufgesogen, so daß auf diese nun keine Reaktion mehr erfolgt. Das gleiche trifft auf einige der ultravioletten Strahlen zu. Nun konnte diese "Netzhaut" tatsächlich nur noch diejenigen Strahlen "sehen", die auch uns sichtbar sind, und dem dahinterstehenden galvanometrischen "Gehirn" ihre Wahrnehmung melden. Nahm man jedoch das strahlenschluckende Wasser fort, so konnte sie wieder die unzähligen Oktaven wahrnehmen. Bose bemerkt dazu : "Vielleicht machen wir uns gar nicht hinreichend klar, vor allem in einer Zeit, wo man mit Hertzschen Wellen durch den Raum funkt, wie wichtig diese Schutzmaßnahme ist, die unsere Sinne gegen unerträgliche Bestrahlung schützt." Hier haben wir also ein überzeugendes Beispiel für die "Wunder in der Wissenschaft", ja für die "Natura magica" des alten Physikers Porta. Heute noch ist er unvergessen um seiner Beschreibung der Camera obscura willen, die freilich zu der kleinen photographischen Kamera zusammenschrumpfte. Die Kamera ist tatsächlich eine Art riesenhaftes Auge und ihre lichtempfindlichen Platten sind eine Art einfacher, anorganischer Netzhaut. Umgekehrt wiederum ist das Auge eine Kamera und seine Netzhaut eine organisch gewachsene, lichtempfindliche Platte, aufs Feinste angeordnet, um die verschiedenen Farbentöne wahrzunehmen.

Diese weitere Erfindung Boses stimmt - ob sie zuerst auch manchem unglaublich oder bedenklich vorkam - durchaus zu unserer allgemeinen, grundsätzlichen Auffassung von Auge und Kamera. Das Wunderbare daran ist ihr ungeheurer Empfindlichkeitsumfang. Aber anstatt einer künstlichen Netzhaut, die man schon mit dem Mikroskop nicht mehr feststellen, geschweige denn zerlegen könnte, finden wir, wenn wir die elektrische Kugel des "elektrischen Auges" öffnen und seine Linsen entfernen, zwei winzige Bleiglanzkristalle, die Kontakt miteinander haben. Daß dieses gewöhnliche Bleierz, dieses schwere Sulphid von allen aus der Natur und durch Laboratoriumskünste bekannten Stoffen für alle Aetherwellen am empfindlichsten sein soll, gibt wohl zu denken! Das Blei, das "stumpfe Blei", ist viel weniger stumpf als wir denken. Und die eigentümliche Antwort der künstlichen Netzhaut führte Bose dann, wie wir später sehen werden, zur Entdeckung einiger unerwarteten Erscheinungen des menschlichen Sehens.

VII. ANTWORT (REAKTION) DES BELEBTEN UND UNBELEBTEN

Immer häufiger haben wir in den vorhergehenden Abschnitten gesehen, wie die anorganischen Stoffe Reaktionen zeigten, die wir als charakteristische Aeußerungen des Lebens anzusehen gewöhnt sind. Noch viel mehr solcher Uebereinstim-mungen hätte ich nachweisen können, müßte ich mich nicht beschränken. Immerhin waren sie für unsern Physiker zunächst nur Nebenergebnisse seiner eigentlichen Forschungen. Als ihrer aber ständig mehr wurden, prägten sie sich ihm immer nachdrücklicher auf, rückten in ihren Beziehungen immer näher zusammen. Dabei handelte es sich um ebenso gründliche Ex-perimentalversuche, wie Bose sie bei seinen vorhergehenden physikalischen Forschungen durchgeführt hatte. Weil aber die Aeußerungen des Lebens so verwickelt sind und so lange als rätselhaft angesehen wurden, stehen auch heute noch biologische Betrachtungen und selbst Versuche im Gerüche der Unzuverlässigkeit, nicht am wenigsten bei den Physiologen untereinander. Daher wappnen sie sich, wenn sie klug sind, mit Selbstkritik. So begann auch Bose mit großer Vorsicht, denn er war sich wohl bewußt der in Europa allgemein vertretenen Ansicht, der Osten könne zwar tief und scharf über metaphysische Fragen nachsinnen, sei aber für exakte wissenschaftliche Arbeit nicht befähigt. (Die Fähigkeit für konkrete Forschung führte man damals nämlich ganz allgemein auf eine bestimmte Schädelwölbung zurück, die dem Inder fehle, während sie über dem europäischen Schädel domgleich emporrage.) Darum auch hatte sich Bose von Beginn seiner physikalischen Forschungs- und Lehrtätigkeit an bemüht, die Eignung seiner Landsleute für physikalische Forschungen zu beweisen und wieder zu erwecken, wodurch sich zum Teil die streng wissenschaftliche Arbeit bei seinen Versuchen und die außerordentliche Verfeinerung und dennoch Vereinfachung seiner Apparate erklärt, von seinem ersten Wellensender und -empfänger an bis zu den bisher unerreicht feinen und genauen Meßapparaten, die seine Werkstätte bis heute unerschöpflich hervorbringt. In der Tat sah sich der Verfasser dieses Buches dann und wann zu der einen Kritik genötigt, ob es nicht manchmal angezeigter wäre, mit diesem oder jenem Instrument stetig (und erfolgversprechend genug) weiterzuarbeiten, anstatt es um eines immerhin nur winzigen Gewinns an Genauigkeit willen immer wieder zu zerstören und neu aufzubauen. Dennoch kann er auch diesem Zuge seine Achtung nicht versagen und muß die Genauigkeit des Physikers bezeugen, die auch nicht die kleinste Spur einer Abweichung ertragen kann.

Kehren wir jedoch zu dem neuen Forschungsgebiete zurück, das wir nach dem Titel des Buches, das alle hierhergehörigen Arbeiten Boses zusammenfaßt, die "Antwort des Belebten und des Unbelebten" nennen können. Bose waren so zahlreiche und überraschende Ergebnisse beschieden, daß er, der noch immer kein wissenschaftliches Publikum in Indien, ja noch nicht einmal einen einzigen Berufsgenossen gefunden hatte, mit dem er seine Probleme hätte besprechen können, das Bedürfnis empfand, wieder nach Europa zu gehen. Es traf sich glücklich, daß gerade eine sehr herzliche Einladung zum Internationalen Physikerkongreß eintraf, einer der zahlreichen Versammlungen, die anläßlich der Weltausstellung im Jahre 1900 in Paris stattfanden.

Boses überraschende Resultate hatten die Teilnahme des neuen Vizegouverneurs von Bengalen erregt und er beschloß, wie schon sein Vorgänger vor vier Jahren, Bose in wissenschaftlichem Auftrage nach Europa zu senden, "da Professor Boses Reise nach Paris den einzigartigen Forschungen, mit denen er sich beschäftigt, von großem Nutzen sein werde". So kam Bose im August 1900 als Beauftragter der Regierungen von Bengalen und Indien in Paris an.

Dort hielt er vor dem Internationalen Physikerkongreß seinen Vortrag über "Die Antwort der belebten und anorganischen Materie".6 Es wurde schon auf Boses Beobachtung der seltsamen Erscheinung hingewiesen, daß eine Ermüdung seiner Empfänger stattfand, die nach einer gewissen Ruhezeit wieder verschwand. Der Empfänger wurde indes auch unempfindlich, wenn man ihn zu lange unbenutzt ließ, die Trägheit wurde jedoch in diesem Falle durch den Reiz eines elektrischen Anstoßes wieder aufgehoben. In diesem Vortrag nun verglich Bose zürn erstenmal in der Geschichte der Wissenschaft die Wirkung von Reizen auf lebendes Gewebe mit denen auf unorganische Materie und stellte sie zueinander in Beziehung.

"Eine Muskelkurve verzeichnet den Verlauf der Molekularveränderung, die ein Reiz in lebendem Gewebe hervorruft, genau so, wie die Kurve einer Molekularreaktion eine entsprechende Veränderung in einem anorganischen Stoffe festhält. Beide stellen das gleiche dar. Im zweiten Fall wird die Molekularveränderung bewiesen durch die Veränderung der Leitungsfähigkeit. Im ersten Fall wird dieselbe Veränderung durch eine Veränderung der Form angezeigt. Wir haben so die Möglichkeit zu untersuchen, wie Moleküle auf Reize von verschiedener Heftigkeit, Stärke und Zeitdauer antworten. Ein Ab-grund trennt die Erscheinungen im belebten von denen im unbelebten Stoff. Aber wenn wir überhaupt jemals den verborgenen Mechanismus im tierischen Körper verstehen wollen, müssen wir auf unzählige Schwierigkeiten gefaßt sein, die zunächst noch ungeheuer groß erscheinen."

Dann folgt eine "vergleichende Studie der Kurven molekularer Reaktion bei anorganischen und lebenden Stoffen". Zuerst eine Kurve von leicht angewärmtem magnetischem Eisenoxyd (Fe3O4) und dann eine der bekannten Muskelkurven, die eine überraschend allgemeine Aehnlichkeit mit jener aufweist.

Das führt zu weiteren Untersuchungen über das Verhalten des Eisenoxyds im Vergleich mit dem eines Muskels: 1. Wie wirkt es, wenn man stärkste Erregungen einander folgen läßt? 2. Wie wirkt eine große Anzahl mäßiger Erregungen in langsamer Folge ? und 3. Wie wirken schnell aufeinander folgende Reize ? Für Mineral und Muskel waren diese Wirkungen außerordentlich ähnlich und die Kurven beider entsprechen sich tatsächlich so sehr, daß man eine mit der anderen verwechseln könnte. Und im einzelnen: 1. Wenn der erste Reiz der Stärkstmögliche ist, ist in beiden Fällen von der Wirkung eines zweiten Reizes nichts zu merken. 2. Mäßige Reize summieren sich und wenn sie einander langsam folgen, kann man die Wirkung jedes Anstoßes als einzelne Stufe in der ansteigenden Kurve feststellen. 3. Wenn die Reize sich sehr schnell folgen, verbinden sich die Wirkungen und die als Tetanus (Starrkrampf) bekannte Erscheinung tritt bei beiden gleichermaßen auf.

Bose fand auch, daß in vielen anorganischen Stoffen, wo gewöhnliche Reize die normale "negative" Wirkung erzielen, ein schwacher Reiz genau das Entgegengesetzte, nämlich eine positive Antwort hervorruft. Dieses Doppelergebnis war ihm lange rätselhaft, nicht nur, weil es für die Physik neu war, sondern auch, weil sich nichts Aehnliches in den Beobachtungen der Reaktion organischer Stoffe nachweisen ließ. Aber - so fragte er sich - gibt es tatsächlich einen Gegensatz zwischen anorganisch und lebend, oder läßt sich vielleicht durch weitere Versuche eine entsprechende Doppelreaktion auch bei organischen Stoffen nachweisen? Die Untersuchungen führten zu höchst bedeutungsvollen Entdeckungen über Reaktionen organischer Stoffe. Wir werden später näher darauf eingehen.

Eisenoxyd antwortet kräftiger, sobald es erwärmt wird, und auch seine Erholung geht dann viel schneller vor sich. Jedoch nur bis zu einem gewissen Grade. Dann mindern sich beide Werte wieder. Vom Muskel ist dieselbe Erscheinung bereits bekannt: auch hier gibt es ein Optimum. Geht man darüber hinaus, so werden die Reaktionen wieder schwächer. Genau wie eine Muskelmüdigkeit sich durch Ruhe oder leichte Massage beheben läßt, oder auch durch Temperaturänderung - etwa ein warmes Bad -, so läßt sich auch die "Ermüdung" des Eisenoxyds, die sich als Verminderung der Reaktionsfähigkeit zeigt, durch ganz entsprechende Behandlung beseitigen.

Betrachten wir nunmehr die Wirkung von Injektionen fremder Stoffe. Die Pottasche besitzt, wie wir schon sahen, große elektrische Elastizität und erholt sich von Reizung sofort wieder. Wird sie aber mit bestimmten Fremdstoffen behandelt, so verläuft die erste Reaktion zwar noch wie sonst, bei weiteren Reaktionen aber geht die Fähigkeit, sich zu erholen, fast ganz verloren. Aehnlich verhält es sich mit der Wirkung gewisser Gifte, z. B. des Veratrin, auf den Muskel.

Alle beschriebenen Reaktionen gehören in einen und denselben Zusammenhang. Es ist sehr schwer, eine Grenze zu ziehen und zu sagen: "Hier endet die physikalische Aeuße-rung und hier setzt die physiologische ein," oder: "Das ist eine Aeußerung des toten Stoffes und das eine nur dem Lebenden eigene." Solche Grenzsetzung wäre durchaus willkürlich. Wir können jede der oben erwähnten Erscheinungsgruppen erklären, indem wir zahlreiche voneinander unabhängige Hypothesen aufstellen oder aber eine Dauereigenschaft des Stoffes entdecken, der all seinen Formen, lebenden und organischen, toten und anorganischen, gemeinsam zukommt. Auf Grund dieser gemeinsamen Eigenschaft können wir eine Erklärung all der Erscheinungen versuchen, die auf den ersten Blick so grundverschieden aussehen, und dürfen vielleicht zugunsten dieser Ansicht das allgemeine Streben der Wissenschaft anrufen, eine grundlegende Einheit trotz aller scheinbaren Verschiedenheiten vorauszusetzen, wo immer die Tatsachen dies zulassen.

Boses Vortrag war für alle eine große Ueberraschung und der Sekretär des Kongresses erklärte, er sei zuerst "wie vor den Kopf geschlagen" gewesen. Aber die Versammlung wurde sich schnell der großen Bedeutung des Gegenstandes bewußt und viele Mitglieder äußerten sich begeistert über die neuen Ergebnisse. Der Vortrag wurde als einer der wichtigsten gewertet, die dem Kongreß geboten worden waren, und in vollem Umfange in dessen Verhandlungsbericht aufgenommen.

Soviel über die Aufnahme, die Boses Gedankengänge bei den Männern der europäischen Wissenschaft fanden. Viel tiefer noch war die Wirkung auf die Nachdenklicheren unter seinen eigenen Landsleuten. Europa ahnte immer noch nichts von dem Erwachen Indiens, dem Erstarken einer geistigen Tätigkeit, die täglich an Kraft gewann. Indien aber freute sich, daß es in Bose einen gewichtigen Vertreter der neuen Wissenschaft erhalten hatte, den auch der Westen verstehen und würdigen konnte. Ganz unabhängig voneinander kam dieses Gefühl beiderseits zum Ausdruck. Swami Vivekananda, der durch seine beredte Deutung des philosophischen und religiösen Gehaltes der Veden in Amerika so großen Eindruck machte, weilte damals gerade in Paris und wohnte auch Boses Vortrag bei. In einem seiner Briefe, die später unter dem Titel "The Wanderer" gesammelt wurden, schreibt er: "Hier in Paris haben sich die Großen aller Länder versammelt, um den Ruhm ihrer Heimat zu verkünden. Weise fanden hier beifallsfreudige Zuhörer und der Widerhall gereicht ihrem Vaterland zur Ehre. Und wo ist nun, o du Land meiner Geburt, dein Vertreter unter diesen unvergleichlichen Geistesgrößen, die aus aller Herren Länder zusammenströmten? Aus der großen Versammlung erhob sich ein junger Mann als dein Vertreter, einer der Heldensöhne. Seine Worte packten die Zuhörer und werden alle seine Landsleute begeistern. Heil diesem Heldensohn! Und gesegnet sei seine hingebende, unvergleichliche Gefährtin, die ihm immer zur Seite ist."

Unter den Männern der Literatur sandte Boses alter Freund, Rabindranath Tagore, der damals im Westen noch unbekannt war, aber dem Schrifttum Bengalens bereits seinen Stempel aufgeprägt hatte, dem Forscher aus Indien einen Brief in Form eines Gedichtes, von dem die nachstehende Uebersetzung " einen Teil wiedergibt:

Wie kam dir dieser Friede,
Darinnen du eh wir's gewahrt
Tief in der Dinge Herz allein dich fandest, -
Darin das Allundeine in Sonne, Mond und Blumen,
In Blättern, Tieren, Vögeln, Staub und Steinen ruht?
Wo noch das eine schlaflos Leben auf dem eignen Schöße
Die Dinge wiegt zu einem wortelosen Lied,
Alle die Dinge, bewegsame, und die uns starr erscheinen.
Ruf sie herbei, der Schüler Schar,
Empor ans Antlitz der Natur, der starken Erde.
Laß sie sich sammeln. So mag unser Indien,
Das uralte, sich endlich wiederfinden
Und oh! nach langer, leerer Frist
Zu Werk und Wirken wiederum sich wenden,
Zu Pflicht und Frommheit und dem heiligen Verzücktsein
Des inneren Erschauens.

So weit die Geschichte dieser Pariser Vorlesung, die hier sowohl aus persönlichen Gründen als wegen ihrer Bedeutung - erschloß sie doch neue Ausblicke - so eingehend behandelt worden ist. Einen wesensgleichen Vortrag hielt Bose zunächst vor der Physikalischen Abteilung der British Association auf deren Versammlung zu Bradford im September 1900. Er wurde von selten der Physiker sehr beifällig aufgenommen. Auf dieser Versammlung legten einige der hervorragendsten unter ihnen dem Redner unter warmer Zusicherung ihrer Unterstützung sogar nahe, sich um einen damals gerade freistehenden wichtigen Lehrstuhl für Physik zu bewerben. Doch empfand Bose zu loyal gegen sein eigenes Land und dessen Universität, um sich von diesem Vorschlag versucht zu fühlen, obgleich die Ehrenbezeugung ihm Freude bereitete. Trotzdem entging es Bose nicht, daß wohl die Physiker sein Werk warm anerkannten und seinen Erläuterungen ein offenes Ohr liehen, die Mitglieder der Physiologischen Sektion hingegen, die eingeladen worden, dem Vortrag beizuwohnen - wie dies bei Behandlung von "Grenzfragen" der Brauch ist -, befremdet dreinblickten und sich schweigend verhielten, da die Experimentiermethode Boses, die den Physikern mittlerweile vertraut geworden war, sie seltsam und ungewohnt anmutete. Es mag hier gleich erwähnt werden, daß seither diese Methode der "Variation der Leitungsfähigkeit" bei Boses weiterer physiologischer Arbeit mit großem Erfolg angewandt und inzwischen auch von anderen Pflanzenphysiologen ergriffen worden ist, und vermutlich jetzt auch von Tierphysiologen.
Fig. 3. Elektrische Antwort eines Ermüdung zeigenden Metalls (Zinn).
Fig. 3. Elektrische Antwort eines Ermüdung zeigenden Metalls (Zinn).

Schon bevor er Indien verließ, litt Bose an einer Krankheit, die nunmehr infolge ständiger Uebermüdung und unausgesetzten Experimentierens ernste Form annahm. Nachdem er in Kalkutta erfolglos behandelt worden, hatte der Forscher sein Leiden vernachlässigt, bis er endlich nach der Bradforder Versammlung in London zusammenbrach und zwei volle Monate für Operation und Erholung opfern mußte. Jedoch leistete er auch während dieser erzwungenen Ruhezeit Denkarbeit, indem er sich Experimentiermethoden zurechtlegte, die den Physiologen leichter eingänglich sein möchten. Als er sich einigermaßen erholt hatte, nahm er im. Dezember 1900 seine Arbeit wieder auf und zwar am Davy-Faraday-Laboratorium der Royal Institution, wozu er von seinen alten Freunden und Lehrern, Lord Raleigh und Sir James Dewar, herzlich aufgefordert worden war. Er hatte das Glück, in Herrn Bull einen Assistenten zu finden, an dessen gewissenhaftes, intelligentes und geschicktes Experimentieren er noch heute mit besonderer Genugtuung zurückdenkt. Denn dank dieser ausgezeichneten Unterstützung ward die verlorene Zeit rasch wieder eingeholt, und nach gar mancher Richtung hin konnten neue Experimente unternommen werden. Vor seiner Abreise aus London gelang es Bose übrigens, seine Freunde für eine dauernde Nutzbarmachung von Bulls Fähigkeiten zu interessieren. Dieser ist heute Vorsteher der Photographischen Abteilung des Londoner Polytechnikums. Indische Studenten finden bei ihm jederzeit eine herzliche Aufnahme.

Das Schwergewicht der Arbeit dieses Winters wurde mehr und mehr auf die physiologische Seite verlegt. Indes war Bose - gewohnt, von beiden Seiten an seine Probleme heranzutreten - nunmehr nicht nur mit der Physik der Physiologie beschäftigt, sondern sozusagen auch mit der Physiologie der Physik. Die Vergleichung der Reaktionsweise von Lebendem und Nichtlebendem, in dem obengeschilderten Pariser Vortrage schonskizziert, wurdejetztaufsneue aufgenommen, diesmal mittels der elektromotorischen Variationsmethode, an die die Physiologen gewöhnt waren. Die von Metallen und Muskeln herrührenden Kurven wurden neu und durch umfassenderes Experimentieren ausgearbeitet, und zwar unter Einschluß von Müdigkeits- und Reizerscheinungen, von Deprimierenden und vergiftenden Stoffen. Lebendes und Nichtlebendes antwortete in wesentlich gleicher Weise.
Fig. 4. Verstärkung der Reaktion eines Metalls (Platin) durch die Wirkung stimulierender Stoffe. In diesem und den folgenden Bildern zeigt das erste Stück der Kurve die normale Reaktion, das folgende die Wirkung Chemischer Stoffe.
Fig. 4. Verstärkung der Reaktion eines Metalls (Platin) durch die Wirkung stimulierender Stoffe. In diesem und den folgenden Bildern zeigt das erste Stück der Kurve die normale Reaktion, das folgende die Wirkung Chemischer Stoffe.

Während er diese Ergebnisse hin und her erwog, kam Bose in seiner ständig zwischen Selbstkritik und kosmischem Weitblick pendelnden Denkart plötzlich der Einfall, daß, sollte die auffallende Kontinuität zwischen Extremen wie Metall und Tier sich als wirklich erweisen, auch gewöhnliche Pflanzen sich zu einer solchen Probe hergeben müßten - Pflanzen, die man bisher nicht für reaktionsfähig gehalten. Von dieser Idee ganz erfüllt, lief er rasch in das Gärtchen seiner Londoner Wohnung hinaus, um die ersten, sich just erschließenden Blätter seines Roßkastanienbaums zu pflücken. Und als er eines davon einer Probe unterwarf, fand er, daß es kräftig reagierte! Nunmehr eilte er zum Gemüsehändler, und es zeigte sich alsbald, daß dessen Karotten und Steckrüben - ungeachtet des prosaischen und wenig schönen Anblicks, um deswillen wir sie zu lange mißachtet haben - bis in ihre Wurzeln hinein äußerst sensitiv waren. Ein Kopf Seekohl hingegen zeigte nur geringe oder gar keine Reaktion. Auf Befragen erklärte der Gemüsehändler, er habe auf dem Transport nach London durch einen Schneefall gelitten und richtig reagierten andere Exemplare später kräftig.

Somit war die normale Aehnlichkeit im Verhalten von Metall, Pflanze und Tier festgestellt. Durch zahlreiche Kurven wurde sie bestätigt. Die nächsten Versuche befaßten sich mit den Wirkungen von Narkotika und Giften. Bei Anwendung von Chloroform setzte die pflanzliche Reaktion aus, ganz so wie die tierische es tut. Blies man dann zeitweise den betreffenden Dunst weg, so belebte sich auch die Pflanze von neuem und erholte sich soweit, daß sie wieder antwortete. Bei einem frischen Exemplar wurde Gift angewendet, und während dieses aufgesogen wurde, zeigte sich eine der des sterbenden Muskels ganz ähnliche Modifikation in der Reaktionskurve, bis bei der Pflanze wie beim Tier schließlich die Reaktion gänzlich aufhörte, was unzweifelhaft den Tod bedeutete. Hingegen wirkten verschiedene stark gifthaltige Stoffe in ganz kleinen Dosen als Reizmittel.

Hier nun erweist sich die volle Bedeutung eines Geistes, der von den Vorurteilen des zünftigen Biologen ungehemmt frei an die Dinge selbst herantritt. Kein Botaniker, Zoologe oder Physiologe hatte je daran gedacht - oder würde von seinem ; Standpunkt aus wohl jemals daran denken -, ein Metall vergiften zu wollen. Schon die bloße Vorstellung eines derartigen Versuchs würde ihm widersinnig erschienen sein. Hier aber unternahm der von biologischen Ueberlieferungen unbeschwerte Physiker, den seine früheren Erfahrungen mit unerwarteten Beziehungen wissenschaftliche Unerbittlichkeit gelehrt, alle diese Versuche und zwar mit einer ganzen Reihe von Metallen. Zinn, Zink, Messing, ja selbst Platin wurden eins ums andere der Einwirkung verschiedener Gifte ausgesetzt und ergaben überraschenderweise Reaktionskurven, die denen vergifteter Pflanzen und Tiere ähnlich verliefen und wie diese schließlich aufhörten. Als besonders wirksam wurde Oxalsäure befunden, der Zinn - das empfindlichste Metall - sofort erlag. Ja selbst Platin, das chemisch trägste Edelmetall, vermochte ihr nur kurz Widerstand zu leisten. Da er sich Darwins Beobachtung der stimulierenden Wirkung von Ammoniumkarbonat auf den Sonnentau entsann, erprobte Bose dieses auch an seinen Metallen, mit dem überraschenden Ergebnis, daß er die normale Reaktion bis um das Drei- und Vierfache verstärkt sah. Und wiederum stellte es sich heraus, daß toxische Mittel, die in großen Gaben die Pflanze vergiften, sie in kleinen Mengen jedoch anreizen, die genau entsprechende Wirkung auf Metalle ausüben. Und gleicherweise verhielt es sich mit gewissen ändern Drogen.
Fig. 5. Verhinderung der Reaktion eines Muskels (oberste Kurve), einer Pflanze (mittlere Kurve) und eines Metalls (untere Kurve) durch Giftwirkung.
Fig. 5. Verhinderung der Reaktion eines Muskels (oberste Kurve), einer Pflanze (mittlere Kurve) und eines Metalls (untere Kurve) durch Giftwirkung.

Diese Uebereiristimmung war so auffallend, daß eines Tages, als Bose sich anschickte, seine Erfahrungen dem alterfahrenen Cambridger Physiologen Sir Michael Foster zu zeigen, dieser eine davon in die Hand nahm mit den Worten: "Nun sagen Sie mir doch mal, Bose, worin das Neue an dieser Kurve bestehen soll ? Das kennen wir ja doch seit wenigstens einem halben Jahrhundert." - "Was meinen Sie, daß es darstellt?" fragte Bose zurück. - >Was kann es sein! selbstredend eine Muskelreaktionskurve." - "Verzeihung, es zeigt die Reaktion metallischen Zinns." - "Was!" rief Foster aufspringend, "Zinn! Sagten Sie Zinn?" Auf Boses Erklärung hin kannte sein Staunen keine Grenzen und er drängte den Forscher, der Royal Society eine Mitteilung zu machen, die er (ihr damaliger Schriftführer) sich erbot, ihr zuzustellen. Als er hörte, daß Bose bereits aufgefordert sei, einen Bericht über seine Entdeckungen als Abendvorlesung in der Royal Institution zu geben, sagte er: "Nun, dann lassen Sie uns sogleich eine vorläufige Mitteilung zugehen, um sich und der Gesellschaft Ihre Erstanwartschaft zu sichern. Dann können Sie uns später, bei der Zusammenkunft vom nächsten Monat, einen Demonstrationsvortrag halten." Das geschah denn auch.

In diesem Vortrag in der Royal Institution wies Bose die Ergebnisse seiner letzten vier Jahre nach und erläuterte jedes einzelne durch eine Reihe anschaulicher Experimente. Da diese indes schon oben wiedergegeben sind, genüge es, hier nur das Schlußwort des Forschers anzuführen:

"Ich habe Ihnen heute Abend autographische Aufzeichnungen des Verlaufs von Spannungs- und Kräfteeinwirkungen auf Belebtes und Unbelebtes gezeigt. Wie ähnlich sind die Kurven einander ! So ähnlich, daß Sie sie nicht zu unterscheiden vermögen. Wir haben zu- und abnehmende Pulsation bei dem einen wie dem ändern sich äußern sehen. Wir haben die Reaktion bei Ermüdung sich abschwächen, bei Reizen sich verstärken sehen, haben ihr völliges Versagen unter der Einwirkung von Giften im lebenden wie im nichtlebenden Körper verfolgt.

Wie wollen wir angesichts solcher Phänomene eine Grenzlinie ziehen und sagen: hier ist das Physikalische zu Ende und das Physiologische beginnt? Solch absolute Grenzen gibt es nicht. Sprechen zu uns diese Aufzeichnungen nicht von einer aller Materie gemeinsamen stetigen Eigenschaft? Zeigen sie nicht an, daß die Reaktionsvorgänge, wie wir sie im Leben sehen, sich schon im Nichtbelebten dunkel ankündigen? - daß das Physiologische dem Physiko-Chemischen verwandt ist? - daß es keine unbedingte Scheidelinie gibt, sondern daß die Natur auf ihrem Gange einheitlich, ununterbrochen gesetzmäßig fortschreitet ?
Fig. 6. Stimulierende Wirkung einer kleinen Giftdosis auf das Reaktionsvermögen von Metallen; eine größere Dosis vernichtet dieses (rechtes Bild).
Fig. 6. Stimulierende Wirkung einer kleinen Giftdosis auf das Reaktionsvermögen von Metallen; eine größere Dosis vernichtet dieses (rechtes Bild).

Wenn dem so ist, dann können wir uns nur mit erneuter Zuversicht der Erforschung von Geheimnissen zuwenden, die sich uns schon zu lange entzogen. Denn jeder Schritt noch, den die Wissenschaft getan, ist derart geschehen, daß scheinbar Widerspruchsvolles oder Ungesetzmäßiges sich in einer neuen und harmonischen Einfachheit gelöst hat. Ihr Fortgang hat sich von je in der Richtung klarerer Erfassung der allem zugrunde liegenden Einheit bei scheinbarer Verschiedenheit bewegt.

Damals, als ich auf die stummen Urheber dieser Autogramme aufmerksam wurde und darin eine Phase einer allumfassenden Einheit gewahrte, die alle Dinge in sich schließt, - die Motte, die im Lichtgeriesel dahinflattert, das sprossende Leben auf unserer Erde, den strahlenden Sonnenschein über uns - damals verstand ich zum erstenmale ein Weniges von jener Botschaft, die meine Urahnen am Gestade des Ganges vor dreißig Jahrhunderten verkündet haben. -

"Ihrer, die nur Eines sehen in aller wechselnden Mannigfaltigkeit dieses Weltalls, ihrer ist die Ewige Wahrheit - ihrer, ihrer allein!"

Die Vorlesung an der Royal Institution fand uneingeschränkten Beifall und ihre völlig unerwarteten Offenbarungen erregten naturgemäß weites Interesse in allen wissenschaftlichen Kreisen und sogar darüber hinaus in der Presse. Soweit also wiederholte sich für Bose der durch seine früheren Arbeiten und der während seines Besuches vor vier Jahren geerntete Erfolg durchaus, ja er wurde von dem diesmaligen sogar übertroffen. Jetzt aber sollten die Dinge nicht so ungetrübt weiter verlaufen.

Ich erinnere hier an eine althergebrachte Redeweise, die man in bezug auf geistigen Fortschritt - sei es in wissenschaftlicher oder sonstiger Hinsicht - immer und immer wieder hören kann. Zuerst sagen die Menschen: "Es ist nicht wahr!" dann: "Es ist nicht neu!" und schließlich oft: "Das wissen wir ja alle längst!" In Indien ist der letzte der gangbarste unter diesen Aussprüchen, wir in Europa hingegen lassen ihm für gewöhnlich die beiden anderen vorausgehen.

Im Anschluß an seine vorläufige Mitteilung hielt Bose seinen Vortrag am 6. Juni 1901 unter voller, ins einzelne gehender Demonstration in der Royal Society. Zwar schien die Aufnahme der Vorlesung günstig wie immer zu sein, aber der Rückschlag sollte folgen, und das durch keinen Geringeren als Sir John Burdon Sanderson, der damals (und seit vielen Jahren schon) als "der große Nestor" der physiologischen Forschung in England galt. Zudem hatte sich seine Arbeit nicht allein auf das Studium des Verhaltens von Muskel und Nerv in Reizzuständen beschränkt, sondern er hatte sich noch ganz besonders mit den Bewegungen der Venus-Fliegenfalle (Dionaea) befaßt, auf die zuerst Darwin seine Aufmerksamkeit gelenkt und deren Elektrophysiologie er viele Jahre der hingehendsten Arbeit gewidmet hatte. Er hatte somit den Ruf außergewöhnlicher Autorität auf dem Gebiete sowohl der tierischen wie der pflanzlichen Elektrophysiologie, so weit sie damals reichte. Und sein Interesse war noch immer so rege, daß er eigens um diesen Vortrag zu hören von Oxford herüberkam. Auf ihn blickten alle, als es galt, die Diskussion zu eröffnen. Er begann sie mit einer Verbeugung vor Boses früherer physikalischer Arbeit, sagte dann jedoch, es sei sehr schade, daß er sein eigenstes Forschungsgebiet, auf dem er sich anerkanntermaßen so ausgezeichnet, verlassen habe, um sich in Bereiche zu begeben, die doch nun einmal den Physio-logen gehörten. Da Herr Professor Bose die Veröffentlichung seiner Vorlesung noch in Erwägung ziehe, möchte er ihm den Rat geben, den Titel "Die elektrische Antwort" (The Electrical Response) in "Gewisse physikalische Reaktionen" umzuändern, um so den Physiologen den Gebrauch ihres Terminus "Antwort" zu belassen, der für den Physiker ja nicht in Betracht falle. Was weiterhin die elektrische Antwort gewöhnlicher Pflanzen betreffe, wie der Redner sie am Schluß des Vertrags beschrieben, so sei sie schlechthin unmöglich. Vor vielen Jahren habe er - Sanderson - selbst versucht, eine solche zu erhalten, ohne daß es ihm gelungen sei. Es könne also nicht sein!

Ein anderer wohlbekannter Professor der Physiologie, der ebenfalls auf dem Gebiete der Reaktionen von Muskel und Nerv gearbeitet hatte, ergriff nach Sanderson das Wort und unterstützte ihn im wesentlichen. Dann stellten zwei Physiker je eine oder zwei Fragen und drückten ihre Befriedigung über die soeben vorgeführten Experimente aus. Hierauf wurde Bose zur Replik aufgefordert. Er äußerte sich etwa wie folgt: Aus dem, was seine Kritiker vorgebracht, ersehe er, daß keiner von beiden die experimentell von ihm gezeigten Tatsachen in Frage stelle. Anstatt aber seine Experimente und deren Ergebnisse irgendwie anzufechten, habe man ihn rein von Autoritäts wegen aufgefordert, Modifikationen eintreten zu lassen, die Zweck und Bedeutung des Vertrages ändern würden, weiter verschiedene der soeben von ihm gezeigten experimentellen Tatsachen zurückzuziehen. Es scheine ihm unbegreiflich, wie man - noch dazu in der Royal Society - in bezug auf die Wissenschaft den Leitsatz aufstellen könne: Bis hierher und nicht weiter! Er könne also unter keiner Bedingung^ ein Wort an der Vorlesung ändern, selbst auf die Gefahr hin, daß die Veröffentlichung deshalb unterbleiben müsse, es sei denn, man beweise ihm mit wissenschaftlichen Methoden, worin das Fehlerhafte oder Unzulängliche der eben gezeigten Experimente bestehe. Er habe experimentelle Kritik erwartet und sei auf sie vorbereitet gewesen, aber nichts dergleichen sei seitens der beiden physiologischen Kritiker erfolgt. Hierauf sprach niemand mehr und die Versammlung löste sich auf, nachdem sie dem Redner noch ihren formellen Dank ausgedrückt. Aber weiteres Unheil war im Anzug. Sanderson fühlte sich nunmehr tief beleidigt, denn er war ein schwer zu behandelnder Mensch, gewohnt, daß man seine Autorität und seinen Einfluß widerspruchslos anerkannte. Es war seine Art, sowohl in der Wissenschaft wie im Leben, verschiedene Standpunkte und Interessen gegeneinander abzuwägen und die daraus entspringenden Kompromisse zu ziehen. Es mußte ihn daher aufs äußerste verwundern und verletzen, daß ein junger Draufgänger ihm auf seinen in die höflichsten Redensarten gekleideten Vergleichsvorschlag in so unzweideutiger Weise den Fehdehandschuh hinwarf. Auch kränkte es ihn ungemein, daß Bose hinsichtlich der Pflanzen zu positiven Ergebnissen gelangt war, während seine eigenen Versuche stets negativ verlaufen waren. Man konnte indessen von Bose nicht verlangen, daß er sich zur Anerkennung der Sachlage in Sandersons Sinne verstehe. Seine physikalischen Vorlesungen waren nach ihrem wissenschaftlichen Verdienste beurteilt worden und seine Vorträge hatten bislang bereitwillige Aufnahme gefunden, da er für zuverlässiges Arbeiten bekannt war. Hier aber fand er sich einer Opposition gegenüber, die auf keiner wissenschaftlichen Begründung ruhte. Er empfand, daß man ihn, den Physiker, als Eindringling ins Bereich der Physiologie betrachtete. Er hatte, ein Mensch aus dem Osten, dem Spitzfindigkeiten fernlagen, die westlichen Lehren vom Uebel des Kastengeistes ernst genommen. Nun fühlte er, daß er hier an ein noch schlimmeres Kastensystem geraten war, dessen Vorschriften er unbewußt verletzt hatte. Späterhin erzählte ihm Lord Rayleigh, daß er selbst Gegenstand zahlloser Angriffe von selten der Chemiker gewesen sei, weil er, als Physiker, es gewagt hatte zu prophezeien, man werde in der Luft noch ein neues, bis jetzt unbekanntes Element finden. Trotz der Proteste der Chemiker bewies sich später seine Vorhersage durch die Entdeckung des Argons als zu Recht bestehend.

So wurde denn der Vortrag, dessen Korrekturabzug, wie es Brauch war, vor der Versammlung unter den Mitgliedern zirkuliert hatte, in den "Verhandlungen" (Proceedings) der Gesellschaft nicht veröffentlicht, sondern im "Archiv" des Institutes niedergelegt - ein Schicksal, das er mit anderen bemerkenswerten Dokumenten teilte : so mit jener Antizipation der kinetischen Gastheorie, die vor wenigen Jahren - Jahrzehnte nach dem Tode ihres Verfassers - durch Lord Rayleigh wieder ausgegraben und veröffentlicht wurde.7

Hier hatte man denn nun eine Unterbrechung dieser bis jetzt so erfolgreichen Laufbahn, wie sie jäher nicht zu denken war. Und der Gegensatz war tief schmerzlich für Bose - ja, dieser Schlag war unzweifelhaft der schwerste, der ihn in seinem ganzen Leben getroffen. Denn es handelte sich nicht nur um ein Mißgeschick für seine Person, wie es irgendeinem beliebigen englischen Gelehrten auch begegnen konnte, sondern der Vorfall war, wie Bose klar erkannte, eine Bedrohung für seine künftige wissenschaftliche Laufbahn in Indien, er gefährdete seine dazumal noch beschränkten Vorteile bei Inangriffnahme neuer Arbeiten und seine erst jüngst erwachten Hoffnungen auf wissenschaftliche Unterstützung bei deren Fortgang. Die Nachricht von seiner Niederlage wurde sogleich nach Indien weitergeleitet, und noch dazu in grober, übertriebener Weise - "Boses Arbeiten und sein Vortrag von der Royal Society zurückgewiesen" - womit naturgemäß auch auf seine früheren Leistungen ein schiefes Licht fiel.

Zudem lief Boses Aufenthalt in England binnen vierzehn Tagen ab. Seine Schiffskarte war bereits bestellt. Er erkannte jedoch zu klar, daß er den Kampf durchhalten und sich rechtfertigen müsse. So setzte er denn unverzüglich dem India Office die Sachlage auseinander und reichte ein Gesuch um Verlängerung seiner Abordnung ein. Man erwiderte ihm, dergleichen sei noch nie vorgekommen und könne nicht bewilligt werden. Seinem Dienstalter entsprechend, habe er Anspruch auf ein Jahr Urlaub. Indessen solle er sich an sein College in Indien wenden, das India Office wolle sich nicht in diese Angelegenheit mischen, immerhin sich aber erkundigen. Bose hatte Pech: der Physiologe, von dem man ein Gutachten erbat, gehörte zu der gegnerischen Gruppe, so daß der Antrag natürlich abgelehnt wurde. Doch Bose ließ sich nicht abschrecken und beschloß, im Notfall afie Brücken hinter sich abzubrechen. Er schrieb noch einmal, wies wiederum auf die zwingende Notwendigkeit hin, die Ergebnisse seiner Arbeit zu rechtfertigen, und erklärte gleichzeitig, er habe sich infolgedessen entschlossen, in England zu bleiben und die Sache durchzufechten. Er sei durchaus bereit, alle Folgen auf sich zu nehmen. Nun befaßte sich der Staatssekretär selbst mit der Sache, seine Entscheidung war echt englisch und entsprach ganz Boses früheren Erfahrungen. Die unnachgiebige Entschlossenheit des Forschers machte auf ihn nämlich so starken Eindruck, daß er seinen Urlaub auf eigene Verantwortung hin verlängerte und dies seinem College mitteilte. Das ermutigte Bose und er begab sich im Laboratorium der Royal Institution von neuem an die Arbeit.

Zuerst fürchtete, er, kühl aufgenommen zu werden. Doch ein Kollege tröstete ihn: "Sie können nun einmal nicht nach anderer Leute Aepfeln greifen, ohne daß sie Ihnen das übelnehmen, und Sie haben noch Schlimmeres getan: Sie haben ihnen den ganzen Apfelkarren umgeworfen!"

Während der Ferien arbeitete Bose in seiner Londoner Wohnung, siedelte aber in die Royal Institution über, als diese im Oktober wieder geöffnet wurde. Die Arbeit verscheuchte seine gedrückte Stimmung vorübergehend, konnte sie aber nicht ganz bannen. Um diese Zeit erfreute ihn ein Brief des bekannten Botanikers und Pflanzenforschers Professor Vines aus Oxford, der großes Interesse für seine Arbeit bezeugte und gern seine Experimente sehen wollte. Er kam dann auch in das Laboratorium der Royal Institution, begleitet von Horace Brown, einem ändern erfolgreichen Erforscher der Vorgänge im Pflanzenleben, und Howes, dem Nachfolger Huxleys in South Kensington.

Bei der ersten Dose des Reizmittels, das Bose einer Pflanze gab, zeigte ein heftiger Ausschlag des Lichtstrahls im Spiegel des Galvanometers ihre Empfindlichkeit an. Nie noch hatte Bose drei nüchterne Engländer so freudig erregt gesehen wie in diesem Augenblick. "Sie benahmen sich wie närrische Buben." Howes behauptete, Huxley hätte sicher Jahre seines Lebens dafür hergegeben, diesen Versuch sehen zu dürfen. Einer der ändern fragte : "Was machten Sie nur, um Ihrer Freude Ausdruck zu geben, als Sie dies entdeckten ? Mußten Sie nicht laut brüllen, damit die Freude Sie nicht zersprengte ?" Doch alsbald wurde der Ton wieder geschäftsmäßig: "Die Royal Society hat Ihren Vortrag nicht gedruckt, also können Sie ihn der Linnegesellschaft geben. Wir gehören ihrem Vorstand an, können Sie also ohne weiteres einladen, uns einen eingehenden Vortrag zu halten. Zeigen Sie Ihre Versuche bei uns. Wir wollen alle Physiologen, vor allem Ihre Gegner, dazu einladen."

Wir haben gesehen, wie Boses Bericht über seine Entdeckung der elektrischen Reaktion bei Metallen und Pflanzen in das Archiv der Royal Society verbannt wurde. So blieb ihm nur ein Weg übrig, um aller gegnerischen Kritik zu begegnen : dieser Vortrag vor der Linnegesellschaft. Am Vorabend des Ereignisses schrieb er an einen Freund in Indien: "Sollte ich diese neue Richtung in der Forschungsart je aufgeben, so wird es nie durch Zwang geschehen, nur aus freier Wahl. Ich sehe den Weg, den ich gehen muß, noch nicht deutlich vor mir, aber ich werde jedenfalls die Sache immer wieder aufnehmen, sei es nur, um zu beweisen, daß eines einzigen Mannes Kraft und Zielbewußtheit jeder Gegnerschaft gewachsen ist. Es ist nicht meine Art, mit gefalteten Händen entsagend dazustehen. Ich glaube nicht an Wunder, aber diesmal soll das Wunder geschehen. Denn ich weiß, daß ich für den Sieg der Wahrheit kämpfe."

Am Tage nach dem Vortrag (21. Februar 1902) schreibt er wieder: "Sieg! ich stand ganz allein da, innerlich darauf gefaßt, daß eine ganze Schar von Gegnern über mich herfallen werde. Aber schon nach einer Viertelstunde dröhnte der ganze Saal von Beifall. Nach dem Vortrag sagte mir Professor Howes, während er so einem Experiment nach dem ändern gefolgt sei, habe er versucht, sich dem zwingenden Beweis zu entziehen, indem er auf eine Lücke in der Erklärung baute. Aber auch diese Lücke habe der nächstfolgende Versuch geschlossen." Alles war gut gegangen. Die Diskussionsredner wünschten Bose begeistert Glück. Es war fast eine Ovation. Der Vorsitzende schrieb ihm:

"Mir scheint, Ihre Versuche tun jeden Zweifel darüber ab, daß alle Teile der Pflanzen, nicht nur die bis jetzt als reizempfindlich bekannten, auf Reize reagieren, und diese ihre Reizbarkeit durch eine elektrische Reaktion auf den Reiz bekunden. Das ist ein be-deutender Schritt vorwärts und wird hoffentlich der Ausgangspunkt für neue Forschungen sein, die uns darüber aufklären, auf welchen Molekularverhältnissen die Reizbarkeit beruht und worin die Molekularveränderung besteht, die den Reiz hervorruft. Das würde zweifellos zu einer bedeutsamen Allgemeinerkenntnis über die Eigenschaften des Stoffes führen, des belebten wie des toten."

Es hatte den Anschein, als wäre der Mißerfolg des letzten Jahres wieder wettgemacht. Der Vortrag ging mit zahlreichen Abbildungen der Apparate in Druck. Da kam eine neue Ueber-raschung. Sie war nicht weniger plötzlich als die vorige und wirkte womöglich noch schmerzlicher. Es wurde behauptet, Boses Ergebnisse seien nicht neu, sie seien schon von anderen vor ihm erzielt worden ! Forschungsergebnisse, die denen Boses im wesentlichen gleichen, waren im November 1901 einer wissenschaftlichen Gesellschaft in London von einem Physiologen unterbreitet worden, der Boses Versuche vor der Royal Society im Juni 1901 gesehen und auch darnach an der Aussprache teilgenommen hatte. Bose erfuhr von der neuen Wendung, die sein Fall nahm, aus einem Brief von Professor Howes, dem Sekretär der Linnegesellschaft. Nun kamen wieder gedrückte Zeiten, trüber als die ersten. Aber Bose raffte sich zu einer Antwort auf und bat in aller Form um Untersuchung der Angelegenheit. Die wurde ihm sofort zugesagt. Vines und Howes, die beide auch Mitglieder der Royal Society waren, hatten zum Glück dort Druckbogen von Boses Arbeit gesehen, zehn Monate vor seinem Vortrag in der Linnegesellschaft und fünf Monate bevor jener andere Gelehrte seine Arbeit vorgelegt hatte. Auch lag ja Boses Vortrag, der in der Royal Institution einige Tage vor der Veranstaltung der Royal Society stattfand, gedruckt vor. Angesichts dieser Quellensammlung brauchte der Untersuchungsausschuß nicht zu zögern. Boses erster Bericht wurde unbeschränkt anerkannt und der Vortrag daraufhin veröffentlicht.

Nachdem Professor Howes als Sekretär der Linnegesellschaft die Erstrechtsansprüche, die die Veröffentlichung von Boses Vortrag noch im letzten Augenblick zu verhindern drohten, sorgfältig geprüft hatte, schrieb er dem indischen Gelehrten : "Ich stehe ganz auf Ihrer Seite, und die von Ihnen angeführten Tatsachen bestätigen nur 'meine ursprüngliche Ueberzeugung. Man ist recht unmenschlich mit Ihnen umgesprungen. Ich möchte Ihnen raten, Ihrem Vortrag eine ausführliche Schilderung der Sachlage vorauszuschicken und im übrigen die Narren sich selbst zu überlassen."

Bose aber gab sich mit dem Untersuchungsergebnis zufrieden, das ihn völlig rechtfertigte. Und in Erinnerung an die ritterlichen Ueberlieferungen in den Erzählungen aus seiner Kindheit wünschte er nicht, seinen geschlagenen Gegner noch zu verfolgen, sondern schilderte die Sache so kurz und höflich wie möglich. Das aber verstärkte Howes Grimm nur und er schrieb Bose : "Sie bringen mich zur Verzweiflung. Hier ist die Höflichkeit des Ostens schlecht angebracht. Jetzt suchen Sie ihn auch noch zu schonen. Lassen Sie sich sagen, daß die Menschen so etwas rasch vergessen, und daß er bald wieder Ihr Gegner sein wird."

Seine Prophezeiung erwies sich als nur zu wahr, wie Bose wiederholt zu seinem Nachteil erfahren mußte. Vom fernen Indien aus konnte er den Behauptungen seiner Gegner, seine Arbeit sei nicht zuverlässig, nicht direkt entgegentreten, so daß die englischen Physiologen sich gegen ihn einnehmen ließen. Freilich hatte diese Kampfesweise nur den einen Erfolg: seine Arbeit in den nächsten neunzehn Jahren zu erschweren. Zuletzt aber brach sie völlig in sich zusammen, zumal als Bose 1914 und 1920 Europa besuchte, wo er jede denkbare Gelegenheit fand, seine Ergebnisse öffentlich und im engeren Kreise vorzuführen. Die durch bewußte Missdeutungen gegen ihn voreingenommenen Physiologen erkannten jetzt den Wert seiner Entdeckungen und seiner neuen Arbeitsweisen rückhaltlos an, und Bose hatte nun keine zuverlässigeren Freunde als die große Anzahl der Physiologen, die man zuerst dahin gebracht hatte, ihn als Eindringling zu betrachten.

Nach den geschilderten zwei unangenehmen Erlebnissen wollte sich Bose nicht mehr länger damit begnügen, für wissenschaftliche Gesellschaften Abhandlungen zu schreiben, deren Veröffentlichung sich verzögerte und oft sehr ungewiß war. "Ich war bisher zu faul, Bücher zu schreiben, aber das zwang mich dazu." Nun begann ein neuer Abschnitt gesammelter Tätigkeit und in den nächsten paar Monaten wurden einige hundert Versuche durchgeführt. Die Mehrzahl davon ist in dem Buche "Response in the Living and Non-Living"8 enthalten, das somit nicht nur den Ertrag seiner früheren Londoner Vorträge und Abhandlungen bringt, sondern ihn darüber hinaus noch nach verschiedenen Richtungen vermehrt. Von diesen Fortschritten wird einiges in einer neuen Abhandlung der Royal Society vom Mai 1902 mitgeteilt9 . Sie wurde sofort gedruckt und zwar ohne jede Kritik und ohne jeden Einwand, obgleich der Verfasser die Gelegenheit benützte, gerade solche Fragen, die das letztemal Anstoß erregt hatten, noch einmal zu behandeln. Denn wenn auch die Abhandlung im wesentlichen physikalisch ist und die Fachausdrücke des Physikers verwendet, sprechen doch die Reaktionskurven der Metalle überzeugender als je ; und keine spätere Zusammenfassung dessen, was seine Hauptthese werden sollte, konnte deutlicher sein als der Inhalt dieser von der Royal Society angenommenen Abhandlung. "Die verschiedenen mit der Reaktion in anorganischen Stoffen verbundenen Erscheinungen, die negative Variation, die Beziehung zwischen Reiz und Antwort, die gesteigerte Reaktion auf Dauerreiz, die außergewöhnliche Reaktion, die sich nach lang andauernder Reizung in eine normale verwandelt, die diphasische Variation, die Steigerung der Reaktion nach Anwendung von Reizmitteln, ihre Abnahme unter dem Einflüsse von Dämpfen und ihr Aufhören nach Anwendung sogenannter Gifte - sie alle gleichen auffällig den Reaktionserscheinungen in lebenden Geweben. Eine lückenlose Aufzählung der Wechselbeziehungen zwischen beiden Erscheinungsgruppen findet man in dem demnächst erscheinenden Werk " O n the Response in the Living and Non-Living".

Damit war der Entscheid, der den Ertrag seiner Arbeiten in das Archiv der Society verbannt hatte, mehr als aufgehoben.

Auch Herbert Spencer, der die Fortschritte der Wissenschaft gespannt verfolgte, erkannte die Bedeutung von "The Response in the Living and Non-Living" mit herzlichen Worten an und war voll Bedauern, daß er die neuesten Ergebnisse für sein Buch Principles of Biology nicht mehr verwerten konnte.

Hiemit sei es einstweilen genug von wissenschaftlichen Forschungen und Kämpfen. Dem Leser wird es wohl eine ebenso willkommene Abwechslung sein wie dem Verfasser, wenn wir uns nun anderen Erlebnissen und Charakterzügen zuwenden, die uns aus dem Bereiche wissenschaftlicher Laboratoriumsarbeiten in eine ganz andere Welt führen.

VIII. FEIERTAGE UND WANDERUNGEN

Boses Leben und umfassende Bildung erwecken auf den ersten Blick den Eindruck, als hätten sie mit seinem wissenschaftlichen Studium nichts zu tun. Und doch hat er daraus die Kraft für seine beste Arbeit gesogen und, was mehr ist, für seine indischen Ziele, die seine persönlichen Interessen und Werke weit übertrafen. Unmittelbar nach seiner Verheiratung begann er, in Gemeinschaft mit seiner jungen Frau, in den zwei Urlaubszeiten des Jahres Indien planmäßig zu durchstreifen, um es kennenzulernen und zu erfassen, was es bedeute. Ihre Erlebnisse gäben sicherlich schon an und für sich eine der besten persönlichen indischen Reiseschilderungen, zumal wenn man ihnen eine Auswahl der zahlreichen selbstaufgenommenen Lichtbilder beigäbe. Leider aber hatte vor einigen Jahren ein neuer, wohlmeinender Diener, der den Auftrag erhielt, die Negative abzustauben, jede Platte bis auf das Glas sauber gekratzt, bevor man seine gutgemeinte Gründlichkeit entdeckte. Und das Reisetagebuch wurde nie geschrieben, weil die Last wissenschaftlicher Arbeit während des Collegejahres keine freie Zeit ließ. Doch lebhafte Erinnerungen verblassen nicht und das Bildungserlebnis kann nicht mehr erlöschen. So kennt dieser europäisch gebildete moderne Physiker auch sein Heimatland bis in jede Einzelheit, kennt es als ein Inder unter Indern.

Er begann großzügig in geschichtlicher Reihenfolge, zuerst bei den alten Stätten und Heiligtümern. Eine der ersten Reisen des jungen Paares galt Sanchi Tope, einem Bau, den König Asokas Gemahlin über einer Buddhareliquie errichtet hatte. Die Zeit hat den gewaltigen Toren ihr Siegel aufgedrückt. Unser Pilgerpaar, das unterwegs einige Räuberabenteuer bestanden hatte, zog dann nach Mandhata mit seinen uralten Tempeln, deren Riesenquadern mit Eisenklammern zusammengefügt sind. Sie sind an der Mündung zweier heiliger Ströme errichtet, wo in Indien so leicht und schnell ein geeigneter Platz für Heiligtümer sich findet, der des dreimal heiligen Ner-budda und des Tapti. Bose und seine Gattin besuchten auch die nahen Tempelruinen, die die Legende mit den Helden Ma-habharata, Bima, Arjuna und anderen in Verbindung bringt. Anregend war auch der Besuch der vornehmen alten Hügelstadt Chitor, die manchmal der Schauplatz von Rajputs Rittertaten und weiblicher Aufopferung war - eine Geschichte von Niederlagen, die auch die glänzendsten Siege in den Schatten stellen. Auch Ajmer wurde besucht mit seiner Wallfahrtsstätte Pushkar am See. In auffälligem Gegensatz dazu steht das moderne Jaipur, das der fürstliche Astronom mit großzügiger Regelmäßigkeit angelegt hatte, und dann Amber, die uralte heilige Stadt, die an Alt- und Neu-Edinburgh erinnert, das sie vielleicht an Schönheit noch übertrifft. Natürlich wurden Agra und Delhi nicht übergangen. In einem anderen Jahre wählte das Ehepaar aus gesundheitlichen Gründen Naini Tal als Aufenthalt. Unterwegs machten sie einen Abstecher nach Lucknow. Von Naini Tal ging Bose allein nach dem Pindarigletscher. Mit knapper Not entgingen er und sein Führer dem Tod, aber das reizte nur noch mehr: im Jahr darauf führte er, über Al-mora reisend, auch seine Frau und einige Freunde nach dem Gletscher. Ein andermal reisten sie von Rawal Pindi, der damaligen Endstation der Eisenbahn, nach Baramulla, mieteten ein Hausboot nach Srinagar und sahen dabei sehr viel von der Herrlichkeit der Landschaft, von den Gärten und Denkmälern Kaschmirs. Noch zweimal später besuchten sie Kaschmir, das letztemal als Gäste des Maharadscha, der ihn daraufhin aufforderte, ihn immer wieder zu besuchen, so oft er möge. Eine andere Reise führte durch Orissa mit seinem berühmten Bhubaneswartempel, den Udaigirihöhlen und der großen Felsengruft Asokas, nach Puri mit dem Jagannathtempel, zu den benachbarten Ruinen von Kanarak, zum Chilkasee usw. Sie besuchten miteinander die berühmten Höhlen von Ajanta und

Ellora, wohin sie später noch einmal kamen, und zwar mit Frau Herringham und ihrer Schar künstlerischer Mitarbeiter aus Indien und anderen Ländern, die die Gemälde in Ajanta nachbildeten; auch Schwester Nivedita war dabei. In Bankipur wurden die Ausgrabungen von Pataliputra und die berühmte persische und Mogulbücherei ausgiebig besichtigt; auch die Geburtsstätte Govinda Singhs, einer der bedeutendsten Nachfolger von Helden und Heiligen, der die Sikhreligion gründete. In einem späteren Jahre ging es nach Amritsar mit seinem goldenen Tempel. Aus Anlaß eines Vertrags an der Universität reiste Bose nach Lahore. In ähnlicher Weise wurde der Distrikt von Bombay durchwandert, hauptsächlich wegen der Höhlentempel in Elephanta, Karli und Kenhari, und im Anschluß daran das Mahrattagebiet mit seinen Erinnerungen an die Kämpfe des kriegerischen Shivaji.

Als sie von ihrer letzten Reise nach Europa und Amerika 1915 zurückkamen, landeten die beiden begeisterten Reisekameraden in Colombo, durchstreiften Ceylon, besuchten die alten buddhistischen Tempel und gingen dann durch die großen Tempelstädte des Südens nordwärts von Rameswaram bei Madura und Tanjore bis Trichinopoly und Srirangam. In Sri-rangam wurde Bose nicht nur alles gezeigt, was indische Besucher sehen dürfen, sondern er wurde auch eingeladen, die innersten Bezirke, das Allerheiligste zu betreten. Er betonte, er sei kein orthodoxer Hindu und halte nicht mehr am Kastenwesen fest, zumal er jedenfalls seine Kastenzugehörigkeit durch seine Ueberseereisen in ferne Länder schon längst verloren habe, also habe er kein Recht, das Heiligtum zu betreten. "Nein, nein, wehrte der Priester ab, treten Sie nur ein. Sie sind ein Sadhu."10

Wiederholt wurde der Kumaondistrikt bereist; einmal weilte Bose einige Zeit bei den Mönchen von Mayavati. Jedesmal aber besuchte er die Dörfer, wie er es sich auf seinen Reisen zur Kegel gemacht hatte. Sie zogen ihn um nichts weniger an, als die Denkmäler und Erinnerungen an die Vergangenheit. Wenn auch leider nur zu oft bestimmte geschichtliche Ueberlieferungen fehlen, lebt doch in den Dörfern der-Gegenwart und in den Legenden der Vergangenheit der Geist der Ueberlieferung noch fort und oftmals ist gerade in den äußerlich einfachsten Bauern Kultur und Mythologie der Hindus noch am lebendigsten. Die Teilnahme für solche Dinge mußte natürlich auf allen diesen Reisen bestärkt werden.

Den größten Teil einer Urlaubszeit in Budh-Gaya - dort erlebte Buddha unter einem Bobaum, dessen Sprößling heute noch steht, seine Erleuchtung - verbrachten sie als Gäste des Mahanta (Abt): Die zahlreichen Gespräche mit ihm vertieften ihren Einblick in das Wesen des Buddhismus, Weiter sahen sie die alte Stadt Rajgir, wo Buddha beim König um das Leben der Ziegen bat und wo sich zum ersten Male nach seinem Tode seine Anhänger versammelten.
J. C. Bose (1907)
J. C. Bose (1907)

Die Vorliebe für die alten Stätten indischen Geisteslebens wurzelte schon seit langem und ganz natürlich in Boses Kindheitserinnerungen an Vikrampur und seine Ueberlieferungen. Darum gingen unsere Pilger auch einmal nach Taxila, dessen Ausgrabungen jetzt nach Hiuen Tsaings Reisetagebuch 'aus dem 13. Jahrhundert geführt werden, und ein andermal an den Ruinen von Nalanda, einst eine große Universität, die in der Blütezeit Athens von Tausenden von Studenten besucht war, darunter auch von zahlreichen Ausländern. Von allen Reisen aber lebt im Gedächtnis am stärksten diejenige fort, die am meisten den traditionellen Pilgerfahrten glich - die nach Badrinath und Kedarnath, dem Ziele der letzen Fahrt Yudhisthiras, eines der Helden, die dort zu sterben wünschten. Was für die meisten Pilger das Ziel war, bildete für Boses lange Reise den . Ausgangspunkt: Hardwar, wo der Ganges das Gebirge verläßt und in die Ebene heraustritt. Sie gingen von der Eisenbahn an drei Wochen lang bergauf, Maultiere trugen allen Reisebedarf. Bose ritt oder ging zu Fuß, während seine Frau abwechselnd ging oder sich auf einem Tragsessel tragen ließ. Auf dieser Reise fühlten sie stärker als je zuvor ihre Zugehörigkeit zu der Schar der Pilger aus aller Herren Länder, aus Ceylon und Comorin, Bengalen, Orissa und allen anderen Provinzen Indiens. Noch nie hatten sie in solchem Maße den Einfluß der Religion empfunden. Hier waren alle Pilger einmütig und innerlich verbunden. Jeder grüßte den ändern als Freund, ohne Unterschied der Kaste. Alle Gesichter glühten vor Begeisterung, als der ewige Schnee vor ihren Augen erschien. Und von Mund zu Mund lief der Ruf: "Jai Kedarnath!" (Heil dem Schneegott!). Männer und Frauen waren inbrünstig in Gebetsekstase versunken. Ein Blinder kroch auf einem schmalen, gefährlichen Pfad, am Rande einer Klippe, vorwärts. Als man ihn warnte, erwiderte er : "Warum sollte ich mich fürchten, wenn Er mich führt?"

Es ist also gar nicht so verwunderlich, wenn Bose im Andenken an diese Erlebnisse sagt: "Durch all dies hat Indien mich zu seinem Sohne gemacht und als Sohn bewahrt. Tief im Grunde von allem fühle ich sein Leben, seine Einheit."

Diese wesenhafte Einheit, die sich am tiefsten im Geiste der Religion und in der Seele der Frau offenbart, kommt auch deutlich in der Staatspolitik der alten Zeit zum Ausdruck. Noch das vergangene Jahrhundert sah ein Beispiel dafür in Königin Ahilyabai, der vornehmsten, aber deshalb keineswegs erfolglosen Herrscherin aus der bedeutenden und kriegerischen Dynastie der Holkars. Aus ihrer schönen kleinen Hauptstadt Maheswar am Nerbudda -- einem Wallfahrtsort etwa vierzig Meilen südlich von der jetzigen Hauptstadt Indore, und deshalb repräsentativer Stätte für Mittelindien! - schickte sie die Mittel und die erwählten Baumeister, welche an den vier äußersten Ecken Indiens, im Norden, Süden, Osten und Westen, vier neue Tempel errichten sollten. Damit gab sie den Wallfahrten neuen Antrieb.

Der kulturelle und geistige Wert seiner Reiseerfahrungen äußert sich nicht nur in Boses allgemeiner Indien und Europa umfassenden Lebenskenntnis, sondern auch in seiner ungewöhnlich starken Fähigkeit, wissenschaftlich anzuregen. Frei lieh kann man das Aufblitzen der oder jener neuen physikalischen oder biologischen Erkenntnis, dieses oder jenes neuen Forschungsplanes beim Anblick von Naturschönheiten oder altehrwürdiger Stätten nicht erklären, es sei denn dadurch, daß sie Geist und Gemüt mächtig anregen. Boses lebhaftes Temperament aber mußte wohl Asokas alte Inschrift als Ruf und Gebot an sich selbst empfinden: "Geh und mische dich unter die Menschen und führe sie zu der Redlichkeit, die über allem Wissen steht. Geh hin unter die Schrecklichen und Mächtigen, hier wie in fremden Landen, und verbinde dich ihnen allüberall geschwisterlich."

So war es denn kein Wunder, wenn ihn bei den Ausgrabungen von Taxila und dann wieder bei den Ruinen von Nalanda das Gefühl überkam, es durchbebe ihn nicht nur der Geist dieser alten Universitäten, sondern der Geist, der allen Universitäten gemeinsam ist. Diese Besichtigungen weckten und bestärkten ganz seltsam seine Auffassung, sein Lebenswerk müsse mehr verwirklichen als die Erfüllung persönlichen und wissenschaftlichen Strebens, mehr als die Errichtung eines Physiklaboratoriums, und sei es des besten. Er müsse vielmehr von nun an trachten, nichts Geringeres als die Neuschaffung einer noch umfassenderen Stätte geistigen Forschens und Wirkens herbeizuführen, als jene alten Kulturstätten waren. Zuerst natürlich für Indien, doch auch, wie einst, in Berührung und anregendem Austausch mit denen der übrigen Welt. In diesem alten Stolz auf Indien, wie es war, und der Hoffnung auf das, was es werden könne, einerseits und in seinem umfassenden Anteil an abendländischer Wissenschaft anderseits liegen die einigenden Kräfte, die in der Gründung des Bose Research Institut ihren Ausdruck fanden.

Nachdem wir so nun den Inder in diesem Manne und seine sich immer noch weitenden kulturellen Neigungen und Ausblicke besser verstehen, wollen wir wieder zu seinem wissenschaftlichen Werk zurückkehren.

IX. DIE ANTWORT DER PFLANZEN

Zum Eingang dieses schwierigen Kapitels ist wohl eine kurze persönliche Ausführung von Nutzen. Bei seinen Forschungen über Reaktionen im allgemeinen hatte Bose gefunden, daß auch die gewöhnlichen Pflanzen und ihre verschiedenen Teile empfindlich sind, indem sie auf mechanische oder andere Reize durch eine auf Erregung deutende elektrische Reaktion antworten. Nun mußte er sich aber fragen, warum dann die sogenannten gewöhnlichen Pflanzen ihre Erregung nicht durch eine sichtbare Bewegung zu erkennen geben. Die Blätter der bekanntesten sensitiven Pflanze, der Mimosa, antworten auf jeden Reiz ganz auffällig: das Blatt sinkt plötzlich, weil sich die untere Hälfte der kissenförmigen, gelenkartigen Blattbasis, des Polsters, zusammenzieht. Bose bemerkte, daß der Polster sich nur wenig zusammenzog. Der lange Blattstiel ließ die Bewegung größer erscheinen. Er vermutete deshalb, die Erregung löse in allen Pflanzen eine Zusammenziehung aus, die jedoch bisher der Aufmerksamkeit der Beobachter entgangen sei. Um diese Vermutung nachzuprüfen, brachte er an gewöhnlichen Pflanzen eine ähnlich vergrößernd wirkende Vorrichtung am Apparat an. Der Erfolg blieb nicht aus. Bose fand, daß auch sie auf einen Reiz mit einer deutlichen Kontraktion antworteten.

Um diese Bewegung aufzeichnen zu können, verwandte Bose einen "optischen Hebel" eigener Erfindung, der jede Bewegung stark vergrößerte. So vermochte er nachzuweisen, "daß alle Reaktionsmerkmale des tierischen Gewebes auch im Pflanzengewebe festzustellen sind". Das Ergebnis dieser ausgedehnten Forschungen übergab er in Form von sieben Abhandlungen im Dezember 1903 der Royal Society. Sie wurden als so bedeutungsvoll erkannt, daß die Gesellschaft sie zur Veröffentlichung in ihren philosophischen Abhandlungen annahm. Aber derselbe gegnerische Einfluß, der seinerzeit versucht hatte, seinen Vortrag vor der Linnegesellschaft zu hintertreiben, war wieder eifrig am Werke. Bose war jetzt fern von England und die Widersacher hatten freie Bahn. Die Royal Society teilte also Bose mit: wie hoch man die Bedeutung seines Werkes einschätze, habe man durch die Bereitwilligkeit gezeigt, seine Arbeiten für die "Philosophischen Abhandlungen" anzunehmen. Seine Ergebnisse seien aber so unerwartet und in Widerspruch zu den geltenden Theorien, daß nur automatische Aufzeichnungen überzeugen könnten, weshalb seine Arbeiten zunächst dem Archiv der Gesellschaft übergeben worden seien.

Diese Hinausschiebung der Veröffentlichung - die einer Ablehnung gleichkam, denn die gestellte Bedingung erschien damals noch unerfüllbar - wurde natürlich weithin, und vor allem in Indien, als schwerwiegender, wenn auch nicht im einzelnen belegter Zweifel an Boses angeblichen Entdeckungen aufgefaßt. Zum Glück aber reagierte der Forscher auf diese Verbindung von Reizen seitens seiner geistigen Umwelt, die sich von Zeit zu Zeit so niederschmetternd und erbitternd einstellten, in so kraftvoller Weise, daß er die umfassende, langdauernde experimentelle Leistung vollbrachte, die er in den zwei in der Folge veröffentlichten Werke zusammenfaßte11 . Nur weniges im Reiche der Wissenschaft kann der Arbeitsleistung und den neuartigen Ergebnissen dieser drei Jahre Forschung an die Seite gestellt werden, so daß wir die bitteren Erfahrungen, aus denen sie entsprangen, heute kaum mehr bedauern können. Wir müssen vielmehr den, der sie durchzumachen hatte, zu den Reizen beglückwünschen, die eine so wirksame Steigerung seiner eigenen Betätigung und Entwicklung hervorriefen.

Als Bose seine Forschungen über die Antwort der Pflanzen aufnahm, fragte er sich: "Wie können wir in Erfahrung bringen, welche unsichtbaren Wandlungen sich in der Pflanze abspielen? Wie sollen wir feststellen, ob sie unter bestimmten Umständen erregt oder niedergeschlagen wird?

Ich sehe nur einen einzigen Weg dorthin, als vielleicht gangbar vor mir: wir müßten die Antwort des Organismus auf einen bestimmten Reiz nachweisen und messen. Der schwächste Reiz müßte einer Pflanze in erregbarem Zustande eine kräftige Antwort entlocken. In ermattetem Zustande dürfte auch ein starker Reiz nur eine schwache Antwort wecken. Und wenn z. B. der Tod das Leben überwindet, müßte die Fähigkeit zu antworten plötzlich aufhören. Kurz, unter dem Einfluß ununterbrochen gleicher Reize würde die Veränderung in der Stärke der Reaktion die von der Umwelt bedingten physiologischen Veränderungen anzeigen."

Wir hätten also die innere Verfassung der Pflanze entdeckt, wenn wir sie veranlassen könnten, ihre eigene Antwort niederzuschreiben. Zu diesem Zwecke müssen wir eine Kraft ausfindig machen, die die Pflanze zwingt, ein Antwortzeichen zu geben. Sodann müssen wir etwas ersinnen, um diese Zeichen in eine uns verständliche Schrift zu verwandeln. Und endlich müssen wir selber lernen, diese Hieroglyphen zu entziffern."

Hier ist also der wesentliche Punkt, wo Boses Werk die Grenze zwischen Physik und Physiologie überschreitet. Die Reihe, die mit der "Antwort anorganischer Materie" einsetzt, umfaßt sechs Bände, in denen die Arbeit langer Jahre steckt, und die nicht nur der Royal Society unterbreitete Sonderuntersuchungen und Abhandlungen zusammenfassen, sondern auch viele neue Tatsachen enthalten. Der erste Band, "Antwort des Belebten und Unbelebten"12 wurde schon oben ausführlich besprochen. Der zweite Band, "Die Antwort der Pflanzen"13 schildert 315 Versuche, der dritte, "Vergleichende Elektrophysiologie"14 321 Versuche mit zahlreichen Bildbeigaben, wie sie bei Bose die Regel sind. Die Arbeit der nächsten sechs oder sieben Jahre galt hauptsächlich der Vervollkommnung seiner Meßinstrumente, doch weist auch der vierte Band dieser unvergleichlichen Reihe, die "Forschungen über die Reizbarkeit der Pflanzen"15 wesentliche Arbeitsergebnisse auf, die diesen Instrumenten zu verdanken sind. Das Werk der nächsten Jahre erschien in den "Philosophical Transactions" der Royal Society 1913, die Arbeit von 1917 und 1918 ist hauptsächlich festgelegt in den "Lebensbewegungen der Pflanzen" (Life Movements in Plants) als dem 1. Bande der "Transactions of the Bose Research Institute" (Kalkutta 1918), der auf 251 Seiten 21 Aufsätze enthält. Band zwei dieser Abhandlungen erschien 1919, 344 Seiten stark mit 30 Aufsätzen. Mit der Veröffentlichung eines weiteren Bandes hofft der fruchtbare Forscher seine Untersuchungen über die Pflanzen abschließen und sich wieder andersartigen alten und neuen Aufgaben zuwenden zu können, die im einzelnen lange erwogen, immer wieder aufgeschoben wurden.

Die genannte Bücherfolge umfaßt eine Reihe von Berichten über die vier Gegenstände von Boses weiterer Ueberschau: die Antwort der Metalle, der Pflanzen, des Tiermuskels und -nerves, und endlich, so weit sie eben möglich ist, entsprechende physiko-psychologische Deutung. Als Bose die den Physiologen bereits bekannten Tatsachen der Reaktion tierischer Gewebe, Muskeln und Nerven, gegenüber den Reizen der physikalischen Umwelt noch einmal überprüfte und mit seinen eigenen Entdeckungen des Reizverhaltens anorganischer Stoffe in Verbindung brachte, gelang ihm die bereits erwähnte beachtenswerte Entdeckung, daß die Reaktionskurve der Metalle der Antwort tierischer Stoffe genau gleicht. Und diese Uebereinstimmung führte ihn ganz von selbst zu der Untersuchung weiter, ob man entsprechende Antworten von der Pflanze, die bisher als passiv und träge galt, bekommen konnte. Wir sahen schon, daß er auch damit Erfolg hatte. Hier war eine neue und wesentliche Einheitlichkeit der Erscheinungen gefunden, die man vorher streng auf die Tierphysiologie beschränkt glaubte, und die ihre Ausdehnung zuerst auf das Gebiet der Pflanzenphysiologie und dann der Physik nahmen, wo man bisher keine so überraschende Aehnlichkeit vermutet hatte. Weiter ist damit, da in allen Wissenschaften eben der Mensch die Natur beobachtet und deutet und dabei allerhand zum besseren Verständnis seiner selbst lernt, auch das Gebiet der menschlichen Physiologie erfolgreich betreten worden, am meisten wohl mit dem Abschnitt über "Visual Analogues" und der Entdeckung der binokularen Alternation des Sehens, usw. Außerdem wurde bei diesem Vorgehen allgemein und besonders bei solchen Beobachtungen wie denen "unbewußter Gesichtseindrücke", das Gebiet der Psychologie betreten und zunächst in Uebereinstimmung mit dem Bisherigen gefunden. Auch deuten sich schon weitere Forschungen auf diesem Gebiete an, wie wir in einem späteren Abschnitte sehen werden.

Die Reaktion des Nichtlebendigen wurde nicht mehr weiter erforscht, denn seitdem hat sich unser Forscher dem organischen Leben zugewendet. Der nächste Band, wie schon sein Name sagt, Die Antwort der Pflanze, ist im wesentlichen so streng wie nur möglich auf das Sondergebiet der Pflanzenphysiologie beschränkt, aber in dem unmittelbar folgenden und auch ergänzenden Band: Vergleichende Elektrophysio-logie - finden wir nicht nur alles bisher in diesem Gebiet der Tierphysiologie bekannt Gewordene sinnvoll verwertet, um das Verhalten der Pflanzen weiter aufzuhellen, sondern auch entschiedene Vorstöße in das eigentliche Arbeitsgebiet des Tierphysiologen. In der Folge wurden viele seiner klassischen Versuche noch weiter ausgebaut, so daß noch schärfere Beobachtungen und Aufzeichnungen gewonnen und noch umfassendere Vergleiche angestellt wurden, und oft schlossen sich auch wieder neue Untersuchungen daran.

So gelangen wir von einer Untersuchung der Reaktion der Blätter (in deren Verlauf die früheren Arbeiten Burdon Sandersons und anderer über Dionaea - Venus-Fliegenfalle - erneut, durchgesehen und erklärt wurden) über Boses Ansicht, das gewöhnliche Blatt sei ein elektrisches Organ, zu seiner Untersuchung der seltsamen, seit langem bekannten elektrischen Organe gewisser Fische - und von da zur "Theorie der elektrischen Organe".

Weiter in dieser Arbeitsrichtung geht ein ganzer Abschnitt mit Vergleichen der "Reaktion von Tier- und Pflanzenhäuten", Trauben und Tomaten einerseits, Frosch, Schildkröte und Eidechse anderseits, die sich im wesentlichen alle gleich verhielten. So vergleicht Bose weiter das Verhalten der Oberhaut- und Ausscheidungsgewebe der Pflanzen mit denen der Tiere, und ebenso die Reaktion der Verdauungsorgane, von den Tentakeln des Sonnentaus oder der Kanne der Nepenthes, welche Darwins "insektenfressende Pflanze" vor langen Jahren so berühmt gemacht hat, bis zum Magen des Frosches, der Schildkröte und anderer Tiere: und bei allen diesen Untersuchungen ergab sich eine unerwartet große Uebereinstimmung sogar der kleinsten Einzelheiten. So geht Bose von einem Abschnitt über "Die Reaktion von Blättern auf Lichtreiz" kühn zur Reaktion der Retina auf dieselben Reize weiter. Wir kommen dann von der Bestimmung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit einer Erregung in Pflanzengeweben und dem Vergleich der Leitungsfähigkeit von zwei Stücken desselben Nervs durch den geistvollen Bau einer "Leitungsfähigkeitswage" zu einer ganz neuen Methode quantitativer Nervenreizung und von da wieder zur elektrischen Reaktion isolierter "Pflanzennerven" (isoliert durch Herausziehendes Gefäßbündels, dessen leitende Elemente von einer Scheide umschlossen sind, aus dem Wedelstiel eines Farnes), die sich nachweisbar ebenso verhalten wie Tiernerven unter normalen Verhältnissen, im Starrkrampf, unter dem Einfluß von Wärme und Kälte und nach narkotisierenden Einspritzungen etwa mit Aether oder Chloroform.

Mit diesen Forschungsmethoden brach Bose in das Gebiet der Tierphysiologie ein, oft mit ganz neuen Ergebnissen. Die weiteren Forschungen über elektrische Physiologie des Nervs gehen zu sehr in das Einzelne und Fachmännische, als daß man sie hier skizzieren könnte. Aber der Tierphysiologe muß seitdem in steigendem Maße mit ihm rechnen.

Kehren wir zu dem ersten der beiden zusammengehörigen Bände zurück, deren einer "die Antwort der Pflanze" heißt, und machen uns klar, daß sein Fortschritt gegenüber dem vorhergehenden darin besteht, daß er uns heute geradezu als Einleitung in Boses umfassende und vielseitige Erforschung der nun immer mehr in den Vordergrund tretenden Pflanzenphysiologie vorkommt. Das Wesentliche läßt sich wohl folgendermaßen formulieren : Ist die Pflanze eine geheimnisvolle Einheit, für deren Auswirkung kein bestimmtes Gesetz gefunden werden kann, oder kann man sie als Maschine erklären, die die ihr zugeführte Kraft auf eine Weise umwandelt, die Erklärungen mehr oder weniger zuläßt? Ihre Bewegungen sind so grundverschieden, daß die erste Hypothese oft einzig möglich erschien. Denn Licht kann manchmal positive, manchmal negative Krümmungen erzeugen. Die Schwerkraft veranlaßt eine bestimmte Bewegung in der Wurzel und die entgegengesetzte im Sprosse usw. Daher kamen viele, darunter auch die Evolutionisten, zu dem Eindruck, als sei der Organismus zu seinem Vorteil mit verschiedenen, ganz besonderen Empfindungsmöglichkeiten ausgestattet, eine geschlossene physikalisch-chemische Erklärung seiner Bewegungen aber sei unmöglich. Hier jedoch wird die Behauptung eindeutig bestätigt und im einzelnen bewiesen, daß die Pflanze trotzdem als Maschine aufgefaßt werden kann und daß die Bewegungen, mit denen sie äußere Reize beantwortet, zwar scheinbar sehr verschiedenartig, letztlich aber doch auf eine grundlegende Einheit zurückführbar sind. Den Nachweis dafür soll das vorliegende Werk erbringen und nicht schon bekannte Ansichten über Pflanzenbewegungen noch einmal erörtern, die im Zusammenhang mit der Geschichte des Gegenstandes im einzelnen in den bekannten Nachschlagewerken über Pflanzenphysiologie bereits zu finden sind."
Fig. 7. Der optische Registrier-Apparat für Pulsationen (Pulse-Recorder). B, Arm des optischen Hebels, der mit dem pulsierenden Blättchen verbunden ist; L, der nach zweimaliger Reflexion von den zwei Spiegeln auf den Recorder fallende Lichtstrahl; C, das die drehbare Doppeltrommel, auf der das Registrierpapier aufgerollt ist, antreibende Uhrwerk; H, horizontale Führungsstange; K, Tintenbehälter mit dem kleinen vorstehenden Schwämmchen.
Fig. 7. Der optische Registrier-Apparat für Pulsationen (Pulse-Recorder). B, Arm des optischen Hebels, der mit dem pulsierenden Blättchen verbunden ist; L, der nach zweimaliger Reflexion von den zwei Spiegeln auf den Recorder fallende Lichtstrahl; C, das die drehbare Doppeltrommel, auf der das Registrierpapier aufgerollt ist, antreibende Uhrwerk; H, horizontale Führungsstange; K, Tintenbehälter mit dem kleinen vorstehenden Schwämmchen.

Das erste Kapitel stellt diese Behauptung in mustergültiger Weise ausführlich dar. "Die Pflanze reagiert wie eine Maschine entweder auf die Einwirkung äußerer Kräfte oder auf ihre latente Eigenenergie. Wie die Arbeitskraft einer Maschine am Zeigerstand gemessen wird, so kann man auf die physiologische Tüchtigkeit einer lebenden Maschine aus der Art ihrer Pulsaufzeichnungen schließen. Wie man solche Aufzeichnungen erzielt und in ihren Entwicklungen vorführt, wird erläutert und in Bildern gezeigt. Wir wollen diesen "optischen Pulse-Recorder" hier abbilden, da er ebenso einfach wie überzeugend ist. Der Apparat besteht aus zwei Rollen, über die ein Papierstreifen läuft, auf dem die Kurve aufgezeichnet wird. Den durch die Reaktionsbewegungen der Pflanze entstehenden Bewegungen des Lichtflecks folgt ein gleitendes Tintennäpfchen, aus dem der Zeichenschwamm hervorsteht. So kann man die Reaktionskurven und ihre verschiedenen Wandlungen unter dem Einfluß mannigfachster Einflüsse gut festhalten und aufzeigen. In der hier abgedruckten Zeichnung ist der kurze Arm des optischen Hebels an dem pulsierenden Blättchen der Telegraphenpflanze befestigt. Wiederum wird gezeigt, daß Einflüsse, die auf den physiologischen Zustand des Gewebes hemmend wirken, auch den Reaktionspuls hemmen und umgekehrt. Mit dem Tode hört die Reaktion überhaupt auf, wie das Diagramm zeigt. Indem Bose wieder bei den dem Tierphysiologen schon längst vertrauten Muskelkurven begann, bekam er jetzt zum ersten Male entsprechende Kurven für die Kontraktion jeder beliebigen Pflanze, nicht nur von leicht reizbaren Staubfäden verschiedener Kompositen und Blättern der sensitiven Pflanzen, sondern auch von gewöhnlichen Blättern. Die Fäden, aus denen die Korona oder der "Strahlenkranz" der Passionsblume besteht, ergaben eine Erregungskontraktion von besonderer Stärke bis zu zwanzig Prozent ihrer Länge. Das ist aber ein extremer Fall: Stempel und Staubfäden der Blume ziehen sich zusammen. Die Erscheinung ändert sich natürlich mit der Art des Gewebes, da die dünnen Zellulosewände junger Zellen sich mit der Zeit verdicken und verhärten und oft sehr kräftig und widerstandsfähig werden. Auch das Schwellen ist ein bedeutsamer und erstaunlich veränderlicher innerer Faktor, und auch mit Alter, Jahreszeit, Luftwärme und ändern Einflüssen muß man rechnen.

Dann werden umfangreiche Versuche angestellt, wie sich die Antwort gewisser Pflanzen und ihrer Organe unter verschiedenen Umständen ändert. Die Antwort der Pflanzen ist nie gleichförmig. Man kann stufenweise Steigerung feststellen, die "Treppenwirkung" des Tiermuskels. Auch ist Ermüdung durchaus nicht nur eine Muskelerscheinung, sondern auch an den an Pflanzen gewonnenen Registrierungen kann man sie häufig feststellen, denn Pflanzen sind schneller "erschöpft", wenn sie vorher lange Zeit gereizt worden sind. Die beiden Abbildungen sind mit Selbstzeichnern aufgenommen. Man sieht darauf die hintereinander erfolgenden Antworten unter verschiedenen Versuchsverhältnissen und die "Treppensteigerung" oder die "Ermüdungsdepression". In der Tat findet man auch bei der Pflanze - nicht nur bei der sensitiven Mimose, sondern auch beim Rettich - durchaus entsprechende Beispiele von ziemlich verwickelten Er müdungserscheinungen, wie sie heute unter dem Gesichtspunkte der Erziehung, des Sports, der Industriearbeit so eifrig erforscht werden.
Fig. 8. Stufenweise Steigerung der Reaktion einer Pflanze.
Fig. 8. Stufenweise Steigerung der Reaktion einer Pflanze.

Die Erörterung der verschiedenen Reaktionskurven müssen wir dem Berufsphysiologen überlassen. Hier genügt es, den dem Ganzen zugrunde liegenden Gedanken zu betonen, der immer klarer hervortritt. Die mechanische Antwort auf Reize äußert sich nicht nur in sichtbaren Bewegungen (z. B. dem Herabsinken des Mimosenblattes), sondern auch in der mechanischen Antwort von Organen jeder beliebigen Pflanze, wenn ihre Erregung vergrößert aufgezeichnet wird, wie der optische Hebel es tut. Solche Erregungsreaktionen auf äußere Reize bekunden sich nicht nur in mechanischen Bewegungen, sondern auch durch Erzeugung elektrischen Stromes und Veränderung der elektrischen Leitungsfähigkeit, wie zweifellos auch noch auf andere physikalische und chemische Weise. Wie der Durchgang eines und desselben elektrischen Stroms sich nicht nur durch den Ausschlag der Galvanometernadel, sondern auch in chemischen Veränderungen kundgibt, oder als Licht oder Wärme oder Schall (so, wenn eine elektrische Glocke zum Tönen gebracht wird), je nach der Art des Apparats, der den Stromkreislauf anzeigt, - so ist es im wesentlichen auch bei den Organismen, bei denen man eine Fülle der verschiedensten Antworten auf denselben Reiz wahrnimmtje nach der Verschiedenheit ihrer von Funktion und Bau abhängigen Ausdrucksweisen. Seine mechanische Antwort, seine elektrischen Antwortströme, seine Veränderung des Leitungswiderstandes, - das alles sind nur verschiedene Aeußerungsformen einer und derselben Reaktion, die jeder Erregung zugrunde liegt.
Fig. 9. Depression der Reaktion einer Pflanze infolge Ermüdung.
Fig. 9. Depression der Reaktion einer Pflanze infolge Ermüdung.

Die Anschauung, diese verschiedenen Aeußerungsmöglichkeiten bestünden gleichzeitig nebeneinander, führt in Verbindung mit der weiteren Untersuchung ihres Optimums sowie ihres Maximums und Minimums - vor allem des Temperaturminimums, das Untätigkeit, ja Tod herbeiführt - zu der unerwarteten Entdeckung eines "Todeskrampfes" bei allen Pflanzen. Ueberdies ergab eine experimentelle Untersuchung des Todeskrampfes und die Aufzeichnung mit jeder der drei voneinander unabhängigen Methoden - der mechanischen, der elektromotorischen und der Methode der Veränderung der Leitungsfähigkeit - völlige Gleichzeitigkeit aller dieser drei sich einstellenden Veränderungen.

Zur Bestimmung der kritischen Temperatur, bei der der Todeskrampf eintritt, wurde ein vervollkommneter Apparat ersonnen, ein "Todmelder". Der Todespunkt erwies sich - zum mindesten bei allen beobachteten Dikotyledonen und ihren verschiedenen Organen - als fast so feststehend wie eine physikalische Konstante. Auch bei den verschiedensten Arten und Methoden ist die kritische Temperatur immer genau oder annähernd 60 C^ Die Zusammenziehung der Pflanze im Sterben gleicht in jeder Hinsicht derselben Erscheinung beim Tier und ist ein einwandfreier Fall von Erregungswirkung. Indes zeigen verschiedene Pflanzen ihre charakteristischen Todeskurven und bei ein und derselben Art gibt es je nach den Altersverhältnissen und der durchlaufenen Entwicklung Variationen. Wenn man z.B. die Widerstandskraft der Pflanze durch Gift oder Ermüdung künstlich vermindert, setzt der Todeskrampf oft schon bei 23 C. ein. Diese Beobachtung zeigt natürlich auch, daß es sich im Todeskrampf durchaus nicht um eine reine Gerinnungserscheinung handelt, denn eine solche kann wohl bei oder um 60 eintreten, nicht aber bei 37 C.

Wie schon gesagt, entspricht dem mechanischen Todeskrampf auch ein elektrischer. Die beim Eintreten der Todestemperatur entstehende elektromotorische Kraft ist zuweilen beträchtlich, - wie Bose nachweist, kann sie z. B. in jeder Hälfte einer grünen Erbse bis zu einem halben Volt betragen. Würde man 500 Erbsen entsprechend in Reihen ordnen, so gäbe es 500 Volt Spannung, womit man ein argloses Opfer schon kräftig elektrisieren kann. Bose macht hierzu die trockene Bemerkung, es sei ganz gut, daß die Köchin die Gefahr des Erbsenkochens nicht kenne, und sie könne von Glück sagen, daß die Erbsen nicht in Reihen geordnet seien!

All diese verwickelten Untersuchungen waren notwendigerweise von drei verschiedenen Systemen von Vorrichtungen zur Aufzeichnung verschiedener Reaktionsweisen - mechanischer und elektrischer - abhängig; Apparate, die erst ersonnen und konstruiert werden mußten. Obwohl die verwendeten Instrumente so sehr verschieden waren, ergab sich doch, daß die erhaltenen Antworten in jeder wichtigen Einzelheit übereinstimmten.

In den genannten Werken und auch in den letzten Jahren untersuchte Bose eingehend Wesen und Ursachen der "automatischen" Bewegungen, deren auffälligstes Beispiel in der Pflanzenwelt die Telegraphenpflanze (Desmodium) bietet. Kurz gesagt erweist sich, daß der Automatismus nur scheinbar ist, denn es ergibt sich, daß solche Bewegungen von vorher aufgenommenen äußeren Reizen abhängen. Das Mittelglied zwischen dieser "automatischen" Tätigkeit und der einfachen Reaktion eines Mimosenblattes wurde in Biophytum entdeckt, einem in Bengalen häufigen, mit Oxalis verwandtem Unkraut, und in der etwas verwandten Averrhoa Carambola, einem herbe Früchte tragenden indischen Baum. Denn während bei ihnen ein einzelner, gemäßigter Reiz eine einzelne Reaktion hervorruft, wie bei Mimosa, erzeugt ein starker Reiz eine ganze Reihe von Antworten, die an den Automatismus von Desmodium erinnern. Diese Wahrnehmung legt die Vermutung nahe, bei Desmodium könne der Automatismus herabgemindert oder gar auf die einmalige Reaktion reduziert werden. Dieser Zustand wurde im Experiment denn auch in der Tat herbeigeführt; die Blättchen hörten auf zu pulsieren und kamen zum Stillstand. Warum sollte nun nicht auch umgekehrt die einmalige Reaktion der Mimose zu einer vielfachen Reaktion veranlaßt werden, die den Uebergangszustand auf dem Wege zum Automatismus darstellt? Man konnte das freilich zunächst nicht äußerlich beobachten, aber doch mittels elektrischer Registrierung beweisen. Heute kann es mit den inzwischen erfundenen, noch feiner empfindlichen Reaktionsapparaten bei Mimosen festgestellt werden. Das heißt, die von Natur nur einmalige Reaktion wird zu einem langsamen Pulsieren zahlreicher Reaktionen entwickelt, was nichts anderes ist als der bei Biophytum ausgelöste Automatismus. Die Stufenfolge der ganzen Reihe empfindlicher Pflanzen von den gewöhnlichen, aber, wie wir jetzt wissen, nur scheinbar unempfindlichen zu den einfach reagierenden (z. B. Mimosa) und dann durch Uebergangsformen wie Biophytum zu dem von Natur ständig selbsttätigen Desmodium wurde auf diese Weise anschaulich nachgewiesen, - gewiß kein kleiner Gewinn für unser Verständnis des Entwicklungsvorganges.

Bose zieht hier noch einen ändern beachtenswerten Vergleich: zwischen dem automatischen Pulsieren der Telegraphenpflanze und dem des tierischen Herzmuskels. Der Vergleich wird bis in Einzelheiten durchgeführt und das Ergebnis bestätigt die Ueber-einstimmung unter gewöhnlichen Verhältnissen sowohl wie unter verschiedenartigen Einflüssen: Temperatur, Chemikalien oder Giften. Die Uebereinstimmung geht so weit, daß ein Gift, das ein Herz bei der Kontraktion zum Stillstand bringt, auf die Pflanze ebenso wirkt. Vom Herzen weiß man längst, daß man ihm ein Gift als Gegengift gegen ein anderes verabfolgen kann. Bei der Vergiftung von Desmodium gilt das gleiche.

Aber es ergibt sich noch eine weitere bemerkenswerte Tatsache. Der sich in gleichmäßigem Rhythmus bewegende Herzmuskel ist gegen äußere Reize widerstandsfähiger als ein gewöhnlicher Muskel, so z. B. widersteht er der Lähmung durch äußere elektrische Schläge. Aehnlich verhält sich das aktive Desmodiumblättchen. Also hat das aktive Unterliegen des Organismus oder Organs äußeren Reizen gegenüber, wofür wir im vorhergehenden so viele Beispiele kennen lernten, hier eine Grenze. Und wir sehen, wie sich die innere Energie des Organismus Einflüssen der Außenwelt gegenüber behauptet. Wir können so immer noch von "automatischen Bewegungen" sprechen und dem Organismus eine gewisse Unabhängigkeit wie dem Organ Eigenart zugestehen.

Die allgemeine Behauptung, daß Pflanzen- und Tierphysiologie trotz aller Unterschiede des äußeren Bildes und der Lebensgewohnheiten und aller Einzelheiten des Organismus sich im Tiefsten entsprechen, ist erneut überzeugend bewiesen.

Gehen wir weiter zu den Erscheinungen des Wachstums. Wie noch im einzelnen nachgewiesen werden soll, hat Bose unser Wissen auch auf diesem Gebiete beträchtlich erweitert. Hier muß der Hinweis genügen, daß den Pflanzenphysiologen von all diesen neuen Anschauungen am meisten die neue Deutung des Wachstumsvorganges als einer Erscheinung des Automatismus fesselt, der des Pulsierens bei Desmodium vergleichbar. Denn hier wird die rhythmische Tätigkeit von inneren Reizen beherrscht, denen ein gewisses Maß von Eigengesetzlichkeit zukommt und deren Dauer doch auch wieder von Kräften abhängt, die sie ihrer Umgebung entnehmen, für deren Veränderungen sie sehr empfindlich sind. In beiden Fällen bringt Kraftminderung durch Isolierung die Tätigkeit zum Stillstand. Doch können neue Reize von außen Stillstand wieder in Wachstum verwandeln. Bose wies sogar nach, daß auch ein Organ, in dem das Wachstum zu seinem natürlichen Ende gekommen ist, durch elektrische und andere geeignete Reize wieder angeregt werden kann. So ist wenigstens hier der immer wiederkehrende Traum von einer Verjüngung zu einem Teile Wirklichkeit geworden. Und wenn es auch, wenigstens für die höheren Arten, nicht mehr wäre, als ein schöner Traum, so dürfen wir doch darauf hinweisen, daß eine Aussprache, vielleicht Zusammenarbeit, sagen wir einmal zwischen einem von Boses Mitarbeitern und einem der jungen Neurologen, die der Krieg vor so viele neue Rätsel in ihrem Arbeitsgebiete gestellt hat, in Zukunft wohl einmal fruchtbar werden könnte.

Viele Pflanzenorgane, zumal Laub- und Blütenblätter, nehmen am Abend eine andere Stellung ein als sie tagsüber innehatten. Blüten- und Perigonblätter z. B. krümmen sich bei Tage so, daß die Blüte "geöffnet" ist; am Abend kommt es durch eine entgegengesetzte Krümmung zum "Schließen" der Blüte...... Auch bei manchen Laubblättern kann man noch von einem Schließen und Oeffnen reden, z. B. wenn diese sich der Knospe anlegen und wieder abheben, oder wenn sie paarweise sich mit den Flächen aneinander legen und wieder auseinander weichen; in anderen Fällen aber wird man den allgemeineren Ausdruck "Nacht-Stellung" statt "Schließen" und "Tagstellung" statt "Oeffnen" benutzen... Einstweilen aber müssen wir eingestehen, daß die Mechanik der nyktinastischen Gelenkbewegungen noch nicht aufgeklärt ist...

X. DIE REIZBARKEIT DER PFLANZEN

Ebenso wie in der Welt des Stoffes gibt es auch in der Welt des Gedankens eine Trägheit, die Bewegung und Wechsel verlangsamt. Das gilt vor allem, wenn die Wissenschaft neue Forschungsmethoden übernehmen soll. Bose beschrieb in seinen Werken "Reaktion der Pflanzen" und "Vergleichende Elektro-Physiologie" (1906/7) genau seine Arbeitsweise, aber da sich keine Gelegenheit fand, seine Vorführungen selbst einmal mitanzusehen, fanden sie nicht in weiteren Kreisen Eingang. Trotz dieses Nachteils verfolgten mehrere Gelehrte in verschiedenen Weltteilen Boses Arbeiten sehr genau und wandten auch seine Arbeitsweise mit Erfolg an. Der optische Hebel wurde bei gewissen physiologischen Untersuchungen im Laboratorium zu Cambridge verwendet. Van der Wolk in Utrecht ging mit Erfolg Boses Forschungen nach. Seine elektro-physiologischen Untersuchungen wurden in den Arbeitsplan eines Fortbildungskurses der Columbia-Universität (New York) unter Professor Harper aufgenommen.

Einem immer wieder geäußerten Wunsche entgegenkommend, europäischen Gelehrten die Möglichkeit zu geben, unmittelbar von Bose die Anwendung seiner Arbeitsmethoden zu lernen, beurlaubte ihn 1907 die Regierung zu seiner dritten wissenschaftlichen Reise nach England und Amerika. Nach einem kurzen Aufenthalt in England besuchte er die Vereinigten Staaten, wo er in verschiedenen Universitäten vor begeisterten Zuhörern sprach.

Als Bose wieder in Indien anlangte, widmete er seine Aufmerksamkeit der Erfindung einer vollzähligen Reihe von Apparaten, durch die die Versuchspflanze in bestimmten Zwischenräumen durch eine Folge gleichförmiger Reize angeregt werden sollte. Als Antwort darauf sollte die Pflanze ihre Reaktion selbsttätig aufzeichnen. Dann sollte der ganze Kreislauf von vorn beginnen, ohne daß der Beobachter irgendwie eingriff. Nach mehrjährigen Versuchen und Arbeiten war endlich die Aufgabe bis in die letzte Einzelheit gelöst, so daß feinste Messung und stärkste Vergrößerung erzielt wurden. Seine nach ganz neuen Grundsätzen gebauten Instrumente werden zweifellos eine Verbesserung des verhältnismäßig groben Myographen der Physiologen zur Folge haben. Das bedeutendste in dieser langen Reihe von Instrumenten, der Resonanzrecorder, beruht auf dem Prinzip gleichsinniger Schwingung. Die Reibung bei der Aufzeichnung, die eine unmittelbare Niederschrift der schwachen Pflanzenbewegung bisher ausschloß, ist hier völlig ausgeschaltet. Die Empfindlichkeit des Apparates möge man aus der Tatsache ersehen, daß die selbsttätigen Aufzeichnungen Messungen von 1/1000 Sekunden ermöglichen. Die mit diesem Apparat erzielten Ergebnisse zeigen, daß die Empfindlichkeit der Pflanze nicht so gering und ihre Wahrnehmungsfähigkeit nicht so schwerfällig ist, wie man bisher annahm.
Fig. 10. Oberer Teil des Resonanzrecorders. Ein Faden läuft von einem, in der Abbildung nicht zu sehenden Uhrwerk über die Rolle (P), mittels dessen die berußte, die Aufzeichnung aufnehmende Glasplatte (G) nach Abwärts bewegt wird; durch das federnde Stäbchen (C) wird der Recorder (V) in eine gleichsinnige Vibration versetzt; die Achse des Recorders (V) ist in senkrechter Richtung in der Mitte des kreisförmigen Endes des Magneten befestigt; SS Einstellungsschrauben; M, Mikrometer.; T, Tangentialschraube.
Fig. 10. Oberer Teil des Resonanzrecorders. Ein Faden läuft von einem, in der Abbildung nicht zu sehenden Uhrwerk über die Rolle (P), mittels dessen die berußte, die Aufzeichnung aufnehmende Glasplatte (G) nach Abwärts bewegt wird; durch das federnde Stäbchen (C) wird der Recorder (V) in eine gleichsinnige Vibration versetzt; die Achse des Recorders (V) ist in senkrechter Richtung in der Mitte des kreisförmigen Endes des Magneten befestigt; SS Einstellungsschrauben; M, Mikrometer.; T, Tangentialschraube.

Es lohnt sich, hier der Frage noch weiter nachzugehen, wie man die Pflanze dazu bringt, ihre eigenen Bewegungen selbständig aufzuzeichnen, sowohl die natürlichen wie die durch veränderte Verhältnisse veranlaßten. Denn eines muß mit der ganzen Genauigkeit des Physikers festgestellt werden: wenn auch für unsere gewöhnlichen Verhältnisse der Sekundenzeiger unserer Taschenuhr ausreicht, müssen doch Start- und Zielrichter bei einem Rennen oder der den Puls fühlende Arzt auch Bruchteile einer Sekunde feststellen können. Dafür haben wir die Stoppuhr mit ihrer Unterteilung des Zifferblattes bis zu Zehntelsekunden. Für physikalische Messungen aber sind oft noch viel kleinere Bruchteile nötig, darum ist die Stimmgabel mit ihren vielen Hunderten von Schwingungen in der Sekunde so wichtig. Noch besser als die Stimmgabel ist das schwingende Stäbchen, dessen gewünschte Vibrationsgeschwindigkeit wir durch Veränderung der Länge einstellen können. Ihr Spielraum ist groß und reicht von etwa 10 bis zu 1000 Schwingungen in der Sekunde. Auch lassen sich seine Schwingungen auf einer Registrierfläche aufnehmen, am besten auf einer berußten Platte. Die Anfangskraft des schwingenden Stäbchens läßt bald nach, aber durch elektrische Einwirkung kann man Dauerschwingung erzeugen. Das auf die gewünschte Schwingungszahl eingestellte Stahlstäbchen wird mit dem abgebogenen Teil in ein kleines Schälchen mit Quecksilber getaucht, so daß der Kontakt einen Strom auslöst, der durch eine kleine, oberhalb des Stäbchens befestigte Drahtspule läuft. Der in dieser enthaltene weiche Eisenkern wird vom Strom vorübergehend magnetisiert.

Die Anziehung des Magneten hebt das Stahlstabchen aus dem Quecksilberschälchen hoch. Dadurch wird der elektrische Strom unterbrochen und der Magnet ausgeschaltet. Das Stäbchen kann wieder frei schwingen und von neuem in das Quecksilber eintauchen, der Strom wird wieder geschlossen und der Magnet tritt wieder in Tätigkeit. Auf diese Weise schwingt das Stäbchen andauernd hin und her. Man kann also die gewünschte Schwingungszahl je nach der Länge des Stäbchens einstellen und gleichmäßig erzeugen, solange man will. Soviel über den Schwingungserzeuger in Boses Apparat, der den Resonanzschreiber in gleichsinnige Schwingungen versetzen soll.

Dieser (Resonanzschreiber), ein dünner Stahldraht, dessen Spitze umgebogen ist und dessen Länge die gewünschte Schwingungszahl ermöglicht, ist senkrecht in Lagern aus harten Edelsteinen aufgehängt, wovon einer in der Mitte eines weichen Eisenkerns befestigt ist, der andere auf einer flachen Metallplatte ruht. Der weiche Eisenkern ist spiralförmig mit Draht umwickelt, durch den derselbe Strom fließt, der das Stäbchen antreibt. So wird auch dieser zweite Eisenkern in genau denselben Zeitabständen magnetisch. Das Stäbchen und der Resonanzschreiber sind also vollkommen in Einklang miteinander. Die umgebogene Spitze des Schreibers tippt regelmäßig auf eine berußte Platte, die ihr rechtwinklig gegenübersteht. Solange die Platte ruhig in derselben Lage bleibt, müssen diese Berührungen immer dieselbe Stelle treffen, wird sie aber langsam verschoben, so bekommen wir eine Reihe von Punkten in dem vorher bestimmten Zeitmaße. Man fand, daß besonders gute Aufzeichnungen zustande kommen, wenn man die Platte durch ihr eigenes Gewicht nach unten sinken läßt, so daß man eine senkrechte Punktreihe erhält. Wenn sich auch die Abstände zwischen den einzelnen Punkten etwas vergrößern, weil die Fallgeschwindigkeit der Platte ein wenig zunimmt, so stört das die Zeitmessung nicht sehr, weil ja die Punktzahl in der Sekunde die gleiche ist. Ueberdies ist eine Ausgleichsvorrichtung erdacht worden, falls man sie brauchen sollte.

Die Verwendung der Punkte hat einen doppelten Vorteil: 1. genau vergleichbare Zeitaufzeichnungen und 2. völlige Ausschaltung der Reibung, da ja die umgebogene Spitze des Sehrei-bers eine Reihe von Punkten macht, also nicht dauernd mit der Registrierfläche in Berührung ist. Ein feiner Seidenfaden wird gut an dem zu beobachtenden Blatt befestigt, das andere Ende an dem kurzen Arm eines sehr leichten Drahthebels, der bereits mit dem Schreiber verbunden ist. Die Bewegung des Blattes schiebt den Schreiber nach der einen oder anderen Seite, so daß die Punkte nicht mehr nur in einer senkrechten Reihe erscheinen, sondern auch jede Seitenbewegung des Blattes vermerken. Nun wird der sichtbare Fall des Mimosenblattes oder das geringste Beben eines pulsierenden Blättchens oder jede Zusammenziehung infolge eines Reizes einen Ausschlag des damit verbundenen Drahtes verursachen, der wieder durch den Schreiberhebel übertragen und vergrößert wird. Wie man sieht, liegen die Punkte in bestimmter und auffälliger Reihenfolge. Und die punktierte Kurve erzählt uns die ganze Geschichte der Pflanzenbewegung von Anfang bis zu Ende.

Das beigegebene Bild stellt den Resonanz-Recorder vollständig und im Betrieb dar. Die nächste Abbildung gibt eine damit gemachte Aufzeichnung und zeigt, wie lange die Pflanze braucht, bis sie den im Bild durch die vertikale Linie dargestellten Reiz wahrnimmt und beantwortet. Zwischen den einzelnen Punkten liegt ein Zeitraum von 1/200 Sekunde. Die Bewegung des Blattes infolge des Reizes setzt beim 15. Punkt ein. Wenn die Pflanze ermüdet ist, wird die Spanne bis zur Wahr-. nehmung sehr groß. Ist die Pflanze außergewöhnlich ermüdet, so setzt die Wahrnehmungsfähigkeit zeitweise ganz aus. Dann braucht die Pflanze mindestens eine halbe Stunde völlige Ruhe, um ihren Gleichgewichtszustand wiederzufinden.
Fig. 11. Gesamtansicht des Resonanzrecorders und der elektrischen Verbindung, mittels welcher ein Shock von ganz bestimmter Dauer auf die Pflanze wirken lassen wird. Die Dauer des Shocks wird durch ein Metronom bestimmt, welches den elektrischen Stromkreis schließt.
Fig. 11. Gesamtansicht des Resonanzrecorders und der elektrischen Verbindung, mittels welcher ein Shock von ganz bestimmter Dauer auf die Pflanze wirken lassen wird. Die Dauer des Shocks wird durch ein Metronom bestimmt, welches den elektrischen Stromkreis schließt.

Für gewisse Zwecke allerdings sind die Möglichkeiten des Resonanzrecorders begrenzt. Er mißt wohl außerordentlich schnelle Bewegungen, doch gibt es ja auch verhältnismäßig langsame. Bose benötigte also einen Apparat zur Aufzeichnung langsamer Bewegungen, die Stunden und Tage dauern können. Außerdem sind manche Bewegungen so geringfügig und schwach, daß auch der eben beschriebene Registrierapparat, der, sei er im übrigen noch so fein konstruiert, doch notgedrungen aus magnetisierbarem Metall bestehen muß, zu schwer ist, als daß er die außerordentlich geringe mechanische Kraft gewisser Pflanzenbewegungen übertragen könnte.
Fig. 12. Aufzeichnung für die Bestimmung der Latenzperiode eines Mimosa-Blattes. Die vertikale Linie zeigt den Moment an, wo das Blatt gereizt wurde; die einzelnen Punkte folgen in Abständen von 1/200 Sekunde.
Fig. 12. Aufzeichnung für die Bestimmung der Latenzperiode eines Mimosa-Blattes. Die vertikale Linie zeigt den Moment an, wo das Blatt gereizt wurde; die einzelnen Punkte folgen in Abständen von 1/200 Sekunde.

Anstatt also den Schreibstift so und" so oft in der Sekunde hin- und herschwingen zu lassen, versetzte Bose die berußte Platte in Schwingung, so daß sie regelmäßig an der Spitze des Schreibers anstieß. Man kann auf diese Art die Schwingung be-liebig verlangsamen, von einer Schwingung in der Sekunde bis zu einer in der Viertelstunde, und zwar solange der Versuch es erfordert, da das Uhrwerk immer wieder aufgezogen werden kann. Weiter macht diese mechanische Schwingungserzeugung den Stahlschreibstift entbehrlich und eine feine Granne oder ein haardünnes Glasfädchen tritt an seine Stelle. Beim Resonanzrecorder ist die Vergrößerungsmöglichkeit durch die Ausmaße des Schreibhebels gewöhnlich auf das ungefähr Fünfundzwanzigfache begrenzt. Beim Schwingungs-Registrierapparat hingegen kann man mit einem einzigen Hebel leicht bis auf das Hundertfache vergrößern und mit einem zusammengesetzten Hebel bis auf das Zehntausendfache. Da der Schwingungs-Registrierapparat seitliche Verbreiterung zuläßt, können bis zu vier Platten verbunden und ebensoviele Pflanzen zu gleicher Zeit unter gleichen Bedingungen zum Aufzeichnen gebracht werden. Es ist nun an der Zeit, nach den erzielten Ergebnissen zu fragen. Zunächst ergab sich eine umfassende Bestätigung, daß die Kurven von Pflanzenbewegungen, welche in "PlantResponse" auf Grund der viel einfacheren Methode des optischen Hebels wiedergegeben wurden, im wesentlichen genau sind. Die Erscheinung von nervöser Erregbarkeit wurde mit dem Resonanzrecorder nachgewiesen, entgegen der allgemeingültigen Anschauung, in der Pflanze gebe es nichts dem Nervensystem des Tieres Entsprechendes. Boses Ergebnisse waren so überzeugend, daß die Royal Society sie zur Veröffentlichung in ihren "Philosophischen Abhandlungen" (1913) annahm. Infolgedessen wurde Bose nach der Veröffentlichung seiner "Forschungen über die Reizbarkeit der Pflanze" des öfteren eingeladen, an verschiedenen Universitäten und wissenschaftlichen Gesellschaften Europas und Amerikas Vorträge zu halten. Die Regierung ent-sandtexihn daraufhin 1914 auf seine vierte wissenschaftliche Reise.
Fig. 13. Die zwei Pflanzen, Mimosa pudica und Desmodium gyrans, die Professor Bose rund um die Erde begleiteten. Die schmalen Blättchen von Desmodium (rechtes Bild) bewegen sich auf und nieder.
Fig. 13. Die zwei Pflanzen, Mimosa pudica und Desmodium gyrans, die Professor Bose rund um die Erde begleiteten. Die schmalen Blättchen von Desmodium (rechtes Bild) bewegen sich auf und nieder.

Bose beschloß, nicht nur seine empfindlichen Apparate, sondern auch die Versuchspflanzen, Mimosa pudica und die Telegraphenpflanze (Desmodium gyrans) aus Indien mitzunehmen, damit sie selbst den Zuhörern ihre Aufzeichnungen vorführten. Denn wenn in Europa die wissenschaftlichen Gesellschaften ihre Sitzungen abhalten, sind die meisten Pflanzen eingewintert. Es war schon schwierig genug, die empfindlichen Apparate auf eine Weltreise mitzunehmen, aber gar Tropenpflanzen mit zuführen, in der Hoffnung, sie in dem Frostklima Europas und vor allem Amerikas kräftig und empfindlich zu erhalten, erschien doch vielen ein unmögliches Abenteuer. Aber Bose überwand mit der ihm eigenen Entschlossenheit und Erfindungsgabe auch diese Schwierigkeiten. Für die Reise wurde ein besonderer Glaskasten gebaut, und Boses bewundernswert hingebender und geschickter Helfer bei den Versuchen sorgte auf jede nur denkbare Weise für die Pflanzen. Nur die Hälfte überlebte die Reise, aber nachdem sie erst einmal in London waren, konnte man den Rest im Warmhaus für Tropenpflanzen im Regent's Park sicher unterbringen. Dann richtete Bose in Maida Vale sein vorläufiges Laboratorium ein, das die Schwierigkeiten, die den Versuchen mit Tropenpflanzen in kaltem Klima entgegenstehen, beobachten und Mittel ausfindig machen sollte, sie zu beheben.

Nun wurde Bose gebeten, den verschiedenen Universitäten Vorträge zu halten. Zuerst in Oxford, wo seine Vorführungen mit hoher Anerkennung aufgenommen wurden. Dann in Cambridge, wo Sir Francis Darwin den Vorsitz führte. Auch hier waren die Zuhörer sehr begeistert. In London sprach er im Royal College of Science. Sein Freitagabend-Vortrag in der Royal Institution fand im Mai 1914 statt und war ein großer Erfolg. Der Resonanzrecorder verzeichnete die Geschwindigkeit der Weiterleitung erregender Impulse. Der Schwingungs-Registrierapparat gestattete, das Pulsieren der Telegraphenpflanze zu verfolgen, und zeigte die auffallende Aehnlichkeit mit dem Pulsschlag eines Tierherzens. Endlich ließen die Aufzeichnungen des Todmelders den Todeskrampf der Pflanze beobachten.

Boses persönliches Laboratorium in Maida Vale wurde von zahlreichen Männern der Wissenschaft und der Feder besucht, darunter von Sir William Crookes, dem Vorsitzenden der Royal Society. Auf einen sehr bedeutenden Tierphysiologen machten die unmittelbaren Offenbarungen der Pflanzen so tiefen Eindruck, daß ihm die Worte entfuhren: "Wissen Sie eigentlich, wessen Stimme damals die Veröffentlichung Ihrer Abhandlung über die Antwort der Pflanzen durch die Royal Society verhinderte? Ich war es! Ich hielt dergleichen nicht für möglich und dachte, Ihre orientalische Phantasie habe Sie irregeführt. Heute muß ich unumwunden eingestehen, daß sie mit allem recht hatten."

Von Schriftstellern fand sich Balfour ein, der die psychologische Bedeutung der Entdeckungen sogleich erkannte. Bernard Shaw, der Vegetarier, war ganz unglücklich, als er sah, wie ein Stückchen Kohl in heftige Zuckungen geriet, als es zu Tode gebrüht wurde. Auch Schriftleiter führender Zeitschriften kamen. Daß "The Nation" von der sonst in ihren Spalten üblichen Gemessenheit abging, mag andeuten, welch nachhaltigen Eindruck die neuen Offenbarungen über das Leben der Pflanzen in breiten Kreisen machten:

"In einem Zimmer in der Nähe von Maida Vale ist eine unglückliche Karotte auf den Tisch eines Vivisektors gebunden. Drähte gehen durch zwei Glasröhrchen, die mit einer weißen Masse gefüllt sind. Sie gleichen zwei Beinen, deren Füße in das Fleisch der Karotte eintauchen. Wenn die Rübe mit ejner Zange gezwickt wird, krümmt sie sich. Sie ist so stark gefesselt, daß ihre qualvollen elektrischen Zuckungen den langen Arm eines sehr dünnen Hebels bewegen, der wieder einen winzigen Spiegel in Gang setzt. Der wirft einen Lichtstrahl auf eine Leinwand am ändern Ende des Zimmers und vergrößert das Beben der Karotte in ungeheurem Maßstabe. Ein Stoß in der Nähe der rechten Röhre schickt den Strahl sieben bis acht Fuß nach rechts, ein Klopfen in der Nähe der ändern ebensoweit nach links. Auf diese Weise vermag die Wissenschaft die Gefühle einer so stumpfen Pflanze wie der Karotte zu offenbaren."

Auch die Royal Society of Medicine zeigte die lebhafteste Teilnahme an Boses Arbeiten über die Wirkungen von Chemi-kalien auf pflanzliche Gewebe und bat ihn, darüber vor der Gesellschaft zu sprechen. Sir Lauder Brunton schrieb ihm:

"Schon seit ich im Jahre 1863 Botanik zu studieren begann und noch mehr, seit ich 1865 einige Versuche über die Wirkung von Gift auf Pflanzen machte, fesselten mich die Bewegungen der Pflanzen stark. Für Darwin machte ich 1875 einige Versuche über die Verdauung insektenfressender Pflanzen. Aber alles, was ich bisher an solchen Versuchen gesehen habe, ist Stümperarbeit im Vergleich zu Ihren Experimenten, durch die Sie beweisen, wie wundersam sich die Antworten der Pflanzen und Tiere gleichen."

Der Vortrag vor der Royal Society wurde von den führenden Persönlichkeiten des Fachs sehr anerkannt, und der Sekretär der Gesellschaft schrieb in deren Auftrag an die indische Regierung, wie hoch man Boses Arbeiten schätze, "die in der biologischen Wissenschaft so völlig neu seien".

Nun wurde Bose auch aufgefordert, an den ersten Universitäten des Festlandes zu sprechen. Zuerst besuchte er Wien. Unter den zahlreichen Zuhörern waren die führenden Physiologen Oesterreichs und Deutschlands, die mit ihrer Anerkennung nicht zurückhielten und sagten, "Kalkutta sei ihnen allen auf diesen neuen Forschungsgebieten weit voraus". Auch in Paris hatte Bose ähnlichen Erfolg. Verschiedene deutsche Universitäten luden ihn zu einer Reihe von Vorträgen ein. Er hätte am 3. August 1914 damit beginnen sollen und war schon nach Bonn unterwegs. Glücklicherweise konnte er noch umkehren und so der Internierung entgehen.

Er besuchte dann Amerika und sprach an einer Reihe der wichtigsten Universitäten. Auch in der American Association for the Advancement of Science in Philadelphia hielt er einen Vortrag und ebenso in den Akademien von New York und Washington. In Washington wurde er eingeladen, vor dem State Department und dem Bureau of Agriculture zu sprechen, wo man von der großen Bedeutung seiner Arbeiten für die praktische Landwirtschaft überzeugt war. In Harvard hielt er in der philosophischen und psychologischen Abteilung einen Vortrag, ebenso in der Universität Clark, deren bekannter Psychologe, Dr. Stanley Hall, von Boses ersten Veröffentlichungen an dessen Arbeiten mit großem Interesse verfolgt hatte. Ueberall wurden Bose und seine Vorträge mit großem Erfolg aufgenommen.

Wir können uns nun wieder dem Phänomen der Reizbarkeit zuwenden, obwohl es unmöglich ist, auf so knappem Räume alle die wichtigen Resultate zu schildern. Einige Auszüge aus Boses volkstümlichen Vorträgen mögen genügen. Einer der darin besprochenen Versuche erstreckte sich auf die physiologische Wirkung verschiedener Gase auf Pflanzen:

"Was für das Tier Tod bedeutet, stört nach der üblichen wissenschaftlichen Auffassung das pflanzliche Leben nicht. Gedeiht sie denn nicht auch in dem tödlichen Kohlensäuregas? Doch das ist nicht richtig. Sie gedeiht nicht darin. Die Pflanze erstickt genau so wie ein menschliches Wesen. Man vergleiche doch auf Abbildung 14, wie sie sich erholt, wenn wieder frische Luft zutritt. Nur durch Sonnenlicht läßt sich infolge von Photosynthese die Wirkung abschwächen. Ganz im Gegensatz zu Kohlensäure macht Ozon die Pflanze für Reize sehr empfänglich.
Fig. 14. Verminderung der Reizbarkeit unter der Einwirkung von Kohlendioxyd und Wiederbelebung durch neuerliche Darbietung von frischer Luft.
Fig. 14. Verminderung der Reizbarkeit unter der Einwirkung von Kohlendioxyd und Wiederbelebung durch neuerliche Darbietung von frischer Luft.

Gegen Unreinheit der Luft ist die Pflanze sehr empfindlich. Verdorbene Stadtluft wirkt äußerst niederdrückend auf sie. Schwefelwasserstoffist auch in geringen Mengen sehr schädlich für die Pflanze. Chloroform wirkt als starkes Narkotikum, so daß die Reizbarkeit schnell abnimmt. Der drollige, unstete Verlauf der Reaktion einer alkoholisierten Pflanze könnte für einen Enthaltsamkeitsvortrag wirksam ausgenützt werden. Doch gibt es auch einen Gegenhöhepunkt. Wenn die Pflanze reines Wasser trinkt, jedoch nicht mäßig, sondern übermäßig, ergibt sich das Umgekehrte: sie verliert, überfüllt, alle Bewegungsfähigkeit. Indem man ihr das Uebermaß an Flüssigkeit durch Anwendung von Glyzerin dann wieder entzieht, versetzt man sie in ihren normalen Zustand zurück."

"Ob die Pflanze die bedrückende Wirkung der Dunkelheit fühlt? Abbildung 15 vergegenwärtigt die Wirkung einer vorüberziehenden Wolke. Die Pflanze entdeckte die geringfügige Aenderung der Lichtstärke viel früher als der Beobachter. Es ist festgestellt, daß jede plötzliche Aenderung der Lichtstärke eine wahrnehmbare Depressionswirkung ausübt. Wenn die Pflanze sich an die Dunkelheit gewöhnt hat, gewinnt sie ihre Empfindlichkeit zum Teil wieder. Bringt man sie plötzlich aus der Dunkelheit an das Licht, so folgt der vorübergehenden Depression gesteigerte Reizbarkeit." Und weiter über die Wirkung von Verwundungen: "Ich stellte drei Untersuchungen an, wie Verwundungen auf Pflanzen wirken. Der erste Versuch sollte prüfen, wie eine Verletzung auf das Wachstum wirkt. Der zweite, wie weit sich der Pulsschlag der rhythmischen Gewebe in Pflanzen ändert. Die dritte Untersuchung sollte die lähmenden Wirkungen von Verwundungen feststellen.
Fig. 15. Depressionswirkung einer vorüberziehenden Wolke auf die Reaktion von Mimosa.
Fig. 15. Depressionswirkung einer vorüberziehenden Wolke auf die Reaktion von Mimosa.

Die unmittelbaren Aufzeichnungen des Wachstummessers (Crescograph) ergaben beim ersten Versuch die Geschwindigkeit für ein ungestörtes Wachstum und ihre Veränderung durch Verletzungen. Wenn man die pflanze mit einer Nadel stach, sank die Wachsturns-geschwindigkeit auf ein Viertel und die Pflanze brauchte etwa zwei Stunden, bis sie sich von der Wirkung des Nadelstiches wieder erholt hatte. Ein Schnitt mit dem Messer brachte das Wachstum ganz zum Stillstand, die Hemmung währte lange. Eine ernstliche Erschütterung durch Verwundung verlangsamt also das Wachstum gesunder Pflanzen.

Die Reaktionen in außergewöhnlichen Fällen, sind besonders bemerkenswert. Gewisse Pflanzen verkümmern aus noch unbekannten Gründen dauernd. Zweige und Blätter sehen krank aus. Abschneiden des verwundeten Gliedes ist auffälligerweise für die Pflanze heilsam. Die Reizwirkung dieses schweren Eingriffes löst das bisher gehemmte Wachstum neu aus.

Eine Reihe anderer Versuche wurde mit den Blättchen der Telegraphenpflanze durchgeführt, die gleich den Armen eines Semaphors auf- und abpulsieren. Wird das Blättchen von der Mutterpflanze abgeschnitten und in Wasser gestellt, so setzt das Pulsieren infolge der Erschütterung durch die Operation aus. Nach einer Weile be- ginnt der Puls wieder langsam zu schlagen, was noch nahezu vier-undzwanzig Stunden anhält. Aber der Tod findet eine unbewachte Stelle an der Wunde, und wenn er auch langsam eintritt, so ist er doch unvermeidlich. So erreicht die Veränderung des Todes auch das pulsierende Gewebe, das mit dem Aufhören des Lebens für immer still wird (Abb. 16).
Fig. 16. Allmähliches Aufhören der Pulsalionen beim Tode der Pflanze.
Fig. 16. Allmähliches Aufhören der Pulsalionen beim Tode der Pflanze.

Durch die Anwendung von Nährlösungen konnte der Eintritt des Todes indes wesentlich hinausgeschoben und das Pulsen des abgeschnittenen Blättchens von einem auf sieben Tage verlängert werden. Wenn man ein Blatt der Mimose abschneidet, wird die Empfindlichkeit der Pflanze für einige Stunden gelähmt. Die lähmende Wirkung der Verwundung wurde dadurch festgestellt, daß man die Pflanze reizte und ihre Antworten auf die Reizung mit dem selbsttätigen Aufzeichner registrierte. Die Mutterpflanze erholte sich allmählich wieder und verriet Anzeichen wiederkehrender Empfindlichkeit. Auch das abgeschnittene Blatt wurde nach einigen Stunden wieder empfindlich und antwortete wie gewöhnlich. Doch das währte nur einen Tag. Die Kraft der Antworten nahm schnell ab. Das noch aufrechtstehende Blatt neigte sich - der Tod war zuletzt doch darüber Herr geworden.

Ueber den Vergleich der Erscheinung der Reizbarkeit bei Pflanzen und Tieren im allgemeinen sagt Bose: "Wir können feststellen, daß die Pflanze nicht eine bloße wachsende Masse ist, sondern daß jede ihrer Fasern mit feinster Empfindlichkeit ausgerüstet ist. Wir sehen sie auf äußere Reize antworten, jede Reaktionsbewegung steigert sich im gleichen Maße wie der versetzte Stoß an Kraft zunimmt. Wir können die Pulsschläge dieses Lebens aufzeichnen und verfolgen, wie sie je nach den Lebensverhältnissen der Pflanze stärker oder schwächer werden und mit dem Tode des Organismus ganz aufhören. Wir erfahren, wie die verschiedenen Teile der Pflanze durch Leitungsdrähte miteinander verbunden sind, so daß das Erzittern unter einer Reizung, die auf eine bestimmte Stelle einwirkt, das Ganze erschüttert, wobei dieser Einfluß auf die Nerven ganz wie beim Menschen durch Drogen und Gifte beschleunigt oder gehemmt werden kann. In dieser Hinsicht wie auch sonst vielfach antwortet das Leben von Menschen und Pflanze in gleicher Weise. So kann man auf Grund der Erfahrungen mit Pflanzen wohl auch das Leiden der Menschheit erleichtern."

Seinen Vortrag vor der Royal Institution beschloß Bose mit folgenden Worten: "Diese stummen Gefährten unseres Lebens, die still vor unserm Hause wachsen, haben uns jetzt die Geschichte ihres Lebens und ihres Todeskampfes in Zeichen erzählt, die ebenso wortlos sind wie sie selbst. Darf man nicht sagen, ihre Geschichte sei von einem ganz eigenartigen Pathos erfüllt, wie wir es nicht ahnen konnten? Wird unser letzter Sinn für das Geheimnis geschärft oder abgestumpft, wenn wir uns diese Einheit des Lebens vergegenwärtigen? Wird unsere Fähigkeit zu staunen geringer, wenn wir die unendliche Ausdehnung des Lebens erkennen, das stumm und wortlos auf noch viel unfaßbarere Wunder hinweist? Weckt nicht die Wissenschaft in uns ein noch tieferes Gefühl der Anbetung? Bedeutet nicht jeder ihrer neuen Fortschritte für uns eine Stufe höher auf der felsigen Treppe, die jeder erklimmen muß, wenn er von den Bergesgipfeln des Geistes in das verheißene Land der Wahrheit schauen will?"

XI. AUTOMATISCHE WACHSTUMS AUFZEICHNUNGEN

Die Mimose bewegt ihre Blättchen sehr plötzlich und augenfällig, während ihre Bewegung durch Wachstum fast unmerklich ist. Aber die großen Bewegungen der Stengel, Blätter und Wurzeln unter dem Einfluß verschiedener Kräfte wie Licht, Wärme und Schwerkraft rühren im Letzten von unendlich kleinen Variationen der Wachstumsschnelligkeit her. Die Entdeckung der Bewegungsgesetze wachsender Organe hängt also davon ab, daß man das Durchschnittswachstum und seine Veränderungen genau mißt. Abgesehen von ihrer wissenschaftlichen Bedeutung ist die Frage auch für den Alltag außerordentlich wichtig, weil ja die Ernährung der Welt so entscheidend vom Wachstum der Pflanzen bedingt ist.

Die Untersuchungen sind freilich ungewöhnlich schwierig, weil alles Wachsen unendlich langsam vor sich geht. Das möge an folgenden Beispielen erläutert werden. Nehmen wir an, ein Baum wachse in einem Jahr fünf Fuß, was reichlich geschätzt ist, so brauchte er tausend Jahre, um eine Meile zu wachsen. Die Schnecke aber mit ihrer sprichwörtlichen Langsamkeit bewegt sich 2000mal schneller als das durchschnittliche Pflanzenwachstum. Ein anderer Fall: Mit einem Schritt legen wir in etwa einer halben Sekunde zwei Fuß zurück. Während dieser Zeit wächst eine Pflanze 1/100000 Zoll oder die halbe Länge einer Lichtwelle. Da ist es wohl klar, daß man sehr starke Vergrößerungsvorrichtungen schaffen muß, um das Wachstum und seine Veränderungen überhaupt beobachten zu können. Das bisher zu diesem Zweck im botanischen Laboratorium verwandte Instrument, das Auxanometer, vergrößert etwa zwanzigmal. Aber auch dann muß man noch einige Stunden warten, bis ein Wachstum wahrzunehmen ist. In dieser langen Frist müssen sich nun aber die Außenverhältnisse, wie Licht und Wärme ändern, so daß das Ergebnis unklar, wenn nicht überhaupt verfälscht wird.

Man kann die Außenverhältnisse nur für einige Minuten unverändert erhalten. Also muß man das Wachstum etwa auf das l000-fache vergrößern, will man es während dieser paar Minuten wahrnehmen. Die Schwierigkeiten, die einer solchen Leistung im Wege standen, waren so ungeheuer, daß Bose über acht Jahre brauchte, sie zu überwinden. Sein stark vergrößernder Wachstumsmesser (Crescograph, Abb. 17) darf als wahrer Triumph des erfinderischen Menschengeistes gelten. Der Apparat liefert nicht nur diese ungeheure Vergrößerung, sondern zeichnet auch selbsttätig das Maß des Wachstums und alle Veränderungen in knapp einer Minute auf.

Bose verwendet dazu eine Verbindung von zwei Hebeln, von denen der erste hundertmal vergrößert, der zweite die Ergebnisse des ersten um noch einmal das Hundertfache steigert, so daß die Gesamtvergrößerung das Zehntausendfache beträgt. Eine große Schwierigkeit bedeutete das Gewicht der beiden Hebel. Bose half sich darüber hinweg, indem er eine Aluminiumlegierung verwandte, die große Härte mit ungewöhnlicher Leichtigkeit verbindet. Neue Schwierigkeiten machte dann die Reibung in den Gelenken, die durch Einlagerung unsichtbarer Staubteilchen verstärkt wurde und für die auch Rubinlager keine Abhilfe brachten. Es gelang Bose schließlich, eine ganz neue Befestigungsart zu erfinden, die alle Schwierigkeiten restlos beseitigte.
Fig. 17. Der stark vergrößernde Crescograph. P, Pflanze; C, Uhrwerk, welches die berußte Glasplatte während der Aufzeichnung in periodische Schwingungen versetzt; SS, Mikrometer-Schrauben K, Kurbel; R, Exzentrik; W, rotierende Welle.
Fig. 17. Der stark vergrößernde Crescograph. P, Pflanze; C, Uhrwerk, welches die berußte Glasplatte während der Aufzeichnung in periodische Schwingungen versetzt; SS, Mikrometer-Schrauben K, Kurbel; R, Exzentrik; W, rotierende Welle.

Aus den so stark vergrößerten Aufzeichnungen geht hervor, daß eine Pflanze oft nicht gleichmäßig und stetig, sondern in rhythmischen Stößen wächst. Unter normalen Bedingungen sind es in Kalkutta etwa drei in der Minute. Jeder Stoß bedeutet ein schnelles Aufbauen und dann einen langsameren teilweisen Rückschlag, der bis zu einem Viertel des zustande gekommenen Wachstums beträgt. Auf der so erreichten Grundlage wird dann die nächste Schicht aufgebaut. Das Bild, das wir bisher vom Wachstumsvorgang hatten, wird durch diese Aufzeichnungen verändert. Nicht ein steter mechanischer Weiterbau ist es, sondern der Wellengang einer steigenden Flut. Man hat freilich auch Zeichnungen gewonnen, nach denen das Wachstum ziemlich gleichförmig erscheint. Das mag aber von der Resultante der Wachstumsstöße in den verschiedenen Schichten und Geweben herrühren. Ein anderer Beweis für die außerordentliche Empfindlichkeit ist die Tatsache, daß er auch die Verlangsamung des Wachsens bei sanfter Berührung aufdeckt und zeigt, daß ein heftiger Reiz das Wachstum überhaupt ausschaltet. Obwohl rauhe Behandlung einer kräftigen Pflanze schadet, fand Bose, daß sie für eine im Wachstum zurückgebliebene Pflanze im Gegenteil von Vorteil ist. Also hat körperliche Züchtigung doch Wert.

Besonders nahe liegt die Einwirkung jeder Temperaturänderung auf die Geschwindigkeit des Wachstums. Gießen mit gekühltem Wasser hemmt es natürlich, bis bei einem gewissen kritischen Minimum das Wachstum überhaupt aufhört. Umgekehrt kann erwärmtes Wasser das Wachstum erstaunlich beschleunigen, auch wenn es öfter bis zu einem gewissen Optimum der Temperatur zugegossen wird. Wird dieses Optimum dagegen überschritten, so verlangsamt sich das Wachstum ganz wesentlich, bis bei etwa 60° C der Todeskrampf eintritt.

Mittels einer noch größeren Verfeinerung der Experimental-methode werden auf automatische Weise Aufzeichnungen des Wachstums einer Pflanze während der allmählichen Temperatursteigerung vom Minimum zum Maximum erlangt. Von dieser "Wärmewachstumskurve" kann der Beobachter die Wachstumsgeschwindigkeit bei jeder Temperatur ablesen. Früher ließ man verschiedene Serien von Pflanzen einen Tag lang in verschiedenen Wärmegraden wachsen und berechnete die Durchschnittszahl für jede Serie. Das neue Verfahren ist wesentlich einfacher und zugleich schneller und viel genauer.

Aehnlich kann man jetzt die Wirkungen von Dünger und Chemikalien, Reizmitteln und Giften je in der Zeit von wenigen Minuten und mit bisher unerreichbarer Genauigkeit feststellen. Auch hier erkennen wir, wie im vorigen Fall den Wert des stark vergrößernden Apparates: nicht nur weil alle Erscheinungen viel deutlicher und übersichtlicher zu beobachten sind, sondern weil man auch die Folgen jeder geringsten Veränderung irgendeiner besonderen Bedingung, währenddem die übrigen Bedingungen des Versuchs unverändert bleiben oder künstlich so erhalten werden, in wenigen Minuten erkennen kann.

Es äst leicht einzusehen, daß Fortschritte in wissenschaftlich begründeter Landwirtschaft nur dank der Aufdeckung der Wachstumsgesetze möglich sind. Bislang haben wir nur einige wenige Mittel zur Steigerung des Ertrages in Anwendung gebracht, während es deren Tausende gibt, von deren Wirkung wir noch keine Ahnung haben. Die bisherigen gewaltsamen Methoden bei der Verwendung unserer paar künstlichen Düngemittel und der Elektrizität waren zudem nicht einmal überall erfolgreich. Die Gründe des häufigen Versagens wurden durch die Entdeckung einer wichtigen Tatsache bloßgelegt, der Tatsache nämlich, daß die Mengenfrage bisher nicht in Betracht gezogen worden war. Bose fand, daß eine gewisse Spannung des elektrischen Stromes zwar das Wachstum beschleunigt, daß es aber verlangsamt wird, wenn man den kritischen Punkt überschreitet. Gleiches stellte er auch bei künstlichen Düngemitteln fest. Mit gewissen Giften, die in normalen Mengen die Pflanze töten, erzielt man überraschende Erfolge: in hinreichend kleinen Mengen wirkten sie als ungewöhnlich starke Wachstumsförderung. Die damit behandelte Pflanze wuchs viel stärker und blühte viel früher. Auch widerstanden die so behandelten Pflanzen die Ungezieferplage ausgezeichnet. Solche Tatsachen zwingen zur Feststellung des kritischen Punktes, wo Hemmung in Reiz übergeht und umgekehrt. Hier wird wohl deutlich, wie sich für die Pharmakologie und Medizin eine ganz neue Arbeitsrichtung auftut. Auch kann man jetzt die Wirkung von Düngemitteln und anderen Mitteln zur Beschleunigung des Wachstums schnell feststellen. Die sofortige Prüfung dauert nur ein paar Minuten, anstatt eine ganze Wachstumsspanne, wobei überdies vermieden wird, daß sich die Bedingungen verändern.

Ueberraschend ist auch ein Vergleich einer und derselben Pflanze unter verschiedenen Bedingungen. Man teilte ein Bündel Sämlinge in drei Gruppen. Der einen wurden normale Bedingungen gewährt, die andere wurde durch ungünstige Wärmeverhältnisse geschwächt, der dritten das Maximum an günstigen Bedingungen zugestanden. Die kleine Giftmenge, die die normalen Pflanzen erst nach langem Kampf verarbeiten konnten, tötete die geschwächten sofort, reizte aber die kräftigen und steigerte ihr Wachstum. Auch hier liegen die Anregungen für die Medizin wie für die Landwirtschaft wieder auf der Hand.

Die rätselhaftesten Erscheinungen im Leben der Pflanzen sind die "tropistischen Bewegungen", die in einem späteren Abschnitt näher beschrieben werden sollen: Sie entstehen im allgemeinen durch Umgebungseinflüsse, die geringfügige Veränderungen in der Wachstumsgeschwindigkeit hervorrufen. Bisher konnte man diese Bewegungen nicht befriedigend erklären, weil die verwendeten Apparate zu grob waren, um die Aende-rung der Wachstumsgeschwindigkeit, die selbst unendlich klein ist, zu ermitteln. Aber mit dem stark vergrößernden Wachstumsmesser gelang es Bose, Diagramme zu bekommen, die die Wachstumsgeschwindigkeit bis zu 1/100000 Zoll in der Sekunde anzeigten. Er konnte so auch Wandlungen im normalen Wachstum feststellen, die von den verschiedensten Einflüssen herrühren : von der Berührung, von Wärmeveränderungen, von ausstrahlender Hitze oder Licht, von der Einwirkung der Schwerkraft, von elektrischen Strömen und den verschiedensten chemischen Mitteln. Wie wir später sehen werden, konnte er aus diesen grundlegenden Reaktionen die verschiedensten Bewegungen der Pflanzen lückenlos erklären.
Fig. 18. Der magnetische Crescograph, der das unmerkliche Wachstum der Pflanzen zehnmillionenfach vergrößert.
Fig. 18. Der magnetische Crescograph, der das unmerkliche Wachstum der Pflanzen zehnmillionenfach vergrößert.

Als der Verfasser dieses Buches im Laboratorium die außerordentliche Empfindlichkeit dieses Crescographen mit seiner 10000-fachen Vergrößerung beobachtete, äußerte er die Vermutung, nun sei wohl die äußerste Grenze der Vollkommenheit erreicht. Bose aber hatte darauf die ebenso naive wie tiefsinnige Antwort, daß der Mensch nie zufrieden sei. Bald darauf stellte er denn auch neue Versuche an, um noch stärkere Vergrößerungen zu erzielen. Zuerst versuchte er es mit einer Vermehrung der Hebel von zwei auf drei. Aber er fand bald, daß die Vergrößerungsmöglichkeit zwar theoretisch unendlich, durch das vermehrte Gewicht und die Reibung an der Berührungsstelle zweier Hebel aber begrenzt ist. Er dachte dann an einen Hebel ohne Gewicht und ohne körperliche Verbindung. Und das glückte ihm auch mit der Erfindung seines magnetischen Wachstumsmessers (Abb. 18). Hier löst der Hebel seines gewöhnlichen Crescographen ein äußerst fein ausbalanciertes magnetisches System aus. Als Zeiger dient ein durch einen Spiegel zurückgestrahlter Lichtpunkt, den der abgelenkte Magnet weiterrückt. So konnte Bose 1/100-millionenfache Vergrößerungen herstellen.

Wir können uns eine so ungeheure Vergrößerung gar nicht ausdenken, aber eine leise Ahnung davon können wir doch bekommen, wenn wir uns vorstellen, wie groß die Geschwindigkeit der sprichwörtlichen Schnecke wird, wenn man sie zehnmillionenmal durch den magnetischen Crescographen vergrößert. Zu dieser gesteigerten Geschwindigkeit gibt es auch bei der modernen Artillerie kein Gegenstück. Das Fünfzehnzollgeschütz der "Queen Elisabeth" schleudert eine Granate mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 2360 Fuß in der Sekunde oder etwa 8 Millionen Fuß in der Stunde. Die Schnecke unseres Crescographen aber würde sich mit einer Stundengeschwindigkeit von 200 Millionen Fuß fortbewegen, das heißt vierundzwanzigmal so schnell wie die Granate. Doch nehmen wir kosmische Geschwindigkeiten, die sich besser zum Vergleich eignen. Ein Punkt des Aequators rast in der Stunde 1037 Meilen im Kreise. Aber die Schnecke unseres Crescographen darf wohl verächtlich auf die träge Erde herabschauen, denn innerhalb derselben Zeit, in der die Erde eine Umdrehung macht, wäre die Schnecke nahezu vierzigmal um die Erde gelaufen!

Bose benutzte seinen magnetischen Wachstumsmesser zur Demonstration vor größerem Zuhörerkreise. Man kann sehen, wie der das vergrößerte Wachstum anzeigende Lichtpunkt über die Leinwand jagt. Nun läßt man aus einem Hahn kühles Wasser in ein Gefäß einströmen, in dem die Pflanze steht. Ein Thermometer gibt genau das Wärmeminimum an. Die Bewegung des Lichtpunkts wird langsamer und hört schließlich ganz auf. Die Wachstumskraft ist zurückgehalten. Nun wird das, Pflanzen-kämmerchen langsam wieder erwärmt, und von neuem setzt die Wachstumsbewegung mit zunehmender Geschwindigkeit ein. Durch Depressionsmittel wird das Wachstum gelähmt. Aber eine kleine Menge eines Reizmittels behebt die Depression sofort wieder. Das Leben der Pflanze wird dem Willen des Experimentators Untertan, der die Lebenstätigkeit steigern oder hemmen kann. Durch Anwendung von Gift kann er sie dem Erlöschen nahebringen und, während die Pflanze zwischen Leben und Tod schwebt, durch rechtzeitige Anwendung des Gegenmittels wieder beleben. Das alles sieht wie Zauberei aus. Aber sind nicht die Errungenschaften der Wissenschaft wunderbarer als jede Zauberei? "Dadurch, daß der Mensch seine Kräfte über die Grenzen der Fünfsinnewelt hinaus steigert, vermag er der Natur ihre tiefsten Geheimnisse abzulauschen."

Die Begeisterung, die Bose bei seinem Besuch in England im Jahre 1919/20 weckte, rührt nicht zuletzt von den außerordentlichen Fortschritten der Forschung her, die ihm der Crescograph ermöglichte. Gewiß kann man sich keine schwierigeren Bedingungen für eine Demonstration des Wachstums denken, als mitten im englischen Winter, in der Ruhezeit der Pflanzen. Trotzdem erreichte Bose, daß sie ihre Starrheit abschüttelten. Wie schnell sie wuchsen, zeigte der Lichtpunkt, der in etwa 12 Sekunden über einen Maßstab von 12 Fuß Länge huschte, wobei die wirkliche Wachstumsgeschwindigkeit weniger als 1/100000 Zoll in der Sekunde betrug.

Boses Vergrößerungsmöglichkeiten, die die Stärke des Ultramikroskops weit übertreffen, legen nun nahe, sie bei der Fortführung seiner physikalischen Forschungen anzuwenden, die er seit fast zwanzig Jahren hat liegen lassen. Er hält ein neues Mikro-Radiometer für möglich, desgleichen ein Galvanometer von sehr gesteigerter Empfindlichkeit und andere feinere Hilfsmittel zur Erforschung der Einwirkung von Kräften auf den anorganischen Stoff. Will er auch von Fachgrenzen zwischen den einzelnen Wissenszweigen nichts wissen, so bleibt er doch seiner alten Liebe treu. Er ist noch immer Physiker, ohne sich freilich darauf zu beschränken. Vielmehr sucht er das ganze Gebiet des Lebens in seinen Herrschaftsbereich einzubeziehen und die große Geschicklichkeit, die er sich bei seinen Forschungen aneignete, auszuwerten, um ein neues Lebensgeschehen zu enthüllen, das uns nur durch die scheinbare Trägheit des Stoffes verborgen zu sein scheint.

XII. VERSCHIEDENE PFLANZENBEWEGUNGEN

Der Verfasser, der fast vierzig Jahre lang Botanik gelehrt hat und sich von Anfang an für bestimmte Pflanzenbewegungen interessierte, weiß einigermaßen, wie verwickelt und unaufgeklärt dieses ganze Gebiet noch ist. Von Sachs, dem großen Meister der Pflanzenphysiologie unserer Jugend, hat er wertvolle Hinweise empfangen. Darwins "Pflanzenbewegungen" (1889) bedeuteten manche Hilfe und seine Entdeckung der "Zirkumnutation" war zwar sehr anregend, doch konnte sein Erklärungsversuch nicht voll überzeugen. Denn nachgewiesene Zirkumnutation konnte auch eine verwickelte Resultante von Reaktionen der Pflanzen auf viele wechselnde Umwelteinflüsse sein. Wie aber sollte man die analysieren? Der Versuche und Beobachtungen wurden natürlich immer mehr. Auch unternahm man es, sie zusammenzuordnen und zu deuten. In dieser Hinsicht nenne ich den stattlichen dritten Band von Pfeffers großartiger "Pflanzenphysiologie", der sich zwar sehr weitgehend damit beschäftigt, dennoch aber die notwendige Klärung und Verallgemeinerung dieser Frage nicht geben konnte. Wir erkennen jetzt zwei Gründe, warum die Pflanzenphysiologie damals nicht weiterkam. Erstens, weil den Pflanzenphysiologen trotz zahlreicher und rühmenswerter Versuche mit ihren unvollkommenen Instrumenten und dementsprechend nur schwachen und wenig vergrößerten Registrierungen die allernötigsten Erklärungen der Umwelteinflüsse und daraus entspringenden Reaktionen nicht in vollem Maße gelangen. Zweitens, weil man die organische Beherrschung in der Pflanze nicht ihrer Bedeutung entsprechend erkannte, die derselben Erscheinung im Tierreich durchaus gleichkommt, - der nämlich, die wir gewohnt sind beim Tier als wesentlich mit der Nerventätigkeit verbunden anzusehen.

Der Leser mag hier mit Recht fragen: Hat man denn jetzt dank dieser Verbesserungen wirklich eine klare Deutung der Pflanzenbewegungen gefunden - nicht nur des beweglichen Organs der Mimose und ähnlicher Gewächse, sondern auch der ändern Bewegungen, die mit dem Wachstum zusammenhängen? Eine durchaus befriedigende Antwort findet man in Boses neuesten Bänden "Lebensbewegungen bei Pflanzen" (Life Movements in Plants). Wir müssen versuchen, hier einen Ueberblick über die Hauptergebnisse zu bieten, wollen indes nicht die vorliegenden Abhandlungen der Reihe nach durchgehen, uns auch nicht an die zeitliche Folge von Boses Entdeckungen halten, die zum Teil durch äußere Umstände bestimmt wurden, sondern mit solchen Reaktionsbewegungen der Pflanzen beginnen, die am einfachsten und einheitlichsten erscheinen, und dann zu den verwickelteren und höheren übergehen.

Damit der Leser einen Begriff von den Aufgaben der Pflanzenphysiologie im allgemeinen und von dem Problem der Pflanzenbewegungen im besondern bekommt, möge er einmal annehmen, er begleite einen Botaniker auf seinem Rundgang mit seinen Studenten durch einen Garten, wobei den Zuhörern zahlreiche Pflanzenbewegungen gezeigt werden, mit denen sie sich erst in der Natur vertraut machen müssen, ehe sie zu Versuchen im Laboratorium übergehen.

Da sprießen also zahlreiche Keimlinge, kultivierte und wilde. Einzelne wachsen aufrecht in normalem Licht. Andere strecken aus schattigen Winkeln ihren Stengel dem Licht entgegen und bieten ihm so ihre Keimblätter und jungen Blätter dar. Das führt uns zu der Beobachtung, wie die Blätter zahlreicher Pflanzen ihre Oberfläche dem Licht so voll wie möglich aussetzen, meist, wie sich feststellen läßt, ihrer spiraligen Anordnung um den Stengel entsprechend, wenn auch in individueller und gruppenweiser Anpassung. So mag wohl eine Rosettenpflanze wie der Löwenzahn so gut wie alle Blätter am Boden ausbreiten. Wo sie aber einmal einen kleinen Stengel hat, setzen auch die unteren Blätter längere Stiele an, um nicht durch die höherstehenden beschattet zu werden. An den meisten Krautern und Stauden können wir oftmals, wenn wir ihr Laubwerk am Mittag beobachten, die schöne Zusammenordnung bewundern: wie sie es vermeiden, sich gegenseitig zu überschatten und sich zu einer Art Ornament gliedern, das häufig an Tapeten- oder Stoffmuster erinnert. Es muß dabei irgendeine Anpassung stattfinden, eine Bewegung ausgelöst werden, um dieses und jenes Blatt in eine bessere Stellung zum Licht zu bringen, als seine einfache, regelmäßige Entwicklung aus dem Stengel heraus ihm anweist. Durch den Wechsel von Wachstum und Bewegung wird es dann weiter angepaßt, indem nicht nur die Blattebene eingestellt, sondern das ganze Blatt unter Umständen gedreht wird. In vielen Fällen geschieht es durch die mehr oder weniger vergrößerte und geschwollen erscheinende Blattbasis, den Pulvinus (Blattpolster), der an vielen Pflanzen deutlich in die Augen fällt und bei der Mimose besonders empfindlich ist.

Es gibt noch viele andere Möglichkeiten zur Befriedigung dieses Verlangens nach dem Licht, von dem die ganze grüne Welt abhängt und das zu verwerten die wesentliche photosynthetische Tätigkeit des Blattes ist, von der ja alles tierische Leben mittelbar oder unmittelbar abhängt. Hierin liegt z. B. der große praktische Wert des Stammes oder Stengels und der zahlreichen Zweige hochwachsender Krauter und Sträucher, vor allem der Bäume. Denn mit deren Hilfe vergrößern sie mehr und mehr das Ausmaß ihrer Blattfläche, die sie dem Licht aussetzen können, so daß ein einzelner Baum von mäßiger Größe in der Lage ist, mit der großen Gesamtoberfläche seiner Blätter eine ganz beträchtliche Menge Licht aufzufangen.

Das Lichtverlangen der Pflanzenwelt äußert sich in noch auffälligerer Weise, so daß jedes Organ seinen Platz an der Sonne finden kann. Außerdem gibt es noch viele Mittel, den Stengel besonders zu kräftigen, damit er sich aufrechthalten kann. Schwache Stengel, wie an unteren Rosenzweigen oder bei hochwachsenden Kletterpflanzen, können emporklimmen, indem sie sich mit Dornen an die kräftigere Stammpflanze festhaken und sie als Stütze benutzen. Andere klettern etwas rücksichtsvoller, aber ebenso erfolgreich, so zahlreiche Rankengewächse, wie Wicken und Reben. Andere aber ringeln ihre dünnen Ranken und werden Schlinggewächse, wie Convolvulus (Winde), Hopfen und viele andere Krauter. Viele haben buschige, zähe, seilartige Stengel, so die Clematis (Waldrebe), andere wachsen hoch empor, wie die Lianen, die sich oft zu fast baumartigen Stämmen entwickeln und sich wie Schlangen um ihre Opfer ringeln. Andere wieder können an Felsen und Mauern hochklettern, wie der Efeu mit seinen Saugwurzeln am Stengel oder die Jungfernrebe (Ampelopsis), die die Spitzen ihrer Ranken fest mit der Unterlage verbindet.

Doch die Pflanzen können von dem ihnen unentbehrlichen Licht zuweilen auch mehr bekommen, als sie zu ertragen vermögen, besonders wenn ihr zweites notwendiges Lebenselement, das Wasser, knapp ist. Daher gibt es Pflanzen, die dem Lichte ihre Blattränder zukehren, wie viele Erbsen und in noch stärkerem Maße einige Eukalyptusarten. Noch auffallender zeigt sich das bei anderen, z. B. der berühmten Kompaßpflanze in Amerika. Und wenn Palmen und Bananen ihre Riesenblätter der Sonne auch voll aussetzen, sind doch auch sie nicht ohne gewisse Schutzeinrichtungen. Andere Pflanzen wieder haben die ursprüngliche Blattgröße ihrer Familie verringert, so daß oft nur noch ein Blattstiel oder Blattansatz übrig ist. Das kann jeder an der Basis des Rosenblattes beobachten. So verliert etwa die Akazie in Wüstengegenden, vor allem in den weiten Landstrichen Inneraustraliens, die wundervollen doppelt gefiederten Blätter, die so bezeichnend für ihre Art sind. Oftmals bringt der Sämling nur noch eines oder zwei hervor und später kommen nur noch Blattstiele, die plattgedrückt etwas blattähnlich aussehen, jetzt aber senkrecht anstatt wagrecht stehen, damit sie weniger Licht auffangen. Auch sind sie derb und lederig, so daß sie nicht viel Wasser verdunsten. In den Kakteen und Euphorbien haben wir die extremsten Beispiele, denn bei ihnen verschwinden die Blätter schon frühzeitig ganz oder es bleiben nur Dornen oder Haare übrig, die es dem verdickten Stamm, der jetzt grün bleibt, überlassen, ihre Funktionen so gut wie möglich auszuüben. Dabei wird er oft zu einem stachligen birnförmigen Gebilde reduziert oder er schrumpft zu noch unscheinbareren Formen zusammen. Auch in feuchteren Gebieten können wir eine Fülle von mehr und mehr empfindlichen Pflanzen finden, bis zur Mimose. Boses Forschungen waren ja doch nur Ausdruck und Steigerung des uralten Staunens, das sie immer wieder erweckte, seit der Mensch denken kann. Doch gibt es auch andere, deren Empfindlichkeit nicht so offen zutage tritt. Sie führen uns zurück zu den gewöhnlichen und passiven Formen, von denen Bose allerdings nachwies, daß sie nur passiv aussehen. Nach der anderen Seite stoßen wir wieder auf das Wunder der Telegraphen- pflanze .(Desmodium), von der die bengalischen Kinder glauben, sie bewege sich zum Klatschen ihrer Hände. Sie macht es in ihrer Weise wie ein Kind: ihre rastlosen signalartigen Blättchen heben und senken sich bei Tag und Nacht, das ganze Jahr über, solange die Pflanze gesund ist. Neben der größten scheinbaren Passivität finden wir also unermüdliche Bewegung, wie wir sie bei keinem Tier kennen, die aber in ebensolcher Weise von innen heraus bestimmt wird.

So könnten wir noch lange fortfahren, aber inzwischen sind unter den Studenten Fragen lebendig geworden. Der führende Botaniker wird bei jeder Wanderung gefragt: Wie ist dies? Und wie ist das ? Warum wächst der Sproß des jungen Pflänzchens in die Höhe und die Wurzel nach unten ? Und wie kommt es, daß diese verkehrt gesetzte Pflanze mit Erfolg sich müht, wieder nach oben zu wachsen ? Die buchgelehrte Antwort des Papageis erinnert allzu sehr an die Art, für welche Molieres köstliche Satire über Quacksalber- und wissenschaftliche Bildung vor zweieinhalbhundert Jahren immer noch der treffende Ausdruck ist: "Warum schläfert Opium ein?" - "Weil es einschläfernde Eigenschaften hat", erwidert der Kandidat und besteht daraufhin "ehrenvoll" die Prüfung. So hat die erdwärts gerichtete Wurzel "Geotropismus", eine erdwärts strebende Eigenschaft. Und warum strebt der Schößling in die entgegengesetzte Richtung ? Infolge seines "negativen Geotropismus", was doch gewiß der jämmerlichste Ausdruck der Wissenschaft für dieses luftigste Abenteuer des Lebens auf Erden ist. Und warum streckt sich der Zweig mit den Blättern nach der Seite aus? Infolge des "Diageotropismus"!

Weiter: Wieso kehren sich die Blätter zum Licht? Infolge ihres "Heliotropismus" oder "Phototropismus". Aber warum kehren sie sich oft auch vom Licht ab ? Infolge negativen "Photo-tropismus" usw. Diese oberflächliche Wortmacherei sagt "Hydro-trppismus" für das Wasserverlangen der Wurzel, "Rheotropis-mus" für die Beobachtung, daß sich Wurzeln im Wasser gegen den Strom biegen. "Chemotropismus" für die Ausnützung von Salzen usw. Die Anpassung der Ranke ist "Thigmotropismus", und solcher sonderbarer Namen gibt es noch mehr.

In der Erklärung der verschiedenen Bewegungen der Pflanzen herrscht große Verschiedenheit und daher die Notwendigkeit für Bose, die Phänomene noch einmal gründlich zu untersuchen, und zwar unter Berücksichtigung aller Arten von Reizen und der darauf erfolgten Antwort, die er im Wachstum und Leben der Pflanze im allgemeinen beobachtet hatte. Darum war auch eine vergleichende Untersuchung all dieser Pflanzenreaktionen nötig, nicht nur in Beziehung zu einander, sondern auch im Vergleich mit der Reaktion des anorganischen Stoffes auf der einen und der Tiermuskel und -nerven auf der ändern Seite. Solche Nebenerscheinungen bei höheren Tieren und beim Menschen wurden schon seit langem von Psychophysiologen oder Physiopsychologen untersucht. Und wenn nun ihr organisches Substrat sowie ihre physiologischen Vorgänge auch in der Pflanzenwelt nachgewiesen wurden, mußte doch wohl die Prüfung einiger einfachster psychologischer Vorgänge die stärksten Anregungen für vergleichende und entwickelungsgeschichtliche Untersuchungen geben. In dieser Richtung erweiterte Bose den Rahmen unserer Untersuchungen weit über das erste Blickfeld unserer Gärten.

Nach diesem Rundgang durch den Garten wollen wir uns von Bose einen Ueberblick über seine letzten Entdeckungen und Deutungsversuche geben lassen. Am besten beginnt er mit der von jeher von ihm bevorzugten Mimose, an der er uns zunächst Form und Bewegungen deutlich beobachten läßt. Wir sehen den langen Blattstiel aus der deutlich abgesetzten Blattbasis, dem Blattpolster oder Gelenk hervorwachsen und werden alsbald sehen, daß das Blattgelenk, besonders sein unterer Teil, das hauptsächliche Empfindungsorgan ist. Von ihm aus bewegt sich ja auch, wie wir wissen, das Blatt. Weiter beobachten wir am oberen Ende des Blattstiels die vier sekundären Stiele, die den zwei Dornpaaren an der Basis eines zusammengesetzten Akazienblattes entsprechen. Wie dieses haben sie beiderseits eine Reihe kleiner Blättchen, die alle an der Basis geschwollen sind, also etwas wie ein kleines Gelenk, aufzuweisen. Aber die Blättchen bewegen sich aufwärts, wenn sie unabhängig voneinander erregt werden oder wenn sich das Hauptblatt niederbiegt. Die kleinen Gelenke erweisen-sich im Gegensatz zu dem Hauptgelenk mehr an ihrer oberen Fläche empfindlich. Wieder anders als das große und die kleinen erwiesen sich die mittleren Gelenke an den vier Gabelungen der Hauptblätter. Denn wenngleich sie sich auch ein wenig senken, bringen ihre Hauptbewegungen alle vier aus ihrer normalerweise auseinanderstrebenden Stellung dicht zusammen. Also müssen sie jedenfalls an der Seite empfindlich sein, und zwar paarweise links und rechts - ein wunderbarer Blattmechanismus mit seinen dreidimensionalen Gegenstrebungen, die doch wieder auch mit unserm eigenen Körperbau übereinstimmen.

So veranschaulichen wir uns das Blatt und erproben seine Empfindlichkeit, bis wir auf verschiedene Weise nicht nur die Bewegung eines ganzen Blattes und schließlich aller übrigen herbeiführen können, sondern auch ein einzelnes Blättchen erschüttern und dadurch das ganze Blatt zu einer Bewegung zwingen können, und weiters auch noch andere Blätter durch die Fortleitung des Reizes in die Pflanze. So prüfen wir die Fähigkeit, Reize nach allen Richtungen weiterzuleiten. Wir sind nun für noch feinere Versuche, Beobachtungen und Deutungen vorbereitet. Zunächst die in den Lehrbüchern noch fortlebende ältere Erklärung. Pfeffer hatte eine hydromechanische Erklärung der Reizübermittlung versucht und Haberlandt, der Meister auf dem Gebiete der mikroskopischen Analyse der Pflanzengewebe, der mit großem Geschick seine Beobachtungen zur Erklärung von Zweck und Tätigkeit der Pflanzengewebe im einzelnen verwertete, hatte von der Bewegung des Mimosenblattes eine zu einfache Erklärung gegeben, die von den Physiologen aber ziemlich allgemein angenommen worden war. Er verglich das Gelenk mit einem Gummischlauch, der mit Wasser gefüllt und an beiden Enden zugebunden ist, so daß in ihm ein bestimmter hydrostatischer Druck herrscht, der sich natürlich steigert, wenn an einem Ende darauf gedrückt wird, wobei auch eine sich wellenförmig fortbewegende Strömung in dem Schlauch zustande kommt.

Es sei mit Nachdruck daraufhingewiesen, daß Bose in diesem Streit der Meinungen über die Reizfortpflanzung als wesentlich hydromechanischem (nach der bisherigen Ansicht der meisten Physiologen) oder (nach seiner eigenen Anschauung) als wesentlich exzitatorischem Vorgang den eigentlich physiologischen Standpunkt vertritt, von dem die Physiologen abgegangen waren, weil sie rein anatomisch dachten. Nachdem ihre mikroskopischen Präparate kein in die Augen springendes Nervengeflecht wie beim Tier ergaben, konnte für sie von einem Nerv keine Rede sein. Wenn sie hingegen bei ihrer eigenen grundlegenden Erfahrung und Auffassung von der Physiologie des lebenden Protoplasmas geblieben wären - von einer Atmung ohne Kiemen, einer Verdauung ohne Magen und einer Bewegung ohne Muskeln - dann hätten sie auch die Möglichkeit einer Weiterleitung von Erregungen ohne hochentwickeltes Nervensystem erkannt. Ueberdies war der intrazelluläre Zusammenhang der Pflanzenzellen den Mikroskopikern schon lange bekannt, und zwar nicht nur bei vielen Zellgeweben, sondern noch viel auffälliger bei gewissen Bestandteilen der Gefäßbündel, in denen mehr oder weniger ein protoplasmatischer Zusammenhang herrscht, die Voraussetzung für die Fortpflanzung von Reizen, weshalb es doch wohl nicht so ganz unsinnig war, dort Leitungsfähigkeit zu vermuten. Wie Lavoisier mit einem Blick die Allgemeinheit des Prinzips der Atmung bei lebenden Wesen erfaßte und sie so kühn mit dem Oxydaüonsvorgang im Bereich des Anorganischen in Beziehung brachte, so machte und bewies Bose einen Vergleich von derselben Bedeutung in bezug auf die Reizbarkeit der Pflanze und die Fortpflanzung der Erregung, womit er unsere Vorstellungen von dem hochentwickelten Muskel und Nerv des Tieres bis zu dem einfacheren, aber in durchaus entsprechender Weise sich zusammenziehenden pflanzlichen Zellen und leitenden Geweben erweiterte.

Boses Forschungen über die Weiterleitung von Erregungen bei Pflanzen sind heute allgemein anerkannt - und seine Forschungen in den "Philosophischen Abhandlungen" der Royal Society veröffentlicht.16 In dieser Abhandlung konnte Bose nachweisen, daß die Reize sich nicht hydromechanisch fortpflanzen, wie man bisher angenommen, denn es war unverkennbar, daß der Antrieb einsetzte, ohne daß irgendeine mechanische Störung aufgetreten war. Alle Begleiterscheinungen eines Nervenreizes beim Tier ließen sich auch bei dem entsprechenden Reiz der Pflanze nachweisen, z. B. steigerte Wärmezunahme die Geschwindigkeit bei beiden, Wärmerückgang verlangsamte oder beendete die Bewegung. Anästhetische Mittel und Gifte brachten den Anstoß gleichermaßen zum Stillstand. Die Feuerprobe einer neuen Theorie besteht darin, daß sie bisher unbekannte Phänomene vorherzusagen vermag. Und Boses Voraussage bestimmter unerwarteter Begleiterscheinungen bei Reizung des tierischen Nervs wurde später bestätigt. Er entdeckte die Doppelnatur des Nervenreizes bei Pflanzen, den dem positiven folgenden negativen. Der positive veranlaßt das bewegliche Blatt, sich auszudehnen und aufzurichten, der negative zwingt es, sich zusammenzuziehen und wiederzu senken. Gewisse Untersuchungen, die Bose gegenwärtig macht, scheinen darauf zu deuten, daß auch beim Tier der Nervenreiz diese Doppelartigkeit hat. Von noch größerer Bedeutung ist die Möglichkeit, den Nervenreiz zu kontrollieren, worauf Bose durch Untersuchungen von Pflanzen kam. So konnte er ganz nach Belieben dem Nerv zwei entgegengesetzte "Molekulardispositionen" aufzwingen. In dem einen Falle wurde der Nervenreiz auf seinem Durchgang sehr gesteigert, im ändern Falle abgebremst oder ganz zum Stillstand gebracht. Wir werden noch näher auf die Bedeutsamkeit dieser Ergebnisse eingehen.

XIII. DIE ANTWORT DER PFLANZEN AUF FUNKENTELEGRAPHISCHE REIZE

Die übliche Art der Unterscheidung von Pflanzen und Tieren durch den Hinweis, jene hätten kein reizleitendes Gewebe, das dem tierischen Nerv entspreche, hatte sich auf Grund von Boses Untersuchungen als unbegründet erwiesen. Trotzdem wurde auch weiterhin behauptet, die Reizempfindlichkeit der Pflanzen sei vergleichsweise viel geringer. Bose unternahm den Nachweis, daß das keineswegs zutrifft. Das empfindlichste Organ für die Wahrnehmung elektrischer Ströme ist die Spitze der menschlichen Zunge. Ein Europäer kann mit der Zungenspitze schon einen Strom von 6 Mikroampere wahrnehmen. (Ein Mikroampere ist der millionste Teil einer elektrischen Stromeinheit.) Boses Schüler aber waren noch feiner empfindlich, einige konnten sogar schon einen Strom von 4,5 Mikroampere spüren. Mit ihrer hochempfindlichen Zunge wurde nun die Reizempfindlichkeit eines Biophytumblättchens verglichen. Ein sehr schwacher Strom, den man allmählich steigern konnte, wurde durch die Zunge und durch das Blättchen geleitet. Als er bei 1,5 Mikroampere anlangte, bewegte sich das Blättchen, während die Zunge nicht merken ließ, daß sie von dem Strom etwas verspüre, ehe man ihn auf das Dreifache gesteigert hatte. Somit war bewiesen, daß diese Pflanze dreimal so reizempfindlich ist wie der Hindu und viermal so stark wie der Europäer.

Wir zeigten schon früher (Abb. 15), daß eine geringe Verminderung des Tageslichts, die der Mensch kaum wahrnimmt, eine Pflanze schon hemmt. Bose fand auch, daß das Wachstum der Pflanzen durch eine vom Menschen noch unbeachtet gelassene Veränderung der Umgebung beeinflußt wird. Um dieses neue Gebiet untersuchen zu können, mußte er erst einen Apparat bauen, der noch viel empfindlicher zu sein hatte als alle bisher erfundenen. Der stark vergrößernde und der magnetische Cres-cograph erlaubten ihm, auch den geringsten Wachstumsfortschritt zu messen. Um aber die Einwirkung äußerer Reize zu messen, mußte er erst die normale und dann die durch den Reiz veränderte Wachstumsgeschwindigkeitmessen. Aus der Berechnung der Unterschiede zwischen beiden konnte man feststellen, ob die Reize anregend oder hemmend gewirkt hatten. Bose wollte aber gern das Berechnen und den damit verbundenen Zeitverlust vermeiden. So kam er auf den Gedanken, einen neuen Apparat zu bauen, der sofort durch Zeigerausschlag nach oben oder unten angab, ob das Reizmittel beschleunigend oder verlangsamend auf das Wachstum wirke.

Es galt dabei einen Regulator zu finden zum Ausgleich der Aufwärtsbewegung des Wachstums, mit anderen Worten, die Pflanze selber mit genau der gleichen Geschwindigkeit zu senken, mit der ihre wachsende Spitze höherrückte, wie groß diese Geschwindigkeit auch sein mochte. Irgendein Regulator, wie er bei der Ausgleichsbewegung eines Fernrohres in der Astronomie üblich ist, durch den die Wirkung der in je vierundzwanzig Stunden vollendeten einmaligen Umdrehung der Erde aufgehoben wird, mußte also eingeschaltet werden. Aber die Aufgabe Boses war viel schwieriger, denn anstatt eine bestimmte, immer gleiche Geschwindigkeit auszugleichen, mußte er Möglichkeiten schaffen um den sehr voneinander abweichenden Wachstumsgeschwindigkeiten verschiedenster Pflanzen oder auch derselben Pflanze unter verschiedenen Bedingungen zu genügen.
Fig. 19. Der Gleichgewichts-Crescograph. Die Wachstumsbewegung wird durch eine gleich rasche Abwärtsbewegung des die Pflanze (P) tragenden Halters kompensiert. S, Schraube zur Einstellung der Reguliervorrichtung (G); W, Gewicht zum Antrieb des Uhrwerkes.
Fig. 19. Der Gleichgewichts-Crescograph. Die Wachstumsbewegung wird durch eine gleich rasche Abwärtsbewegung des die Pflanze (P) tragenden Halters kompensiert. S, Schraube zur Einstellung der Reguliervorrichtung (G); W, Gewicht zum Antrieb des Uhrwerkes.

Die schwierige Aufgabe fand ihre befriedigende Lösung in dem Ausgleichscrescographen (Balanced Crescograph, Abbildung 19). Ineinandergreifende Uhrräder werden durch den Zug eines Gewichts in Umdrehung versetzt und senken die Pflanze gerade so schnell wie sie wächst. Die genaue Anpassung wird durch Drehen einer Stellschraube nach rechts oder links erreicht, wodurch die ausgleichende Fallgeschwindigkeit verlangsamt oder beschleunigt wird. Auf diese Weise wird die Wachstumsgeschwindigkeit ausgeglichen und der Zeichenstift punktiert jetzt eine wagrechte Linie an Stelle der aufsteigenden Kurve. Jede Drehung der Stellschraube bewegt zugleich einen Zeiger vor einer kreisrunden Meßplatte (auf der Abbildung nicht sichtbar), die so eingeteilt ist, daß man von ihr unmittelbar die augenblickliche Wachstumsgeschwindigkeit ablesen kann. Ist der Ausgleich einmal hergestellt, so ist der Apparat außerordentlich fein empfindlich.

Jeder, auch der geringste Wechsel in der Umgebung, ist sofort an einer Störung des Gleichgewichts und folgenden Auf- oder Abstieg der Kurve festzustellen. Diese Messungsmethode ist so überaus fein, daß Bose Veränderungen der Wachstumsgeschwindigkeit bis zu 1/1500 millionstel Zoll in der Sekunde messen konnte. Als Beispiel für die genauen Aufzeichnungen dieses Apparates bilden wir eine Kurve ab, die die Wirkung von Kohlensäure auf das Wachstum zeigt. Ein Gefäß wird mit diesem Gase gefüllt und über die Pflanze ausgeleert. Das unsichtbare Gas stürzt, weil es schwerer ist als Luft, strömend herab und hüllt die Pflanze ein. Das Diagramm weist nach, daß infolgedessen das Wachstum unmittelbar beschleunigt wurde und zwar zweieinhalb Minuten lang. Dieser anfänglichen Beschleunigung folgte ein Nachlassen der Wachstumsgeschwindigkeit, wie die Kurve deutlich zeigt. Bei Anwendung verdünnter Kohlensäure hält die Beschleunigung eine Stunde oder länger an. So macht der Aus-gleichscrescograph nicht nur die wohltätige Wirkung eines Anregungsmittels sichtbar, sondern gibt auch die Dosis an, die die wohltätige Wirkung verlängert.
Fig. 20. Kurvenbild, die Wirkung des Kohlendioxyds auf das Wachstum zeigend. Die horizintale Linie am Anfang der Kurve zeigt ausgeglichenes Wachstum an. Die Einwirkung von Kohlendioxyd führt zu einer vorübergehenden Beschleunigung des Wachstums, wie der Anstieg der Kurve zeigt, auf die dann wieder eine Depression folgt, wie aus dem Abfall der Kurve ersichtlich. Der Abstand zweier Punkte entspricht einem Zeitintervall von 10 Sekunden.
Fig. 20. Kurvenbild, die Wirkung des Kohlendioxyds auf das Wachstum zeigend. Die horizintale Linie am Anfang der Kurve zeigt ausgeglichenes Wachstum an. Die Einwirkung von Kohlendioxyd führt zu einer vorübergehenden Beschleunigung des Wachstums, wie der Anstieg der Kurve zeigt, auf die dann wieder eine Depression folgt, wie aus dem Abfall der Kurve ersichtlich. Der Abstand zweier Punkte entspricht einem Zeitintervall von 10 Sekunden.

Pflanzen gelten im allgemeinen als außerordentlich träge, und man glaubt, daß sie aus diesem Grunde nur einen ziemlich lange einwirkenden Reiz wahrnehmen können. Man nimmt an, daß zur Wahrnehmung eines geotropischen Reizes "sogar äußerst schnell reagierende Organe immer eine bis anderthalb Stunden brauchen, bevor an den wagrecht angeordneten Organen eine leise Biegung merklich wird. In anderen Fällen kann diese Latenz sogar einige Stunden dauern" (Jost). Bose stellt fest, daß die Latenzdauer geotropischer Wahrnehmung oft nur eine Sekunde beträgt.

Man nahm bisher an, damit eine Pflanze Licht wahrnehme, müsse sie ihm mindestens sieben Minuten voll ausgesetzt sein. Bose untersuchte mit seinem außerordentlich empfindlichen Apparat die Frage, inwieweit Pflanzen einem äußerst kurz wirkenden Lichtreiz zu antworten vermögen. Wir können uns kaum etwas flüchtigeres vorstellen, als das Aufleuchten des Blitzes. Bose setzt nun eine im Crescographen ausbalancierte wachsende Pflanze einem künstlich erzeugten Blitz aus. d. h. dem Lichte, das ein einziger, zwischen zwei Metallkugeln aufleuchtender elektrischer Funke ausstrahlt. Die Pflanze nahm das Licht in einer unglaublich kurzen Spanne Zeit auf, wie an der Störung des Gleichgewichtes im Crescographen und der daraus folgenden selbsttätigen Aufzeichnung der Pflanze hervorging.

Soviel über die Fähigkeit der Pflanzen, auch Reize von kürzester Dauer wahrzunehmen. Boses erstaunliche Entdeckung, daß Pflanzen auf drahtlosen Anstoß antworten, hat in der wissenschaftlichen Welt geradezu Aufsehen erregt. Den Bericht über diese Entdeckung geben wir am besten mit Boses eigenen Worten. Erfindet sich im zweiten Band der Abhandlungen seines Institutes und in einem, in der Zeitschrift "Nature" veröffentlichten Briefe.

"Eine wachsende Pflanze reckt sich dem Licht entgegen. Das gilt nicht nur vom Stamm oder Stengel, sondern auch von den Zweigen, Blättern und Blättchen. Diese Reaktionsbewegung wird als tropische Wirkung des Lichtes bezeichnet. Das Wachstum selbst wird durch die Lichtwirkung beeinflußt. Wir können zwei verschiedene, von der Lichtstärke abhängige Wirkungen feststellen. Ein starker Lichtreiz verlangsamt die Wachstumsgeschwindigkeit, sehr schwacher Lichtreiz aber beschleunigt das Wachstum. Die tropische Wirkung ist im ultravioletten Gebiete des Spektrums mit seiner außerordentlich kurzen Wellenlänge des Lichtes sehr stark und läßt immer mehr nach, bis sie fast gleich null ist, je mehr wir uns den weniger brechbaren gelben und roten Strahlen mit ihrer vergleichsweise großen Wellenlänge nähern. Wenn' wir weiter in das infrarote Gebiet kommen, gelangen wir in den Bereich der elektrischen Strahlungen, deren Wellenlängen von der kürzesten Welle, die ich erzeugen konnte (0,6 cm) bis zu meilenlangen reichen. Daraus ergibt sich nun die außerordentlich anziehende Frage, ob Pflanzen die langen Aetherwellen, einschließlich der für Funkentelegraphie verwendeten, wahrnehmen und beantworten.

Auf den ersten Blick möchte uns das recht unwahrscheinlich vorkommen, denn die wirkungsvollsten Strahlen sind die des ultravioletten Bereichs mit Wellenlängen von nur 20 x 10 hoch -6 cm; aber bei den elektrischen Wellen, die für die drahtlose Telegraphie verwendet werden, haben wir es mit fünfzigmillionenmal so langen zu tun. Die Wahrnehmungskraft unserer Netzhaut ist auf den sehr engen Bereich einer einzigen Oktave begrenzt, deren Wellenlängen zwischen 70 x 10 hoch -6 cm und 35 x 10 hoch -6 cm liegen. Es ist kaum vorstellbar, daß Pflanzen so weit voneinander entfernte Strahlen, wie das sichtbare Licht und die unsichtbaren elektrischen Wellen sollten wahrnehmen können.

Aber die ganze Sache sieht gleich ganz anders aus, wenn wir die Gesamtwirkung der Bestrahlung auf die Pflanze in Erwägung ziehen. Licht ruft eine zwiefache Wirkung hervor, die man allgemein gesprochen als äußere und innere bezeichnen kann. Die erste wird als Bewegung sichtbar, die zweite gibt sich äußerlich nicht kund, sondern besteht in einer "Aufbau-" oder assimilatorischen chemischen Veränderung mit gleichzeitiger Zunahme der potentiellen Energie. Von den beiden Reaktionen ist eine also dynamisch, begleitet von einer dissimilierenden "Abbau"-Veränderung, die an- dere ist potentiell, begleitet von der entgegengesetzten, der >Auf-bau"-Veränderung. In Wirklichkeit gehen beide Vorgänge gleichzeitig vor sich, doch wird unter gewissen Bedingungen der eine vorherrschend sein.

Die Art des Lichtes wirkt verschieden. Ich führe dazu Pfeffer an: "Soweit wir bis jetzt wissen, ergibt die Wirkung verschiedener Strahlen des Spektrums die gleichen Kurven für heliotropische und phototaktische Bewegungen, für Protoplasmaströmungen und Bewegungen der Farbkörperchen, wie auch für die photonastischen Bewegungen, die durch Wachstum oder Veränderungen im Turgo r hervorgerufen werden. Anderseits sind gerade die weniger brechb aren Strahlen am wirksamsten bei der Photosynthese." Daraus erhellt, daß die dynamischen und potentiellen Aeußerungen einander ergänzen, daß die Photosynthese verursachenden Strahlen für tropische Reaktion verhältnismäßig unwirksam sind und umgekehrt.

Kehren wir zu den elektrischen Wellen zurück. Da sie keine photosynthetische Wirkung ausüben, könnte man vermuten, sie führten die komplementäre tropische Wirkung herbei. Diese Erwägungen veranlaßten mich vor vierzehn Jahren zur Untersuchung der Frage, und die Resultate erwiesen, daß sehr kurze elektrische Wellen die Wachstumsgeschwindigkeit verringern. Sie erzeugen auch Reaktions-bewegungen im Blatt der Mimose, wenn die Pflanze gerade hoch- empfindlich ist. Die Kraft der kurzen elektrischen Wellen ist sehr gering und schwindet noch mehr bei weiterer Entfernung. Man muß daher zum Versuch eine Pflanze in hochempfindlichem Zustande wählen.

Mit Beginn dieses Jahres nahm ich meine Untersuchungen auf diesem Gebiet wieder auf. Ich wollte ausfindig machen, ob Pflanzen im allgemeinen lange Aetherwellen aus einiger Entfernung wahrnehmen und beantworten. Die Wahrnehmung funkentelegraphischer Reize sollte geprüft werden nicht nur an den Reaktionsbewegungen empfindlicher Pflanzen, sondern auch an den verschiedensten Reaktionsweisen aller möglichen Pflanzen.

Das Radiosystem. Da ich nicht über starke Sendemöglichkeiten verfügte, mußte ich mir zur Aussendung drahtloser Wellen die folgende Einrichtung aus dem Stegreif schaffen. Die sekundären Enden einer mäßig großen Ruhmkorffspule wurden mit zwei je 20 cm langen Messingzylindern verbunden. Die Funken wurden zwischen zwei kleinen stählernen Halbkugeln erzeugt, die mit den Zylindern verbunden waren. Einer der beiden Zylinder war geerdet und der andere mit der zehn Meter hohen Antenne verbunden. Die Empfangsantenne war auch zehn Meter hoch, ihr unteres Ende führte in das Laboratorium und war mittels eines dünnen Drahtes mit der eingetopften Versuchspflanze verbunden. Auch diese war mit der Erde elektrisch verbunden. Der Abstand zwischen der Sende- und der Empfangsantenne betrug etwa 200 m, mehr war auf dem Anwesen des Instituts nicht möglich.

Ich darf feststellen, daß ich mit der hier geschilderten Einrichtung sehr deutliche mechanische und elektrische Antworten auf drahtlose Reize bekam. Für jene verwendete ich die Mimose. Die elektrischen Wirkungen entdeckte ich in allen Pflanzen, empfindlichen wie gewöhnlichen.

Die Wirkung drahtloser Reize auf das Wachstum. Um Ver- änderungen im Wachstum genau feststellen zu können, mußte ich erst einen äußerst empfindlichen Ausgleichscfescographen erfinden. In diesem Apparat ist eine Ausgleichsbewegung des Pflanzenhalters ermöglicht, so daß die Pflanze genau in derselben Geschwindigkeit, mit der sie höher wächst, nach unten sinkt. Infolgedessen bleibt die Spitze der Pflanze immer in gleicher Höhe. Dieser vollständige Ausgleich wird durch einen verstellbaren Regulator erreicht. Der an der Pflanze befestigte vergrößernde Erregungshebel zeigt die Wachstumsbewegung an. Bei genauem Gleichgewicht ist die Diagrammlinie wagrecht. Jede durch irgendwelche Gründe veranlaßte Wachstumsbeschleunigung stört nun das Gleichgewicht und bewirkt infolge der Anordnung des Apparats eine absteigende Linie. Verlangsamt sich das Wachstum aber, so wird das Gleichgewicht nach der anderen Seite hin gestört und die Linie aufwärts geführt. Die in Abbildung 21 wiedergegebenen Kurven beweisen, daß wachsende Pflanzen den Reiz elektrischer Wellen nicht nur wahrnehmen, sondern auch beantworten. Diese Wirkungen wurden bei allen wachsenden Pflanzen festgestellt. Die abgebildeten Kurven wurden mit einem Weizensämling erzielt.

Die Wirkung schwacher Reize. Ich untersuchte zuerst die Wirkung schwacher Reize. Ich erzielte sie, indem ich die Energie der Funken meines Senders verminderte. Die Folge war eine Beschleunigung der Wachstumsgeschwindigkeit, wie Abbildung 21 a zeigt. Das entsprach genau der beschleunigenden Wirkung eines Lichtreizes von unterminimaler Stärke.
Fig. 21. Aufzeichnung der Reaktion von Pflanzen auf die Einwirkung drahtloser Wellen, (a) Reaktion auf schwache Reizung durch Wachstumsbeschleunigung ; (b) Reaktion auf starke Reizung durch Verzögerung des Wachstums; (c) Reaktion auf mittelstarke Reizung: Verlangsamung mit nachfolgender Wiedererholung. Die absteigenden Kurvenäste zeigen die Beschleunigung, die aufsteigenden die Verlangsamung des Wachstums an (Weizenkeimlinge).
Fig. 21. Aufzeichnung der Reaktion von Pflanzen auf die Einwirkung drahtloser Wellen, (a) Reaktion auf schwache Reizung durch Wachstumsbeschleunigung ; (b) Reaktion auf starke Reizung durch Verzögerung des Wachstums; (c) Reaktion auf mittelstarke Reizung: Verlangsamung mit nachfolgender Wiedererholung. Die absteigenden Kurvenäste zeigen die Beschleunigung, die aufsteigenden die Verlangsamung des Wachstums an (Weizenkeimlinge).

Die Wirkung starker Reize. Die stärkste Ausstrahlung meines Senders hielt sich in mäßigen Grenzen, wie ich schon erwähnte. Trotzdem ergab sich eine ganz auffällige Wirkung bei Pflanzen. Das Gleichgewicht des Crescographen wurde sofort gestört: eine Verringerung der Wachstumsgeschwindigkeit wurde verzeichnet (Abb. 21 b). Die Latenzda.uer, d. h. die Pause zwischen dem Einströmen der Welle und der Antwort betrug nur einige Sekunden. Die irt der Abbildung wiedergegebeue Kurve wurde mit der mäßigen Vergrößerung von nur 2000 mal erzielt. Aber mit meinem magnetischen Crescographen kann ich leicht bis zehnmillionenfach vergrößern, und die Antwort der Pflanze auf drahtlose Telegraphie kann in demselben Verhältnis gesteigert werden.

Wenn man den Reiz ein wenig über die unterste Schwelle steigert, wächst die Pflanze zunächst langsamer, erholt sich dann aber schneller, wie die Kurven in Abb. 21 c andeuten. Der Wahrnehmungsbereich der Pflanzen ist unvorstellbar größer als der unsere. Sie nimmt die verschiedenen Strahlen des ungeheuren Aetherspektrums nicht nur wahr, sondern antwortet auch darauf."

Diese Offenbarungen sind um so erstaunlicher, als niemand darauf vorbereitet war. Sie beweisen, daß der Anspruch von Mensch und Tieren, seinen bisher so geringgeschätzten "Pflanzenbrüdern" unzweifelhaft überlegen zu sein, der Probe einer eingehenden Untersuchung nicht standhält.

XIV. TROPISMEN

Wir haben noch über die verschiedenen tropischen Bewegungen der Pflanzen zu berichten, mit denen sie auf die vielseitigen Reize ihrer Umgebung antworten. Es kann sich 1. um Berührungsreize handeln, infolge derer sich die Ranken um die Stütze winden oder 2. um die Wirkung des Lichtes, unter dessen Einfluß sich die Pflanzen manchmal dem Lichte zu, manchmal von ihm abwenden, 3. um die Wirkung der Schwerkraft, die in Sproß und Wurzel entgegengesetzte Bewegungen auslöst; der Sproß strebt aufwärts, die Wurzel abwärts. Es gibt aber noch eine Unzahl anderer Bewegungen, die mit der regelmäßigen Wiederkehr von Tag und Nacht zusammenhängen. Das Gewirr und die scheinbaren Widersprüche der Reaktionsbewegungen sind so erstaunlich, daß man eine erschöpfende Erklärung nicht für möglich hielt. Das führte zu der Annahme, besondere Bewegungen rührten von einer unbekannten Empfindlichkeit her. Organe mit positiver Empfindlichkeit kehrten sich dem Reize zu, während solche mit negativer Empfindlichkeit sich vom Reize abkehrten. Mit der Verwendung solcher rein beschreibender Redensarten sind aber die Erscheinungen noch keinesfalls geklärt! Die Vorstellung von einer besonderen Empfindlichkeit ist überdies ganz unhaltbar, sobald wir auf Fälle stoßen, wo sich ein Organ unter dauernder Einwirkung eines Reizes zuerst diesem zu-, dann aber von ihm abkehrt. Ein und dasselbe Organ kann doch offenbar unmöglich zugleich positiv und negativ empfindlich sein.

Lange Jahre kam Bose nicht zur Ruhe über dem Verlangen, irgendeine grundlegende Reaktion für so äußerst gegensätzliche Erscheinungen zu entdecken. Welches ist die eigentlich charakteristische Antwort auf einen Reiz, und welche Einwirkungen vermögen einen Reiz auszuüben ? Der Ausdruck Reiz (Stimulus) selbst wurde in der Pflanzenphysiologie stets in einem etwas verschwommenen, unbestimmten Sinne gebraucht, was viel Verwirrung anrichtete. So galten Licht und Wärme beide als Reize. Bose konnte aber nachweisen, daß sie physiologische Wirkungen hervorrufen, die einander völlig zuwiderlaufen. Er stellte eine lange Reihe von Versuchen an, deren Resultate es ihm ermöglichten, die reizbewirkenden Faktoren in Gruppen zu ordnen. Er wies nach, daß, allgemein gesprochen, solche Mittel, die ein ruckweises Zusammenziehen des Tiermuskels verursachen, auch im Pflanzengewebe Kontraktion hervorrufen. Folgende Reizmöglichkeiten wurden als wirksam aufgestellt, um in pflanzlichem Gewebe Erregungen zu wecken: a) Mechanische (Berührung oder Reibung, Stich oder Verwundung, b) strahlende (das ganze Ätherspektrum mit sichtbarem Licht, Wärmestrahlung und elektrischen Wellen), c) elektrische (Einschaltung oder Unterbrechung eines Stroms, Induktionserschütterungen und Kondensatorenentladungen). Auch gewisse chemische Faktoren wirken als Reizmittel. Das erste große, allgemeingültige Gesetz, das Bose aufstellte, lautet: Direkte Anwendung aller Arten von Reizmitteln (mechanischen, strahlenden oder elektrischen) verursacht dieselben physiologischen Kontraktionsreaktionen.

Dann zeigt er, daß durch Reize hervorgerufene Erregungen örtlich begrenzt bleiben oder je nach der Leitungsfähigkeit des betreffenden Gewebes auf einen entfernten Punkt übertragen werden können. In dieser Hinsicht gibt es viele Stufen starkleitender, halbleitender und nichtleitender Gewebe. In der hochempfindlichen Mimose als dem Urbilde stärkster Leitungsfähigkeit im Verein mit einem beweglichen Gelenk zeigt Bose die Empfindlichkeit der Pflanze für alle Arten von Reizen und ihre entsprechende Antwort. Er erklärt, wie die Empfindlichkeit der unteren Seite (sie ist achtzigmal größer als die der Oberseite) gemessen wird. Weiter, wie er die Geschwindigkeit der Erregungsübertragung vom Stengel an mit durchschnittlich 30 sek/mm bestimmte. Diese Geschwindigkeit ist zwar geringer als beim Nerv des höheren Tieres, übertrifft aber die niedrigerer Tiere, wie etwa der Muschel, wesentlich. Wir können also wohl verstehen, wie Bose und seine Mitarbeiter heute ein Blattgelenkpräparat für Untersuchungen heraussezieren können, wie der Physiologe längst Nerv- und Muskelpräparate macht, und wie weit sie mit ihren gegenwärtigen Apparaten in ihrem Forschen vorzudringen vermögen.17 Er weist in diesem Zusammenhang nach, daß bei Mimosa die Leitungsfähigkeit quer durch den Stamm nur 1/400 von der in der Längsrichtung beträgt.

Wir wollen uns nun solchen Geweben zuwenden, in denen die Leitungsfähigkeit außergewöhnlieh schwach ist. Die von direkten Reizen hervorgerufene Kontraktion bleibt in diesem Falle örtlich begrenzt. In einer gewissen Entfernung vom direkten Reiz aber wird eine Reaktion genau entgegengesetzter Art hervorgerufen (vergl. Abb. 22), die als "indirekte" Wirkung des Reizes bezeichnet wird. Das heißt, wenn "direkte" Reize unmittelbar auf die reagierende Oberfläche wirken, wird dadurch der Turgor verkleinert und es tritt eine Kontraktion ein; das Galvanometer zeigt einen negativen elektrischen Ausschlag. "Indirekte Reize" anderseits bewirken eine Zunahme des Turgors, damit Ausdehnung und positiven elektrischen Ausschlag. Die Entdeckungdieser bisher unbekannten Wirkung indirekter Reize ist eine der weitestreichenden Errungenschaften Boses. Denn zahlreiche scheinbare Widersprüche in den Reaktionsbewegungen der Pflanzen werden jetzt aus dieser so lange unbekannt gebliebenen Tatsache erklärt.

Wir können nun zu Boses besonderen Beiträgen zum Verständnis der Pflanzenbewegungen übergehen. Ein sehr wichtiges von ihm aufgestelltes Gesetz betont die Einheitlichkeit der Reaktionen in allen pflanzlichen Organen, wachsenden und nichtwachsenden. Besonders bezeichnend für diese Fortschritte im Verständnis der durch Wachstum bedingten Bewegungen ist der experimentell gewonnene Schluß, daß das wachsende Organ mit seinen Antworten dem Mimosengelenk und seinen Antworten entspreche. Bose nimmt die Wirkungen aller möglichen Wachstumsreize graphisch auf und weist nach, daß direkter Reiz das Wachstum hemmt oder eine beginnende Kontraktion hervorruft. Wird der Reiz gesteigert, so bewirkt er eine tatsächliche Zusammenziehung, was gleichbedeutend ist mit der Zusammenziehung im Gelenk unter direktem Reiz.

Sodann zeigt Bose die Wirkung des indirekten Reizes, d. h. eines Reizes, der in einiger Entfernung von der reagierenden Wachstumsregion ausgeübt wird. Durch ihn wird eine Ausdehnung und eine Beschleunigung der Wachstumsgeschwindigkeit herbeigeführt. Die entgegengesetzte Wirkungsweise von direktem und indirektem Reiz ist in Abbildung 22 (a und b) dargestellt. Bose faßt sein Gesetz von der Wirkung dieser beiden Arten von Reiz in folgende Worte: "Direkter Reiz bewirkt Kontraktion, indirekter Reiz das Umgekehrte, nämlich Expansion."

Dasselbe Gesetz gilt, wenn der Reiz nur auf eine Seite des Organs ausgeübt wird. Wenn irgend ein Reiz auf die rechte Seite wirkt (Abb. 22 c), so zieht sich die direkt gereizte Stelle zusammen, die indirekt gereizte oder linke Seite dehnt sich aus, woraus sich eine tropische Krümmung gegen den Reiz hin ergibt. Aus diesen grundlegenden Reaktionen, die er im Versuch nachwies, erklärte Bose die verschiedenen Bewegungen, die die mannigfachen Kräfte der Umgebung auslösen.

So findet er auch eine Erklärung der Bewegungen der Ranken. Ob sie nun zweigartig, d. h. zuerst gleichförmig und radial sind, oder von Anfang an mehr oder weniger zweiflächig wie das Blatt oder der Blattansatz - die sich auch oft in Ranken verwandeln - alle reagieren sie in gleicher Weise auf direkte und indirekte Reize. Daher rührt es also, daß sich eine Ranke infolge der Reibung in der Richtung auf diesen direkten Reiz zusammenzieht. Die Spiralen der Schlingpflanzen in dieser zweckmäßigen Richtung sind also nicht ein besonderes Wunder natürlicher Auslese unter verschiedenen Möglichkeiten, sondern entsprechen ganz einfach dem Wesen aller Reaktionen.
Fig. 22. Die Wirkung direkten und indirekten Reizes. (a) Ein direkt auf die wachsende Zone einwirkender Reiz bewirkt eine Verlangsamung des Wachstums oder eine Kontraktion, wie die punktierte Linie zeigt. Die gereizte Zone ist in diesem wie im folgenden Bilde schraffiert. (b) Ein indirekter (in einigem Abstand von der wachsenden Region) wirkender Reiz veranlaßt eine Wachstumsbeschleunigung und Expansion. (c) Ein auf die rechte Seite des Organs einwirkender Reiz verursacht eine Kontraktion an dieser Seite und eine Expansion an der entgegengesetzten und führt dadurch zu einer positiven Krümmung gegen die Reizquelle zu. (d) Leitung des Reizes nach der Gegenseite bewirkt Neutralisation. (e) Erregung durch intensive Reizung wird quer durch den Stengel geleitet und verwandelt so die positive Krümmung in eine negative, d. h. in eine Krümmung weg von der Reizquelle.
Fig. 22. Die Wirkung direkten und indirekten Reizes. (a) Ein direkt auf die wachsende Zone einwirkender Reiz bewirkt eine Verlangsamung des Wachstums oder eine Kontraktion, wie die punktierte Linie zeigt. Die gereizte Zone ist in diesem wie im folgenden Bilde schraffiert. (b) Ein indirekter (in einigem Abstand von der wachsenden Region) wirkender Reiz veranlaßt eine Wachstumsbeschleunigung und Expansion. (c) Ein auf die rechte Seite des Organs einwirkender Reiz verursacht eine Kontraktion an dieser Seite und eine Expansion an der entgegengesetzten und führt dadurch zu einer positiven Krümmung gegen die Reizquelle zu. (d) Leitung des Reizes nach der Gegenseite bewirkt Neutralisation. (e) Erregung durch intensive Reizung wird quer durch den Stengel geleitet und verwandelt so die positive Krümmung in eine negative, d. h. in eine Krümmung weg von der Reizquelle.

Nun können wir auch in der Hauptsache verstehen, warum das Wachstum der Pflanzen meistens dem Lichte zustrebt: dieses wirkt auf Stengel und Blattstiele genau ebenso wie die Stütze auf die Ranke. Denn auch in diesem Falle zieht sich wieder die unmittelbar gereizte Seite zusammen und die Gegenseite dehnt sich aus, wodurch der Schößling sich dem Licht zubiegt Es kommt vor, daß überreizte Pflanzenteile sich wieder abkehren, wenn das Licht sehr stark und lange einwirkt. Wie mag das vor sich gehen? Boses Versuche zeigen, daß die starke Erregung in Stamm und Stiele eindringt und sie durchdringt, so daß sie sich nach der anderen Seite zusammenziehen und die frühere Lichtwärtsbewegung wieder ausgeglichen wird (Abb. 22 d). Das Organ stellt sich nun rechtwinklig zu dem Lichte, eine Reaktion, die man Diaheliotropismus nennt. In manchen Fällen ist die Querleitungsfähigkeit der Organe beträchtlich. Die Folge ist gesteigerte Erregung und Zusammenziehung der abgekehrten Seite, während die Zusammenziehung der zugekehrten Seite infolge der durch Ueberreizung verursachten Uebermüdung zurückgeht. Das Organ wendet sich dann vom Lichte ab. Wir haben hier einen negativen Heliotropismus (Abb. 22 e). Diese Wirkungen werden noch verstärkt, wenn eine Seite des Organs erregbarer ist als die andere. Doch auch in jedem dieser Fälle zeigen die mit Boses registrierenden Apparaten gewonnenen Aufzeichnungen immer zuerst eine Bewegung dem Lichte zu, dann in die Mittellage zurück, und erst zuletzt vom Lichte weg. So wurde die Kontinuität der Reaktionen nachgewiesen und die Annahme einer spezifischen positiven oder negativen heliotropischen Empfindlichkeit als unbegründet dargetan.

Von dieser Auffassung der Doppelwirkung der Lichtreize ausgehend, dürfte auch die Erscheinung der Anpassungsfähigkeit der Blätter zur Aufnahme von Licht oder zu seiner Abwehr ihre Erklärung finden. Denn wir wissen jetzt, daß die mehr oder weniger sensitive Oberfläche des Gelenkpolsters, von dem die Blattstellunggewöhnlich abhängt, ganz verschieden beeinflußt werden kann.

Somit hätten wir denn jetzt für diese alltäglichen Phänomene eine einfache und einheitliche dynamische Erklärung, die die übliche utilitaristische verdrängt. Doch jeder Botaniker kennt schwierigere Fälle. Die Kapuzinerkresse (Tropaeolum) kehrt sich in Indien im Winter der Sonne zu, im Sommer von ihr ab. Bose weist nach, daß die Fortpflanzung der "nervösen" Erregungin der Pflanze wie beim Tier beschleunigt wird, wenn die Wärme zunimmt, und verlangsamt, wenn sie abnimmt. So wird im Sommer durch höhere Wärme die transversale Leitung der Erregung befördert. Die Reizwirkung dringt in dieser Jahreszeit leichter durch den Stamm, so daß die im Winter normale positive Beugung im Sommer in die entgegengesetzte verkehrt wird. Man kann daraus erkennen, welche Veränderungen in der Reaktion durch Einflüsse der Tages- und Jahreszeit wie des Klimas hervorgerufen werden können.

Wir gehen nun zum positiven und negativen Geotropismus über, deren Erklärung früher fast unüberwindliche Schwierigkeiten bereitete. Vom jüngsten Sämling bis zum höchsten Baum steigt der Sproß aufwärts, die Wurzel abwärts. Legt man die Pflanze flach hin oder kehrt man sie um, so beginnt sie sich ganz von selbst aufzurichten. Sproß und Wurzel suchen ihre entsprechende Wachstumsrichtung. Es ist deutlich sichtbar, wie der Sproß sich aufrichtet, in größtem Ausmaße bei einem vom Regen niedergelegten Kornfeld. Die Knoten beginnen sofort wieder das Wachstum und richten so den Schößling wieder auf. Der Pflanzenor.ganismus ist also bipolar wie ein Magnet. Der äußere Anlaß zu diesem auffälligen Verhalten ist zweifellos die Schwerkraft, der sich der Organismus anpassen muß. Aber die Botaniker verbrachen sich lange den Kopf darüber, wie man diese funktioneile gegenseitige Einstellung von Organismus und Umgebung verstehen solle. Man dachte zuerst, die Wurzel senke sich nur unter ihrem Gewicht. Wenn man aber eine Schale mit Quecksilber unterhalb der Wurzel eingräbt, erzwingt sie sich ihren Weg nach abwärts auch gegen diesen starken Widerstand, der sie aus ihrer Richtung verdrängen müßte, wenn sie passiv wäre. Und andererseits: Wie kann der Schößling trotz der Schwerkraft zehn, ja Hunderte von Fuß aufsteigen? Wie kann derselbe, gleichartige Antrieb der Schwerkraft zweierlei und ganz entgegengesetzte Wirkungen hervorbringen ?

Um diese äußerst schwierigen Probleme zu lösen, begann Bose die folgenden Fragen zu untersuchen: 1. Wie geht eine Reaktionsbewegung unter dem Einfluß der Schwerkraft vor sich? 2. Welche besondere Zellenschicht nimmt den Reiz wahr und wirkt als Sinneswerkzeug? 3. Was bewirkt die entgegengesetzte Reaktion beim Sproß und bei der Wurzel?

Die Untersuchung wurde ermöglicht durch neue, äußerst feine und zuverlässige Forschungsmethoden, worin nur die der geo-elektrische Reaktion und die Lokalisation der den Schwerkraftreiz perzipierenden Schicht durch die elektrische Sonde erwähnt werden sollen. Die Methoden und ihre Anwendung sollen gleich näher beschrieben werden.

Daß sich ein wagrecht gelegter Stamm aufbiegt, kann entweder von einer Ausdehnung der unteren oder von einer Zusammenziehung der oberen Seite herrühren. Man hatte noch keine Versuchsmöglichkeit gefunden, um zwischen beiden Annahmen zu entscheiden. Allerdings herrschte die Ansicht vor, die Bewegung rühre von Ausdehnung her. Hier hätten wir also eine offensichtliche Ausnahme von Boses Gesetz, daß alle direkten Reize Zusammenziehung, alle indirekten aber Ausdehnung hervorrufen.

Um diese Frage gründlich prüfen zu können, ersann Bose eine ungewöhnlich feine elektrische Methode, durch die er feststellen kann, ob die Oberseite des waagrecht liegenden Stammes passiv bleibt oder ob sich eine wirksame Erregung nachweisen läßt. In seinem schon erwähnten Werke "Vergleichende Elektrophysiologie" hatte er nachgewiesen, daß der Erregungszustand in einem Pflanzengewebe an zwei gleichzeitigen Reaktionen erkenntlich ist - an einer Zusammenziehung und einer elektrischen Veränderung mit negativen Vorzeichen. So kann man den Erregungszustand jedes Gewebeteils vermittelst eines Galvanometers mit großer Sicherheit messen. Bose verband zwei Seiten eines Stengels mit dem Galvanometer, das, als man den Stengel aus der Senkrechten in die Waagerechte umlegte, sofort anzeigte, daß die Oberseite erregt war. Man fand, daß die elektrische Reaktion sich verstärkte, wenn der Neigungswinkel gegen die Senkrechte von 0 auf 90 Grad erhöht wurde. Dieser direkte Reiz der Oberseite bewirkte deren Zusammenziehung, die wieder eine geotropische Aufwärtsbewegung des Stammes bedingte.

Was für ein Sinneswerkzeug, so lautete die nächste Frage, setzt die Pflanze instand, die senkrechte Stellung zu fühlen und sich entsprechend zu bewegen? Wir veranschaulichen uns die Richtung der Schwerkraft durch das Bleilot, und daß wir selbst uns im Räume zurechtfinden, wird, soviel man bis heute weiß, von den im innern Gehörgange gelegenen halbkreisförmigen Kanälen bedingt. Man nimmt an, die Schwerkraft wirke auf die in ihnen enthaltene Flüssigkeit je nach unserer Körperhaltung, so daß unsere Bewegungen dem wechselnden Druck und Fluß in jenen entsprechen. Bei Wassertieren, deren spezifisches Gewicht nicht viel von dem des Wassers verschieden ist, treten schwere feste Körper in Tätigkeit: die großen Otolithe im Ohr des Fisches und die Sandkörner beim Krebs neben den Fühlhaaren. Wenn Tiere sich also durch Reizeinwirkung mittelst fester Partikel, die immer senkrecht fallen, zurechtfinden, müssen dann nicht die festen Körnchen verschiedenster Zusammensetzung - eiweißartiger, stärkehaltiger usw. -, die in vielen Pflanzenzellen vorgefunden werden, auf ihr Protoplasma ebenso wirken und geradezu als Otolithe dienen, die die nötigen Zeichen und Reize vermitteln, um die Richtung zu bestimmen ? Man fand in mikroskopischen Pflanzenpräparaten unverkennbare Schichten von Stärkekörnern, und Noll, Haberlandt, Nemec und andere vertraten aus anatomischen Erwägungen über deren Verteilung die Theorie von den Statolithen mit Erfolg.
Fig. 23. Bestimmung der Lage der den Schwerkraftreiz perzipierenden Gewebezone mit Hilfe der elektrischen Sonde. Das Schema zeigt die den Schwerereiz perzipierende Zone in ungereizter vertikaler und gereizter horizontaler Lage.
Fig. 23. Bestimmung der Lage der den Schwerkraftreiz perzipierenden Gewebezone mit Hilfe der elektrischen Sonde. Das Schema zeigt die den Schwerereiz perzipierende Zone in ungereizter vertikaler und gereizter horizontaler Lage.

Der zur Lokalisation einer geoperzeptiven Schicht erforderliche direkte Beweis ist indes die physiologische Reaktion der lebenden Pflanze, die unverkennbare Zeichen davon gibt, daß sie den geotropischen Reiz wahrnimmt, sobald sie aus ihrer normalen Vertikalhaltung verlagert wird. Bose arbeitete nun den durchaus neuen Gedanken einer elektrischen Sonde aus, mit deren Hilfe er das Innere der Pflanze erforschen und den Er-regungszustand der verschiedenen Schichten feststellen kann. Nehmen wir einmal an, G und G1 seien die Zellschichten eines Stammes, die für die Wahrnehmung des von der Schwerkraft herrührenden Reizes in Betracht kommen, G G sei der Längsschnitt eines Jahrrings (Abbildung 23). Solange der Stamm senkrecht steht, ist kein geotropischer Reiz festzustellen. Sobald er aber aus der Senkrechten geneigt wird, tritt Erregung ein. Boses elektrische Sonde besteht aus einem äußerst dünnen Platindraht, der in ein haarfeines Glasröhrchen eingeschlossen ist, so daß die Sonde mit Ausnahme ihrer äußersten Spitze isoliert ist. Wenn die nun mit einem Galvanometer verbundene Sonde langsam quer durch den Stamm oder Stengel eingeführt wird, zeigt der Ausschlag des Galvanometers den Erregungszustand jeder Schicht an. Bose hielt den Stamm senkrecht und bohrte die Sonde Schicht für Schicht durch das Organ, fand aber kein einziges Anzeichen irgendwelcher Erregung. Gewiß verursacht das Durchstoßen der Sonde einen leichten Reiz, aber wenn man das Instrument ganz besonders fein macht und sehr langsam einführt, wird er auf ein Minimum verringert.

Ganz anders wird es aber, wenn der Stamm aus einer senkrechten in eine waagerechte Lage gebracht wird. Die geotropisch empfindliche Schicht nimmt den Reiz wahr und wird zum Brennpunkt aller Erregung. Der Erregungszustand ist, wie bereits erläutert, an der negativ elektrischen Reaktion des Galvanometers zu erkennen. Am stärksten wird die elektrische Abweichung in der geoperzeptiven Schicht selbst. Von da breitet sie sich radial nach den benachbarten Zellen aus, wobei die Stärke der Erregung mit der Entfernung abnimmt. Deshalb werden auch die elektrischen Ausschläge sowohl nach ein- wie nach auswärts schwächer.

Die Verteilung des in der perzeptiven Schicht beginnenden und radial ausstrahlenden Reizes ist in der Zeichnung rechts auf Abbildung 23 durch die Schattierung angedeutet. In der perzeptiven Schicht ist der Schatten am dunkelsten. Wäre die Erregung von einem Uebergang des Lichtes in Schatten begleitet gewesen, so würden wir bei Umbiegung des Stammes von der Senkrechten in die Wagerechte einen nach außen hin abnehmenden Schatten bemerken, der sich über die verschiedenen Zellschichten hinzieht. Dieser Schatten wäre verschwunden, sobald man den Stamm wieder aufgerichtet hätte.

Man kann allerdings verschiedene Erregungsschatten in verschiedenen Schichten unterscheiden, wenn man die isolierte elektrische Sonde in den Organismus einführt. Beim Versuch zeigte die Sonde während der Annäherung an die perzeptive Schicht eine Zunahme der Erregungselektrizität. Der Höhepunkt wurde erreicht, als die Sonde mit der Schicht in Berührung kam. Sobald sie die Schicht durchstoßen hatte, nahmen die elektrischen Meldungen stark ab, bis sie ganz ausblieben. Wurde der geotropische Reiz ausgeschaltet, indem man das Versuchsobjekt wieder senkrecht stellte, so schwiegen auch die elektrischen Meldungen aus der wahrnehmenden Schicht selbst. So vermag Bose die Ausdehnung physiologischer Erregungen innerhalb eines lebenden Organs aufzuzeigen.

Nachdem Bose mit seinem elektrischen Forschungsinstrument die perzeptive Schicht festgestellt hatte, machte er Schnitte von dem Organ und fand in den betreffenden Zellen große Stärkekörner, die durch ihr Gewicht die Wahrnehmung der Schwerkraft entscheidend ermöglichten.

Wenn das Fallen der schweren Körperchen auf die empfindliche elektroplasmatische Schicht der unteren Seite der Zellen die Ursache der geotropischen Erregung sein sollte, mußte die geotropische Reaktion nach der Zeitspanne eintreten, die die schweren Körperchen brauchen, um von der Zellbasis auf die eine Seite zu fallen. Diese Zeitspanne dürfte nicht mehr als ein paar Sekunden betragen. Nach damals gemachten Beobachtungen schien die geotropische Reaktion erst viel später einzutreten, nämlich nach Verlauf von einigen Minuten bis zu einer Stunde und mehr. Mit seinem vergrößernden Registrierapparat vermochte Bose nunmehr festzustellen, daß die geotropische Biegung in weniger als einer Minute beginnt, und mit seiner elektrischen Methode konnte er nachweisen, daß die Latenzzeit nicht mehr als ein paar Sekunden beträgt.

Nun blieb nur noch eine Unregelmäßigkeit bei geotropischen Reaktionen zu erklären übrig: die Wurzel reagiert genau umgekehrt wie der Sproß. Bose konnte nachweisen, daß jeder Abschnitt des wachsenden Teils eines Schößlings auf den Reiz der Schwerkraft antwortet, indem er sich aufwärts biegt. Der wachsende Teil eines Schößlings ist also nicht nur empfänglich für den Reiz, sondern reagiert auch auf ihn. Der geotropische Reiz wirkt also direkt auf den Schößling. Für die Wurzel gilt dies indes nicht. Hier nimmt die Spitze den Reiz wahr, denn schon Darwin wies nach, daß die Wurzel die Richtung verliert, wenn man ihr die Spitze abschneidet. Die eigentliche geotropische Richtungnahme geht aber in dem wachsenden Teil vor sich, der etwas rückwärts von der Spitze liegt. Der Reiz wird mit der Spitze wahrgenommen und nach dem reagierenden

Wachstumsgebiet fortgepflanzt. Auf die Wurzel also wirkt der geotropische Reiz indirekt. Bose hatte gezeigt, daß direkter und indirekter Reiz auf das Wachstum entgegengesetzt wirken. Daraus folgt, daß die Antworten von Schößling und Wurzel auf direkte und indirekte Reize die entgegengesetzten Vorzeichen haben müssen.

Bose ging aber noch weiter und machte direkte Versuche über die eigentümlichen Reaktionen der Wurzel. Er verwandte verschiedenartige Reize, zuerst direkt im reagierenden Wachstumsteil der Wurzel, und stellte fest, daß sie sich auf die Reizquelle zubog. Dann ließ er dieselben Reize auf eine Seite der Wurzelspitze wirken. Als Antwort bewegte sie sich vom Reiz weg. Boses allgemeines Gesetz, daß direkte Reize und indirekte Reize entgegengesetzte Reaktionsbewegungen auslösen, wurde hier also auch für Wurzeln erwiesen.

Man hatte Einwände gegen Darwins Versuche erhoben, wonach bei entspitzten Wurzeln die geotropische Antwort ausbleibt, und behauptet, die Erschütterung der Operation könne allein schon jede Reizempfindlichkeit tilgen. Um diesen Einwand zu entkräften, machte Bose seine elektrischen Versuche über die Reaktion verschiedenerstellen gesunder Wurzeln unter dem Einflüsse der Schwerkraft. Als er seinen elektrischen Kontakt an die eine Seite der Wurzelspitze anschloß, ergab die Biegung der Wurzelspitze aus der Senkrechten in die Waagrechte sofort eine negative elektrische Reaktion. Das bewies, daß auf die Wurzelspitze ein direkter Reiz ausgeübt worden war. Als man die Wurzel wieder in die senkrechte Stellung zurückbog, verschwanden sogleich alle Anzeichen einer Erregung. Darauf schaltete er den elektrischen Kontakt in der reagierenden Wachstumsstelle der Wurzel ein. Als man sie aus der Senkrechten in die Waagrechte bog, bekam er positive elektrische Reaktionen, was auf indirekte Wirkung diesesReizes schließen läßt. Auf Grund dieses mit der gesunden Pflanze durchgeführten Versuches konnte Bose eine grundsätzliche Einheitlichkeit sogar bei Reaktionen feststellen, die einander so ausgesprochen entgegengesetzt erschienen.

XV. DER SCHLAF DER PFLANZEN

Verschiedene Teile der Pflanze sind dauernd in Bewegung, wenn das auch nicht unmittelbar sichtbar ist. In ihren verschiedenen Stellungen kann man jedoch einen auffälligen Wechsel bei Tag und Nacht beobachten. Eine Erklärung dieser besonderen Erscheinung des Nyktitropismus hat bisher nicht recht glücken wollen, wie man aus der folgenden Zusammenfassung ersehen kann, die Jost in seiner "Pflanzenphysiologie" gibt.

"Viele Pflanzenorgane, zumal Laub- und Blütenblätter, nehmen am Abend eine andere Stellung ein als sie tagsüber innehatten. Blüten-und Perigonblätter z. B. krümmen sich bei Tage so, daß die Blüte "geöffnet" ist; am Abend kommt es durch eine entgegengesetzte Krümmung zum "Schließen" der Blüte...... Auch bei manchen Laubblättern kann man noch von einem Schließen und Oeffnen reden, z. B. wenn diese sich der Knospe anlegen und wieder abheben, oder wenn sie paarweise sich mit den Flächen aneinander legen und wieder auseinander weichen; in anderen Fällen aber wird man den allgemeineren Ausdruck "Nachtstellung" für den "geschlossenen" und "Tagstellung" für den "offenen Zustand" benutzen..... Einstweilen aber müssen wir eingestehen, daß die Mechanik der nyktinastischen Gelenkbewegungen noch nicht aufgeklärt ist..... Eine vollkommen befriedigende Erklärung der nyktitropischen Bewegungen gibt es noch nicht. Eine solche Erklärung wäre erst auf Grund ganz neuer und erschöpfender Versuche möglich."

Bose hat den Gegenstand umfassend erforscht. Seine Ergebnisse sind im zweiten Band der "Abhandlungen des Bose-Instituts" veröffentlicht. Ohne uns auf Einzelheiten einzulassen, dürfen wir sagen, daß der wesentliche Fortschritt gegen früher in folgendem besteht: Für eine Reihe einfacher, als Musterbeispiele gewählter Fälle wurden die verschiedenen hervorstechenden Tatsachen festgestellt, vor allem die Reaktion 1. auf Temperaturveränderungen, 2. auf Lichtveränderungen und 3. die Veränderung der geotropischen Reaktionen unter dem Einflüsse täglicher Temperaturverschiebungen. Diese letzte, bisher unbeachtete Erscheinung ist die entscheidende Ursache einer sehr großen Zahl von Tag- und Nachtbewegungen. In zahlreichen Fällen rührt die festgestellte Wirkung von verschiedenartigen Verbindungen verschiedener Einflüsse her. Licht und Wärme können stark oder schwach sein. Strahlende Hitze hat nun gerade die entgegengesetzte Wirkung wie die bloßer Temperatursteigerung. Licht kann Nachwirkungen zur Folge haben. Und anderseits variieren die Antworten der Pflanzen von einfachen bis zu mehr oder weniger verwickelten und automatischen. Es gibt also viele selbständige Varianten. Rechnerisch hat man die Möglichkeit unendlich vieler Veränderungen der Wirkung nachgewiesen und die Beobachtung zeigte, daß die Natur eine nicht geringe Anzahl davon verwirklicht hat. Boses Darstellung typischer Reaktionen setzt den Forscher in den Stand, die Wirkung der Verbindung verschiedener Einflüsse vorherzusagen.

Seine Erfolge bei diesen Untersuchungen verdankt er der Vollkommenheit seines neu erfundenen Apparates, der die Pflanzenbewegungen Tag und Nacht selbsttätig aufzeichnete. Die regelmäßige Aenderung der Umweltverhältnisse wird von seinem Thermographen und seinem registrierenden Photometer gleichzeitig festgehalten. Zur Bekräftigung der Ergebnisse werden Versuche durchgeführt, bei denen das Licht dauernd brennt, so daß die Pflanze nur dem Temperaturwechsel im Laufe des Tages ausgesetzt ist. Ein andermal wird die Wärme dauernd auf gleicher Höhe erhalten, so daß nur der tägliche Wechsel von Licht und Dunkel auf die Pflanze einwirkt. Die Ergebnisse seiner ausgedehnten Untersuchungen setzten ihn in den Stand, die Rätsel der verwickelten täglichen Bewegungen der Pflanzen zu lösen. Der folgende Auszug aus Boses volkstümlichem Vortrag, den er in seinem Institut hielt, wird wegen der Schilderung der "Schlaf-und Wach "-Bewegungen der Wasserrose Nymphaea und wegen der Untersuchung, die zur Entdeckung der Ursache dieser Bewegung führte, die Leser fesseln.

Die Nachtwache der Nymphaea. "Die Dichter sind den Gelehrten zuvorgekommen. Warum wacht die Wasserrose Nymphaea die ganze Nacht, und warum schließt sie tagsüber ihren Kelch? Weil sie den Mond liebt. Wie sich die menschliche Seele unter dem Nahen des Geliebten öffnet, so öffnet auch die Lilie ihr Herz, wenn der Mondstrahl es berührt. Sie wacht die ganze Nacht. Sie erschrickt schaudernd unter der derben Berührung der Sonne und schließt deshalb tagsüber ihren Kelch. Die äußeren Blütenblätter der Seerose sind grün, und tagsüber vermag man die geschlossenen Blumen nur schwer von den breiten grünen Blättern zu unterscheiden, die auf dem Wasser schwimmen. Am Abend wandelt sich wie durch einen Zauber das Bild und Tausende von weißen gleißenden Blüten decken das dunkle Wasser. Die Dichter haben diese regelmäßig wiederkehrende tägliche Erscheinung nicht nur beobachtet, sondern auch zu erklären versucht. Das Mondlicht veranlaßt die Rose, sich zu öffnen, und das Sonnenlicht löst die Schließbewegung aus. Wäre der Dichter in einer finsteren Nacht mit einer Laterne hinausgegangen, so hätte er feststellen können, daß die Rose ihre Kelche des Nachts auch dann öffnet, wenn der Mond nicht scheint. Aber man darf von einem Dichter nicht erwarten, daß er des Nachts eine Laterne nimmt und in das Finstere hinauswandert. Diese regelwidrige Neugier ist nur dem Manne der Wissenschaft eigen. Ueberdies schließt sich die Rose auch nicht bei Sonnenaufgang. Oftmals bleibt die Blüte bis elf Uhr vormittags geöffnet. Ein Franzose, der an einem Wörterbuch arbeitete, besuchte den Zoologen Cuvier wegen einer Umschreibung des Wortes Krabbe. Er hatte geschrieben: "Kleiner roter Fisch, der rückwärts geht." - "Wundervoll", meinte Cuvier. "Nur muß die Krabbe nicht notwendig klein sein, auch ist sie erst in gekochtem Zustande rot, und sie ist auch kein Fisch und kann nicht rückwärts gehen. Mit Ausnahme dieser Kleinigkeiten aber ist Ihre Beschreibung ausgezeichnet." So ist es auch mit der dichterischen Schilderung der Bewegungen der Seerose, die sich dem Mondlicht nicht öffnet und vor der Sonne nicht verschließt."

Freilich ist der Erklärungsversuch der Wissenschaft bisher auch nicht befriedigender gewesen. Der hervorragende Pflanzenphysiologe Pfeffer führte die "Schlaf- und Wachbewegungen" auf die regelmäßige Wirkung von Licht und Finsternis, von Sonnenaufgang und Untergang zurück. Das Oeffnen und Schließen der Wasserrose hat freilich wenig oder gar keine Beziehung zu Aufgang oder Untergang der Sonne. Das Oeffnen kann nichts mit dem Sonnenuntergang zu tun haben, denn die Blume bleibt in vollem Licht bis etwa elf Uhr vormittags offen. Auch kann es nicht mit dem Sonnenaufgang zusammenhängen, weil die Blüten schon nachts offen sind. Als er erkannte, daß das Licht wenig oder gar keinen Einfluß habe, wandte Bose seine Aufmerksamkeit den täglichen Temperaturschwankungen zu.

"Wir können dann weiter untersuchen, ob die täglichen Temperaturschwankungen irgendwie bei der Auslösung der Wechselwirkung von Oeffnen und Schließen der Seerose mitspielen. Wenn die Bewegungskurve der Blüte der Temperaturschwankungskurve gliche, dürften wir ohne Bedenken die Blütenbewegungen auf die täglichen Temperaturschwankungen zurückführen. Um den Einfluß der Temperatur auf die Blütenbewegungen bestimmen zu können, brauchen wir also einen Tagesbericht über die Bewegungen der Blütenblättchen und auch Aufzeichnungen über die Temperaturschwankungen in den vierundzwanzig Stunden.

So sollte also der selbsttätige Aufzeichnungsapparat zwei verschiedenen Bedürfnissen genügen. Er sollte zuerst die vergrößerte Bewegung des Blütenblattes aufzeichnen und die Zeit vermerken, wann solche Bewegungen stattfanden, und er sollte außerdem die Wärmeschwankungen, Zunahme wie Abnahme, während des Tages und der Nacht festhalten. Um die Vergrößerung der Bewegungen zu erreichen, wurde ein Blütenblatt der Lilie mit einem feinen Draht an den Arm eines leichten Hebels aus feinem Aluminiumdraht befestigt. Der Hebel ist in einem Rubinlager gelagert, das die Reibung fast ganz ausschaltet. Die Spitze des längeren Hebelarmes ist umgebogen, so daß sie als Schreibstift dient. Dieser zeichnet die vergrößerte Blattbewegung auf eine berußte Glasscheibe, die durch ein Uhrwerk vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen in Bewegung gehalten wird. Die Spitze des Schreibstiftes schabt den Ruß überall da ab, wo sie die Glasplatte berührt, so daß wir eine weiße Linie auf dem dunklen Hintergrund bekommen. Das hat nur eine Schwierigkeit: wo der Schreibstift die Glasplatte berührt, entsteht eine beträchtliche Reibung. So wird die freie Bewegung der Blüte stark behindert und die Linie entstellt und ungenau. Diese Schwierigkeit wird überwunden, indem man die Glasplatte zeitweise immer wieder der Berührung mit dem Schreibstift entzieht. Durch eine besondere Einstellung des Uhrwerks wird die Platte jeweils nach gewissen Zeiträumen, sagen wir alle fünfzehn Minuten, dem Schreibtisch genähert. Die festgehaltenen Punkte deuten die Bewegung des Blattes während der sechsund-neunzig Viertelstunden eines Tages und einer Nacht an.

Nun wären noch die täglichen Temperaturschwankungen aufzuzeichnen. Dazu dient das ganz einfache Hilfsmittel eines zusammengesetzten Streifens, der aus einem sich stärker ausdehnenden Messingstreifen und einem daran angelöteten, weniger ausdehnungsfähigen Stahlstreifen besteht. Steigt die Temperatur, so dehnt sich das Messing mehr aus als der Stahl. Infolgedessen krümmt sich der zusammengesetzte Metallstreifen, wobei die Oberfläche des Messings konvex wird. Das freie Ende des Streifens ist an einen zweiten Vergrößerungshebel befestigt, der die Temperaturschwankungen genau aufzeichnet.

Die Kurven der täglichen Temperaturschwankungen und der Blattbewegungen weisen eine überraschende Aehnlichkeit auf. Es kann also kein Zweifel mehr bestehen, daß das Sichöffnen und Schließen der Blüten durch die täglichen Temperaturschwankungen verursacht werden. Die Blume "schläft" bei Tage. Von sechs Uhr abends an sinkt die Temperatur schnell, und die Blütenkelche beginnen sich zu öffnen, zuerst langsam, dann sehr rasch. Um zehn Uhr nachts ist die Blume ganz offen und voll entfaltet. Obgleich die Temperatur weiter fällt, kann der Kelch sich über das Maximum hinaus nicht weiter öffnen. Etwa um sechs Uhr morgens beginnt die Temperatur wieder zu steigen, und die rückläufige Bewegung des Schließens setzt ein. Die Blüte schließt sich weiterhin sehr schnell, bis sie noch vor elf Uhr vormittags ganz geschlossen ist oder "schläft".

Man sieht daraus, daß Wärmezunahme das Schließen der Blüte und Wärmeabnahme .ihr Oeffnen verursacht. Beide Seiten der Blütenblätter wachsen, aber die äußere Seite ist für Temperaturschwankungen empfindlicher. Daher rührt es, daß während einer Zunahme der Wärme die äußere Seite verhältnismäßig schneller wächst, während der Abkühlung aber vergleichsmäßig langsam. Die zwei entgegengesetzten Reaktionen lassen zwei verschiedene Kurven entstehen, nämlich eine Schließbewegung während der Wärmezunahme und eine Oeffnungsbewegung während des Wärmerückganges. Von anderen Blumen, z. B. der Tulpe, weiß man, daß die innere Seite vergleichsweise empfindlicher ist. Pfeffer wies nach, daß bei dieser Blume eine Zunahme der Wärme die innere Blattseite schneller wachsen läßt. Darum öffnet sich diese Blume bei Temperaturzunahme und schließt sich bei Temperaturrückgang.

So führen verschiedene Blumen infolge ihrer Empfindlichkeit für Wärme und Kälte die sogenannte Bewegung des "Schlafens" und "Wachens" aus. Einige von ihnen haben die gesunde Gewohnheit eines normalen Menschen, des Nachts zu schlafen und tagsüber zu wachen. Andere verkehren die Nacht in den Tag und machen ihre lange Nachtwache wieder gut, indem sie tagsüber nachschlafen !"

So wird nachgewiesen, daß die täglichen Bewegungen der Seerose, auf die auf das Wachstum vorherrschende Wirkung von Temperaturänderungen zurückzuführen sind. Bose beschreibt dann weiter die Wirkung des Wechsels von Licht und Dunkelheit auf Organe, die lichtempfindlich sind. Dieser Fall wird in dem Beispiel der Cassia alata vorgeführt. Um fünf Uhr nachmittags, wenn das Licht rasch abnimmt, beginnt diese Pflanze schnell ihre Blättchen zu schließen. Die Bewegung des Schließens ist um neun Uhr abends beendet und die Blättchen bleiben bis zum nächsten Morgen um fünf Uhr geschlossen. Danach beginnen sie sich wieder zu öffnen. Um neun Uhr ist die Oeffnungsbewegung abgeschlossen und die Blättchen bleiben wieder bis spät nachmittags offen. Die Pflanze ist so außerordentlich lichtempfindlich, daß schon die leiseste Schwankung der Lichtstärke sofort eine Reaktionsbewegung auslöst. So verzeichnet der Meßapparat das Vorüberziehen einer leichten Wolke durch eine vorübergehende Schließbewegung.

Der größte Teil all der vielen täglichen Bewegungen dürfte auf eine eigentümliche, so lange unentdeckt gebliebene physiologische Reaktion zurückzuführen sein. Bose versuchte jahrelang, die unbekannte Ursache festzustellen, bis seine Ausdauer endlich von Erfolg gekrönt wurde. Er verdankt diese Entdeckung einem glücklichen Zufall. Als er einer Einladung der Bevölkerung von Faridpur zur Feier ihrer vor einem halben Jahrhundert von seinem Vater begründeten jährlichen Mela folgte, berichtete man ihm von einer wundersamen "betenden Palme", die in der Nachbarschaft wachse. Hören wir zunächst, was über dieses naturhistorische Phänomen allgemein beobachtet und wie es ausgelegt wurde:

Kaum eine Erscheinung dürfte wohl so interessant und geheimnisvoll sein, wie das Verhalten einer bestimmten Dattelpalme in der Nähe von Faridpur in Bengalen. Am Abend, wenn die Tempelglocken läuten, um das Volk zum Gebet zu rufen, beugt sich der Baum nieder, als wolle er sich zur Erde werfen. Des Morgens erhebt er sein Haupt wieder, und dieser Vorgang wiederholt sich jeden Tag, Jahr für Jahr. Man hat in dieser außergewöhnlichen Erscheinung ein Wunder vermutet, das Pilger in großen Scharen anzog. Es wird behauptet, daß Gaben, die man dem Baume dargebracht, wundersame Heilungen im Gefolge gehabt hätten. Hierüber eine Meinung abzugeben, erübrigt sich. Man mag solche Heilungen für ebenso wirklich halten, wie die Glaubensheilungen, die in Europa jetzt so oft vorkommen.

Diese sonderbare Dattelpalme, Phoenix dactylifera, ist ein ausgewachsener Baum mit unbiegsamem Stamm von 5 m Länge und 25 cm Durchmesser. Er muß durch einen Sturm aus seiner senkrechten Stellung gebogen worden sein und weicht heute etwa 60° von der Senkrechten ab. Im Verlaufe seiner täglichen Bewegung richtet sich der Stamm des Morgens in seiner ganzen Länge auf und senkt sich abends. Der höchstgelegene Punkt des Stammes bewegt sich so einen ganzen Meter auf und ab. Der "Hals" oberhalb des Stammes steht morgens konkav zum Himmel, am Nachmittag verschwindet die Krümmung oder geht sogar in eine leicht umgekehrte Biegung über. Die großen Blätter, die morgens hoch gen Himmel weisen, werden auf diese Art abends mehrere Meter in der Senkrechten herumgeschwungen. Der Phantasie des Volkes erscheint der Baum wie ein lebendiger Riese, - ist er doch zweimal so lang wie ein menschliches Wesen - der sich abends aus seiner ragenden Höhe nach vorn beugt und seinen Nacken senkt, bis die Blattkrone in gleichsam anbetender Haltung die Erde streift. Zwei senkrechte Stäbe von 1 m Höhe geben eine allgemeine Vorstellung von der Größe des Baums und den Bewegungen der verschiedenen Teile seines Stammes (Abb. 24)."
Fig. 24. Die betende Palme. Die obere Photographie zeigt die Stellung am Morgen, die untere die Stellung am Nachmittag.
Fig. 24. Die betende Palme. Die obere Photographie zeigt die Stellung am Morgen, die untere die Stellung am Nachmittag.

Es war zunächst schwierig, vom Besitzer die Erlaubnis zu bekommen, einen Meßapparat an dem Baume anzubringen, da er fürchtete, dessen Wunderkraft könne schwinden, wenn das seltsame Instrument mit ihm in Berührung komme. Seine Besorgnisse schwanden erst, als man ihm versicherte, das Instrument, sei in Boses Laboratorium in Indien hergestellt und werde von einem seiner Mitarbeiter angeschlossen, dessen Vater Priester sei.

Die oben beschriebene Erscheinung ist aber durchaus kein Wunder des mystischen Ostens. Eine ganz ähnliche Sache hatte sich in der prosaischen Umgebung von Liverpool zugetragen, wie ein Ausschnitt aus dem Liverpool Mercury vom 13. Dezember 1811 beweist, den Bose von einem Freunde zugesandt erhielt: Ausschnitt aus dem Liverpool Mercury vom 13. Dezember 1811:

Bemerkenswertes Phänomen. - Am Ufer eines Bächleins, auf der dem Pfarrer Wasney gehörigen Farm Yubsill bei Shipton, steht ein Weidenbaum von beträchtlicher Höhe und etwa drei Meter Umfang. Dieser Baum scheint in der Tat belebt zu sein. Er wirft sich zuzeiten in seiner ganzen Länge zu Boden und erhebt sich dann wieder in seine ursprüngliche aufrechte Stellung. So unglaublich es klingt, ist es doch eine Tatsache, zum Erstaunen von Hunderten, die es gesehen haben!

Boses Bericht über die "betende Palme" hat folgenden Wortlaut:

"Zu einer Deutung der Erscheinung mußten wir

1. eine genaue Aufzeichnung der Bewegungen des Baumes bei Tag und Nacht erhalten und die Zeit der höchsten Erhebung und der tiefsten Senkung feststellen,
2. ausfindig machen, ob dieser eigentümliche Fall von Bewegung einzigartig oder ob die Erscheinung allgemein verbreitet sei,
3. die Ursache der regelmäßig wiederkehrenden Bewegung des Baumes feststellen,
4. den entsprechenden Einfluß von Licht und Wärme auf die Bewegung bestimmen,
5. die physiologische Eigenart der Bewegung des Baumes nachweisen,
6. den physiologischen Faktor entdecken, dessen Veränderung die Bewegung in der Richtung bestimmt."

Wer die Untersuchungen im einzelnen kennenlernen will, muß den Aufsatz Boses selbst lesen. Hier können wir nur die Hauptergebnisse zusammenfassen. Die Kurve, die die "anbetende Neigung" des Baumes gegen Abend und die Wiederaufrichtung während der Nacht wiedergibt, entspricht ganz genau der Kurve des täglichen Anstiegs und des nächtlichen Rückganges der Temperatur. Natürlich hinkt sie ein wenig nach. Der Leser wird das selbst feststellen, wenn er die Kurven vergleicht, die die Temperaturschwankungen und die Bewegungen der Palme wiedergeben (Abb. 25). Die Untersuchung einer jüngeren und weniger geneigten Palme derselben Art, die in Boses Garten stromabwärts von Kalkutta, 200 Meilen von Faridpur entfernt wuchs, ergab eine noch genauere Entsprechung der Beugungen und der Temperaturschwankungen, zumal man während der Beobachtung ein Zelt über den kleineren Baum spannen konnte, so daß der Wind die Kurvenziehung nicht störte und auch jede denkbare Einwirkung des Wechsels von Sonnenlicht und Dunkelheit ausgeschaltet wurde.

Nun erhebt sich der Einwand: Könnte denn nicht dieser tägliche Rhythmus lediglich eine physikalische Wirkung der Temperatur, und nicht eine physiologische sein? Die Sache wurde dann schließlich durch den unglückseligen Tod des Baumes erledigt, der ein Jahr nach Beginn der Untersuchung eintrat. Bose wurde in aller Form benachrichtigt, "die Palme sei tot, und ihre Bewegungen hätten aufgehört".
Fig. 25. Aufzeichnungen der täglichen Bewegung des Palmenstammes, von Tropaeolum und von einem Palmenblatt. Die obere Kurve zeigt die tägliche Temperaturschwankung.
Fig. 25. Aufzeichnungen der täglichen Bewegung des Palmenstammes, von Tropaeolum und von einem Palmenblatt. Die obere Kurve zeigt die tägliche Temperaturschwankung.

Weitere Versuche ermöglichten Bose den Nachweis, daß bei allen Bäumen und ihren Zweigen ähnliche Bewegungen wie bei dieser Dattelpalme vorkommen18 ). Er konnte weiter die Ursache der Bewegung auf die vereinte Wirkung von Geotropismus und Temperatur zurückführen und bezeichnete die neue Erscheinung als Thermo-Geotropismus. Wenn der Reiz der Schwerkraft auf sie wirkt, streben Stamm, Zweige und Blätter danach, sich entgegen der Schwerkraft aufzurichten, und so wird eine Biegung hervorgerufen. Wärmezunahme vermindert die geotro pische Wirkung und flacht die Biegung wieder ab, während Wärmerückgang sie stärkt. Daher bewegen sich unter dem Einfluß der täglichen Temperaturschwankungen alle Zweige und Blätter in regelmäßiger Wiederkehr auf und ab. Man erkennt das ganz deutlich an den Kurven, die (Abb. 25) die täglichen Bewegungen der Palme, des auf der Erde liegenden Stengels von Tropaeolum und des Palmblattes wiedergeben. In den Tropen fällt der Thermalmittag oder die Zeit der höchsten Temperatur auf etwa 3 Uhr nachmittags, während die Thermal-dämmerung oder das Temperaturminimum ungefähr um 6 Uhr morgens eintritt. Nun sind die verschiedenen Pflanzenteile vom Thermalmittag bis zur Thermaldämmerung ständig in Aufwärtsbewegung begriffen. Die umgekehrte Bewegung setzt nach 6 Uhr morgens ein, und das Maximum an Abwärts ist zur Zeit des Thermalmittags um 3 Uhr nachmittags, erreicht. Mehrere hundert Kurven verschiedener Pflanzen beweisen, daß ihre bislang unerklärten täglichen Bewegungen durch thermogeotropische Einflüsse verursacht werden.

Das Tier durchläuft täglich den Kreislauf der Zustände, die wir als Schlaf und Wachen bezeichnen. Auch die nächtliche Schließung der Blätter gewisser Planzen hat man phantastischerweise Schlaf genannt. Bose stellte fest, wie diese Oeffnungs- und Schließungsbewegungen entstehen, und daß sie keineswegs mit wirklichem Schlaf etwas zu tun haben. Man kann die Frage, ob Pflanzen schlafen oder nicht, in ganz bestimmter Form so stellen: Ist die Reizbarkeit der Pflanze bei Tag und Nacht gleich groß ? Wenn nicht, verliert sie eine Zeitlang ihre Reizbarkeit ? Und wacht sie dann sozusagen wieder zu einem Maximum an Reizempfindlichkeit auf?

Bose löste das Rätsel mittels eines eigens hierfür gebauten Apparates, der die Mimosenpflanze durch elektrischen Reiz stündlich bei Tag und bei Nacht t befragte" und die antwortende Reaktion der Pflanze aufzeichnete. Die Stärke des Ausschlags gibt einen Maßstab für das "Wachsein" der Pflanze während der vierundzwanzig Stunden. Es wurde festgestellt, daß die Pflanze ein Spätaufsteher ist. Erst mittags ist sie völlig munter und bleibt es bis Mitternacht. Dann wird sie allmählich schläfrig, verliert aber ihre Reizempfindlichkeit erst in den Morgenstunden, wo die Erregbarkeit verschwindet, die Pflanze also keine Antwort mehr gibt.

Die Anomalien und Kompliziertheiten der zunächst so undurchsichtigen Pflanzenbewegungen reizten also, wie wir sehen, Bose nur zu immer neuen Anstrengungen. Voller Zuversicht äußerte er sich über die Möglichkeit, die Vielfalt der Erscheinungen zu erklären.

"Unseren Forschungen wird erst da eine Grenze gesetzt, wo unsere Fähigkeit endet, Bewegungen wahrzunehmen und ihre Geschwindigkeit, d. h. ihre Länge und Dauer, zu messen. Ich habe in anderem Zusammenhange gezeigt, wie man mit meinem Registrierapparat noch bis zu 1/1000 Sekunde messen kann. Anderseits können wir mit dem Crescographen Bewegungen in millionenfacherVergrößerung aufzeichnen. Diese Möglichkeiten und die zunehmende Verfeinerung unserer Experimentierweise müssen uns ja ein wesentlich tieferes Verständnis der physiologischen Reaktion im lebenden Organismus erschließen."
Fig. 26. Tageskurve, die die Schwankungen der Empfindlichkeit von Mimosa von 5 Uhr früh bis 5 Uhr früh des nächsten Tages zeigt.
Fig. 26. Tageskurve, die die Schwankungen der Empfindlichkeit von Mimosa von 5 Uhr früh bis 5 Uhr früh des nächsten Tages zeigt.

Sein Vertrauen wurde durchaus gerechtfertigt. Bisher war man der Ansicht, die verschiedenartigen Bewegungserscheinungen der offenbar sehr launischen Pflanzenwelt könnten nicht auf allgemeine Gesetze zurückgeführt werden. Bose aber gelang der Nachweis, daß alle diese Bewegungen - die verwickelten Verschiedenheiten des Wachstums, die Spiraldrehung der Ranken, die Wendung zum Licht und vom Licht weg, sogar die gerade entgegengesetzten Bewegungen der Wurzel und des Schößlings trotz des Einflusses der Schwerkraft - aus zwei grundlegenden Reaktionen hervorgehen: der unmittelbar wirkende Reiz löst Zusammenziehung, der mittelbar wirkende Ausdehnung aus. Nur wenige andere Beiträge zur Pflanzenphysiologie haben so weitreichende Geltung und Bedeutung als dieses große allgemeine Gesetz, das in der Erscheinung "Leben" ebenso hoch zu werten ist wie die umfassende Theorie von der Schwerkraft in der Welt des Stoßes.

XVI. PSYCHOPHYSIK

Wir haben gehört, daß Bose im Jahre 1900 nach England ging, in der Hoffnung, den Physiologen seine Forschungen im Grenzgebiete von Physik und Physiologie vorlegen zu können. Er gedachte nach seiner Rückkehr seine physikalischen Arbeiten, die so zahlreiche neue Möglichkeiten erschlossen, wieder aufzunehmen. Aber die Gegnerschaft der Physiologen spornte ihn zu ganz neuen Untersuchungen an. Seine physikalische Denkweise hatte ihn immer von metaphysischen Spekulationen ferngehalten, und Experimentalpsychologie hatte ihn nicht sehr, wenn überhaupt, angezogen. Allein ganz unerwartete Ergebnisse seiner Forschungen hatten ihn doch zu der Erkenntnis gebracht, daß es auch im Gebiete der Psychophysik bedeutsame Analogien gebe, und diese erzwangen immer mehr seine Aufmerksamkeit, wenn er auch nur widerstrebend darauf einging.

Boses Aufmerksamkeit wurde zuerst durch die besondere Art und Weise der Reaktion verschiedener Formen der von ihm konstruierten "künstlichen Retina" erregt. Er fand, daß der Lichtreiz nicht nur eine direkte, sondern auch noch eine Nachwirkung ausübt, und daß diese bei einem stärkeren Reiz länger anhielt als bei einem schwachen. Sehr spannend schildert er einige Fälle, wo er tatsächlich besser sehen konnte, wenn er die Augen schloß. Einmal wohnte er bei Sir William Roberts-Austen dem Versuch bei, Metalle schnell zu schmelzen, wobei man infolge der Blendung und des dichten Qualms unmöglich erkennen konnte, was im Schmelztiegel vor sich ging. Als er aber die Augen schloß, verschwand zuerst die Nachwirkung des weniger stark leuchtenden Rauchbildes, so daß der Gesichtseindruck des geschmolzenen, brodelnden Metalls auf der Netzhaut immer deutlicher hervortrat.

Unter andauernder Lichteinwirkung waren in der Reaktion der Netzhaut regelmäßig wiederkehrend Schwankungen festzustellen. Als er die entsprechende Erscheinung im menschlichen Sehen bestimmen wollte, entdeckte er "die seltsame Tatsache, daß zwei gesunde Augen im gleichen Augenblick nicht gleich gut sehen, sondern daß die Gesichtseindrücke eines jeden Auges fortwährend schwanken, so daß das Gesichtsbild des einen dem des ändern komplementär ist, wobei die Summe beider immer annähernd konstant bleibt. So wechseln sie im Sehen und im Ausruhen ab". Diese Arbeitsteilung beim Sehen mit zwei Augen hat natürlich naheliegende Vorteile.

Bei seinen Versuchen verwandte Bose ein Stereoskop, in dem statt der Stereoskopbilder eine geschlitzte Platte mit zwei schrägen Einschnitten steckt, auf deren je einen man mit jedem Auge sieht. Hierdurch wird nicht nur der verschiedene binokulare Sehwechsel auf beiden Augen veranschaulicht, sondern zugleich auch die Nachwirkungen. Wenn man durch das Stereoskop auf die Einschnitte blickt, sieht das rechte Auge den rechten, das linke den linken. Die beiden Gesichtsbilder fallen zusammen, und so sieht man ein geneigtes Kreuz. Hält man das Stereoskop gegen den Himmel und blickt eine Weile unablässig auf das Kreuz, so kann man feststellen, daß infolge des oben erwähnten wechselweisen Sehens der eine Arm des Kreuzes verblaßt, während der andere deutlicher hervortritt und umgekehrt. Die abwechselnden Schwankungen der Lichtstärke werden noch viel deutlicher, wenn man die Augen schließt, denn dann machen sich die reinen Nachschwingungen kräftig bemerkbar. Nachdem man zehn Sekunden oder länger durch das Stereoskop geschaut hat, schließt man die Augen. Zunächst sieht man infolge des Rückpralles nur Dunkel. Dann leuchtet zuerst der eine leuchtende Arm des Kreuzes schräg durch das Dunkel und verlöscht langsam wieder, worauf der vom ändern Auge wahrgenommene zweite plötzlich in der den ersten querenden Richtung aufflammt. Bei diesem sich ziemlich lange fortsetzenden Wechsel wird der merkwürdige Eindruck hervorgerufen, als kreuzten sich zwei blitzende Schwerter hin und her. Das regelmäßig wiederkehrende - Nachbild, das zu Anfang sehr deutlich ist, wird bei jeder Wie derholung schwächer, bis schließlich ein Augenblick kommt, wo es schwer zu sagen ist, ob das geschaute Bild tatsächlich noch die Nachwirkung eines starken Reizes oder nur eine gedächtnismäßige Nachwirkung ist. Eine genaue Grenzlinie zwischen beidem gibt es auch tatsächlich nicht, das eine geht einfach in das andere über.

"Die Gesichtseindrücke und ihre Wiederkehr halten oft sehr lange an", sagt Bose. "Gewöhnlich verschwinden die Nachbilder infolge von Ermüdung. Manchmal aber tauchen sie lange nach ihrem scheinbaren Verschwinden ganz unerwartet von selbst wieder auf. In einem bestimmten Falle wurde beobachtet, daß sie drei Wochen nach dem Versuch im Traume wieder erschienen. Daraus kann man entnehmen, daß sich außer den uns bewußten Bildeindrücken auf der Netzhaut viele andere ohne unser Wissen einprägen, die wir nur deshalb nicht wahrnehmen, weil unsere Aufmerksamkeit von anderen Dingen in Anspruch genommen wird. Aber später einmal, wenn der Geist gerade unbeschäftigt ist, können solche Eindrücke kraft des Phänomens der Bildwiederkehr plötzlich neu aufleben. Diese Beobachtung mag eine Erklärung bieten für manche der Erscheinungen, die mit trügerischen Gesichtseindrücken und Halluzinationen zusammenhängen." Bose untersucht dann noch weitere Phänomene, die mit dem "Gedächtnis" in Verbindung stehen.

"Wir können zwei Arten dieser geistigen Wiederbelebung vergangener Eindrücke unterscheiden, die wir Gedächtnis nennen. Bei der einen handelt es sich um das spontane und immer wiederkehrende Auftauchen eines starken Eindruckes, dem wir nicht entfliehen können. Bei dem ändern ist der Eindruck verblaßt, und wir können das schlummernde Bild nur mit einer gewissen Anstrengung wieder beleben. In bezug auf das spontane oder immer wiederkehrende Neuerwachen eines Eindrucks habe ich anderwärts nachgewiesen, daß ein sehr starker Reiz in lebenden Geweben nicht nur zu einer einmaligen, sondern zu zahlreichen oder wiederholten Reaktionen führt. Da nun eine starke Erregung ganz von selbst ohne Anspannung des Willens oder sogar dem Willen entgegen weiterschwingen muß, ergibt sich, daß jeder einzelne Eindruck, wenn er sehr stark war, in automatischer Wiederkehr vorherrschend und dauernd werden kann. Beispiele dafür sind ja allgemein bekannt.

Eine viel interessantere Form von Gedächtnis bietet die Auffrischung eines Eindrucks, dessen Nachwirkung bereits abgeklungen ist. Wir entdecken hier, daß man den Eindruck, auch wenn keine wahrnehmbare Nachwirkung zurückbleibt, doch durch Anspannung oder Anstrengung des Willens wieder wachrufen kann. Es ist wohl klar, daß die Wiederbelebung eines Eindrucks nur möglich ist, wenn man den ursprünglichen Erregungszustand wieder herbeiführen kann, mit ändern Worten, man muß die Wirkung des ursprünglichen Reizes ohne den Reiz selbst erzeugen.

Als anschauliches Beispiel können wir den Gesichtseindruck eines leuchtenden Kreuzes vor einem dunkeln Hintergrund nehmen. Es ist klar, daß der ursprüngliche Reiz im Empfindungsfeld zwei Gebiete verschieden stark erregt. Die eigentlich erregte Fläche hat die Gestalt eines Kreuzes. Alles um sie herum bleibt unerregt. Der Bildeindruck des Kreuzes rührt daher, daß eine bestimmte Fläche des Empfindungsfeldes in höherem Grade erregt wird als ihre Umgebung. Es liegt also auf der Hand, daß wir denselben Zustand der Differentialerregung, der dem Reiz ursprünglich zugrunde lag, reproduzieren müssen, wenn wir dasselbe Bild ohne den ursprünglichen Reiz wieder auffrischen wollen."

Bose weist dann nach, daß unter dem Einfluß des Reizes in der davon betroffenen Oberfläche eine Molekularverzerrung eintritt, die sich nur langsam zurückbildet. Auch ist die Rückbildung nie ganz vollständig. Spuren des Eindrucks, der den Reiz hervorgerufen, bleiben, wenn auch nicht wahrnehmbar, so doch latent zurück. Unter gewissen Bedingungen aber kann man diese unsichtbare Schrift noch einmal sichtbar machen. Bose vermochte auf metallischen Flächen Eindrücke hervorzurufen, von denen auch mit dem Mikroskop keine Spur zu entdecken war, die aber, wenn die Platte einer diffusen Erschütterung ausgesetzt wurde, wiedererwachten. Ebenso bleiben alle durch örtlich begrenzte Wirkung eines Reizes auf die empfindliche Fläche entstehendenEindrücke als latentes Gedächtnisbild schlummernd lebendig. Die räumlich beschränkte Wirkung dieses ursprünglichen Reizes soll den betroffenen Teil des Gewebes reizempfindlicher machen oder in einen besseren Leiter für Erregungen verwandeln. Unter dem Einfluß irgendeiner diffusen Stimulation werden diese potentiell reizempfindlichen Stellen stärker erregt als ihr weniger empfindlicher Hintergrund. So bringen sie die ursprünglichen Bilder neu hervor. Gewöhnlich wird das Gedächtnisbild unter dem diffusen Reiz einer Willensanstrengung wieder geweckt. Hier ist also ein weiteres Forschungsgebiet erschlossen, das vom Metall zu den Pflanzen und bis zum Menschen selbst reicht. Bose schließt: "Durch Nachweis dieses Zusammenhangs haben wir zugleich festgestellt, daß die Grenzen zwischen Physik, Physiologie und Psychologie geschwunden sind."

Damit meint er natürlich die alten überlieferten Grenzen, läßt aber jeder dieser Disziplinen die ihr zukommende Bestimmtheit. Aber während diePhysiker von Anfang an seinenUntersuchungen wohlwollend folgten und auch die schwerer zu überzeugenden Physiologen durch diese und die späteren Veröffentlichungen sich im wesentlichen zur Annahme der Ergebnisse bereitfinden ließen, hat es noch immer den Anschein, als hätten die Psychologen den Anschluß noch nicht recht gefunden. Doch gibt es auch hier rühmenswerte Ausnahmen. So interessierte sich z. B. Rektor Stanley Hall von der Universität Clark so lebhaft für Boses Arbeiten, daß er seine Bücher in sein Verzeichnis psychologischer Lehrbücher aufnahm.

Die Versuche Bergsons und anderer, das "Gedächtnis" zu deuten, werden sich mit dieser abweichenden Erklärung auseinandersetzen müssen, wie auch Bose und Bergson andere Erklärungsversuche, z. B. diejenigen Semons, zu verarbeiten haben. Die Psychologen, Physiologen und Physiker müssen hier auf einem besonders wichtigen Forschungsgebietzusammenarbeiten, zumal ja, wie immer wieder betont wurde, auch das Geheimnis der Vererbung in diesen Zusammenhang gehört. Denn ist sie nicht das organische Gedächtnis der Rasse ?

Da eine psychologische Reaktion in Beziehung stehen muß zu einer ihr zugrunde liegenden physiologischen Veränderung, untersuchte Bose nun die Wirkung eines vom Subminimum bis zum Maximum gesteigerten Reizes. Seine Ergebnisse führen zu einer ganz neuen Prüfung des berühmten Weber-Fechnerschen Gesetzes, das so lange für viele die Grundlage jeder psycho-physischen Forschung war, wenngleich es nicht alle befriedigte. Nach diesem Gesetze muß sich die Stärke eines Reizes in geometrischer Progression steigern, damit die Intensität der psy-chophysischen Reaktion in arithmetischer Progression zunimmt. Nach Webers Gesetz ist die Beziehung zwischen Reiz und Reaktion quantitativ. Er berücksichtigt dabei nicht, daß die Qualität oder das Vorzeichen der Reaktion ebenfalls der Aenderung unterworfen ist. Boses Versuche erbrachten hier bedeutsame Ergebnisse. Die zahlreichen Kurven von lebendigen Geweben ergaben die auffallende Tatsache, daß das Vorzeichen der Reaktion von der Stärke des Reizes abhängt. Infolgedessen ist die Beziehung zwischen Reiz und Reaktion keineswegs so einfach, wie Weber, Fechner und ihre Nachfolger annahmen. Denn Diagramme, die mit Boses feinen Instrumenten aufgenommen wurden, bewiesen, daß ein Reiz, den man früher für subminimal gehalten hatte, in Wirklichkeit sehr beachtenswerte Wirkungen erzielte. Ueberdies löst ein sehr schwacher Reiz eine deutliche Reaktion mit positivem Vorzeichen aus, d. h. Ausdehnung, also genau das Gegenteil von Zusammenziehung, der Reaktion auf gewöhnliche Reize. Fortdauer oder auch mäßige Steigerung eines schwachen Reizes schwächt die Reaktion, bis zuletzt überhaupt keine sichtbare Antwort mehr erfolgt. Aber es handelt sich dabei nicht um den wirklichen Nullpunkt, sondern um ein Gleichgewicht entgegengesetzter Reaktionen. Denn mit einer fortgesetzten Steigerung des Reizes stellt sich die entgegengesetzte gewöhnliche Reaktion ein und steigert sich bis zu ihrem Maximum, wie Weber beobachtete. Die eben verzeichnete neue Beobachtung weist auf eine gewisse Qualitätsveränderung hin, die man bisher nicht vermutet und daher übersehen hatte.

Mit seiner feinen Methode mechanischer und elektrischer Reaktionen entdeckte Bose zwei deutliche Impulse, die unter entgegengesetzten Vorzeichen am leitenden Nerv auftraten, je nachdem der Reiz schwach oder stark war. Ein schwacher Reiz, in einiger Entfernung von dem wie ein zusammenziehbarer Muskel reagierenden Gelenkpolster der Mimose erzeugt, löst einen Impuls aus, der eine positive oder Ausdehnungsreaktion hervorruft, so daß sich das Blatt aufrichtet. Ein starker Reiz aber löst einen Impuls aus, der genau entgegengesetzte Reaktionen hervorbringt, nämliche Zusammenziehung, wobei das Blatt sich senkt. Die Wirkungen schwacher und starker Reize sind also nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verschieden, da sie unter verschiedenen Vorzeichen stehen. Bose kam mit seiner elektrischen Untersuchungsmethode zu denselben Ergebnissen: schwache Reize rufen positive, starke aber negative Ausschläge hervor.

Mäßig schwache Reizung bewirkt Zunahme der Energie. Außerordentlich starke Reizung aber setzt sie herab. Zwischen diesen beiden Gegensätzen gibt es natürlich eine Fülle von Uebergängen, wo dieses oder jenes vorherrschen mag. Alles aber, was die tonischen Bedingungen hebt, bedeutet Wohl und Gesundheit des Organismus und hat positive Vorzeichen, und umgekehrt gilt natürlich genau das gleiche. Von den beiden Empfindungstönen hängt mit dem Positiven alles das zusammen, was angenehm oder nicht schmerzend ist, mit dem Negativen alles Unangenehme oder Schmerzende. Für diese Folgerungen sprechen verschiedenartige Versuche wenigstens in typischen Fällen, was "versöhnlich wirken dürfte auf die Verfechter der Ansicht, daß einerseits die motorische Reaktion der mentalen sekundär beigeordnet, anderseits aber Empfindung nur eine Begleiterscheinung reflexmäßig hervorgebrachter Bewegung sei", oder was mit anderen Worten einen Vergleich zwischen der allgemeinen Ansicht und der Lange-Jamesschen Theorie herbeizuführen geeignet ist.

Daß die verschiedenen Gefühlstöne physikalische Begleiterscheinungen entgegengesetzter Art haben, bestätigt auch Münsterberg, der annimmt, daß "angenehme Empfindungen die geistige Begleiterscheinung und Folge von reflexmäßig erzeugten Ausdehnungsbewegungen seien, unangenehme Empfindungen aber diejenigen von Biegungsbewegungen. Jeder hat schon beobachtet, wie aufgeplustert und rund der Umriß eines schnurrenden Kätzchens ist, das man sachte streichelt und wie sich Verhalten und Aussehen plötzlich ändern, wie es sich zusammenzieht, buckelt und schließlich aufspringt, wenn man es zwickt oder stößt.

Bose verwandte seine so feinen Untersuchungsmethoden nächstdem, um die Eigenarten des nervösen Impulses zu bestimmen, der allen Empfindungen zugrunde liegt. Er begann mit den einfachsten Formen von Nervengeweben bei Pflanzen, wie der Mimose. Zur Feststellung der Geschwindigkeit des nervösen Impulses und seiner Veränderung benutzte er seinen Resonanzregistrierapparat, da der automatische Meßapparat ihm genaue Messungen bis zu 1/1000 Sekunde ermöglichte. Er wies nach, daß der Tiernerv keine physiologischen Eigenschaften besitzt, die sich nicht auch beim Pflanzennerv finden. Die verschiedenen physiologischen "Hemmungen", die der tierische Nerv kennt, machen sich auch bei dem entsprechenden pflanzlichen Impuls geltend. Mittel, die den nervösen Impuls beim Tier beschleunigen, steigern ihn auch bei der Pflanze. So verdoppelt unter normalen Verhältnissen eine Wärmesteigerung um etwa 9 C die Geschwindigkeit im tierischen wie auch im pflanzlichen Nerv.

Weiter bestimmte Bose die Latenzperiode oder Zeit, die bis zur Reizwahrnehmung durch das zusammenziehbare Gewebe der Mimose verstreicht. Die Latenzperiode der Mimose liegt, wie schon bemerkt, 0,076 Sek. oder 1/8 unter dem bei einem kräftigen Frosch errechneten Wert. Selbstverständlich kann uns, die wir wissen, daß der Unterschied zwischen Pflanze und Tier gradmäßig, nicht aber artmäßig ist, die langsamere Reaktion der Pflanze nicht überraschen. Unsere Wahrnehmungsgeschwindigkeit läßt bei Ermüdung nach. Ganz parallel ist der Verlauf bei der Pflanze.

Boses weitere Untersuchungen ergaben wieder sehr bedeutende Einblicke in die Fähigkeit eines Reizes, sich selbst einen Leitungsweg zu bahnen. Eine Pflanze, die man unter Glas sorgfältig vor den aufreizenden Einflüssen der Elemente schützt, sieht zwar gepflegt und kräftig aus, ist in Wirklichkeit jedoch schlaff. Ihre Leitungsfähigkeit erweist sich als noch unentschieden. Gehen aber eine Reihe von Erschütterungen auf solch kraft- und saftloses Exemplar nieder, so schaffen sich die Stöße selber Nervenkanäle und beleben die geschwächte Natur aufs neue. "Auch wahre Männlichkeit wird ja nicht durch Wattepackungen erlangt, sondern durch Schicksalsstöße. So sehen wir, wie der Organismus durch seine Umgebung gestaltet, wie ein Organ tatsächlich durch gehäufte Reizwirkung geschaffen wird." Diese Entdeckungen beweisen, daß der nervöse Impuls bei der Pflanze dieselben Charakteristika hat wie beim Tier, und daß die Erforschung einfacher Lebensformen zugleich das Verständnis der verwickeiteren fördert.

Da die Empfindung von der Stärke der übermittelten Erregung abhängt, fragte sich Bose weiter, ob es wohl möglich sei, die Stärke des nervösen Impulses nach Belieben zu kontrollieren. Er betrat damit ein ganz neues Forschungsgebiet, begann damit vielleicht das kühnste seiner Unternehmen. Bei Gefühlswahrnehmungen kann man zwei äußerste Fälle in Betracht ziehen: entweder ist der äußere Reiz zu schwach, als daß der durch ihn ausgelöste Impuls wahrgenommen werden könnte. (In diesem Falle würden wir eine Steigerung der Leitungsfähigkeit des die Botschaft übermittelnden Nervs anstreben, wodurch wahrnehmbar würde, was sonst unter der Wahrnehmbarkeitsschwelle bleibt.) Oder es kommt ein außergewöhnlich starker äußerer Reiz zustande, der durch Art und Heftigkeit eine unerträglich schmerzhafte Empfindung auslöst. Könnte man eine derartige Botschaft völlig sperren, indem man den nervösen Impuls während des Durchgangs aufhält? Bose stellt das Problem mit folgenden Worten:

"Es besteht eine scheinbare Aehnlichkeit zwischen der Weiterleitung eines elektrischen Impulses durch einen metallischen Leiter und dem eines erregenden Nervenimpulses durch einen Nervleiter. Beim Metall ist die Leitungsfähigkeit konstant, und der elektrische Impuls hängt von der Stärke der angewandten elektrischen Kraft ab. Wäre nun die Leitungsfähigkeit des Nervs auch konstant, so würde doch immer die Stärke des Nervenimpulses und des daraus entstehenden Gefühlseindruckes unvermeidlich von der Stärke des den Impuls auslösenden Reizes abhängen. In diesem Falle wäre es unmöglich, unsern Gefühlseindruck zu modifizieren. Aber es wäre doch auch denkbar, daß die Leitungsfähigkeit eines Nervs nicht konstant ist, sondern sich ändern kann. Sollte diese Annahme zutreffen, dann stehen wir vor der bedeutsamen Schlußfolgerung, daß der Gefühlseindruck selbst veränderlich ist, welches auch der äußere Reiz sein möge. Für die Veränderungen des Nervenimpulses gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: entweder muß die Leitungsfähigkeit des Mittlers wesentlich verbessert, oder er muß, je nach den besonderen Erfordernissen, in einen Nichtleiter verwandelt werden. Wir wünschen für die Nervenstränge eine überfeine Leitungsfahigkeit, damit der von unterminimalen Reizen ausgelöste Impuls noch wahrnehmbar wird. Ist anderseits der äußere Reiz zu heftig, so möchten wir den schmerzverursachenden Impuls abstellen, indem wir die Leitungsfähigkeit des Nervs ausschalten.

Betäubungsmittel lahmen den Nerv, und wir können uns durch ihre Anwendung vor Schmerzen bewahren. Aber zu solchen Maßnahmen darf man nur in äußersten Fällen greifen, wie bei Operationen. Im täglichen Leben stellen sich die Unanehmlichkeiten ein, ohne sich vorher anzukündigen. Ein Fernsprechteilnehmer hat den offenbaren Vorteil, die Verbindung unterbrechen zu können, wenn das Gespräch unangenehm wird. Nicht jedermann aber hat den Mut Herbert Spencers, sich die Ohren zu verstopfen, wenn ein Besucher lästig wird."

Bose prüft dann besonders die' Eigenschaften des Nervenimpulses. Ein Reiz ruft in dem erregbaren lebenden Gewebe eine molekulare Störung hervor, und die Ausbreitung des Nervenimpulses ist nichts anderes als eine Weiterleitung der molekularen Störung von Punkt zu Punkt. Beides, die Störung und ihre Weiterleitung, kann man sich sehr leicht unter folgendem Bilde vorstellen: Eine Reihe Bücher, deren äußerstes rechtes einen Stoß bekommt, würde nach links umfallen, indem nacheinander eines das andere umwirft. Stehen die Bücher schon vorher nach links geneigt, so genügt schon ein schwacher Stoß, sie völlig umzuwerfen und die Geschwindigkeit der Weiterleitung zu steigern. Eine Neigung nach der anderen Seite aber würde die Bewegung verlangsamen oder ganz einhalten. So kann man durch Einschalten einer Richtungskraft in dem betreffenden Organismus Voraussetzungen schaffen, die den übermittelten Reiz beschleunigen oder hemmen. So ähnlich, stellte Bose sich vor, ließen sich vielleicht entgegengesetzte Reaktionen polarer Art entdecken, durch die man in einem Nerv molekulare Dispositionen hervorrufen könne, die die Weiterleitung eines nervösen Impulses steigern oder hemmen könnten.

Ob man auf diese Weise Nervenimpulse willkürlich beeinflussen kann, mußte durch den Versuch erwiesen werden. Kann man einem Nerv molekulare Dispositionen beilegen, durch die seine Leitungsfähigkeit entsprechend gesteigert oder ausgeschaltet wird?

Bose vermochte seine theoretischen Vorwegnahmen zwingend zu beweisen, indem er elektrische Kraft polarer Art anwandte. Er gab einem Pflanzennerv eine günstige molekulare Disposition. Darauf löste ein schwacher, vorher unter der Wahrnehmungsschwelle gebliebener Reiz eine außerordentlich starke Antwort aus. Umgekehrt wurde eine sehr starke Erregung während des Durchgangs angehalten, indem man im Nervengewebe eine entgegengesetzte Disposition hervorrief. Der Höhepunkt wurde erreicht, als es Bose gelang, auf ähnliche Weise den Nerv eines Tieres ganz nach seinem Belieben überstark leitend und überhaupt nicht leitend zu machen. So reagierte der Versuchsfrosch unter bestimmter Molekulardisposition des Nervs schon auf einen Reiz, den er bisher überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Bei entgegengesetzter molekularer Disposition wurde der heftige Krampf bei Salztetanus sofort gestillt. Sobald die Richtungskraft wieder ausgeschaltet wurde, gewann der Nerv wieder seine normale Beschaffenheit.

So vermochte Bose versuchsmäßig nachzuweisen, daß man einem Nerv zwei verschiedene "Molekulardispositionen" mitteilen kann, die den nervösen Impuls hemmen oder fördern. Und wir können dadurch jetzt das Wesen verschiedener uns längst bekannter Phänomene verstehen, z.B., daß Aufmerksamkeit die Wahrnehmungsfähigkeit steigert. Derart wird auch der Einfluß der Suggestion verständlich. Am wichtigsten aber ist für uns die Macht der Autosuggestion oder der Willenskraft. Wer kann genau sagen, was diese durch Uebung und Sammlung gesteigerte Willenskraft ist? Am Schluß eines Boseschen Vertrages finden wir folgende Stelle über die im Menschen schlummernden Möglichkeiten, sich siegreich zum Herrn der äußeren Umstände zu machen :

"Bei der Bestimmung der Sinneseindrücke kann der innere Willensantrieb eine ebenso bedeutende Rolle spielen, wie der Anstoß von außen. Und so kann durch die innere Kontrolle der Molekulardisposition des Nervs die Art des folgenden Gefühlseindrucks tiefgehend beeinflußt "werden. Also ist das Aeußere nicht von so überwältigender Bedeutung und der Mensch ist nicht länger dem Schicksal ausgeliefert. Es schlummern in ihm Kräfte, die ihn über die Schrecken seiner feindlichen Umgebung emporheben können. In seiner Hand liegt es, die Pforten, die die Außenwelt zu ihm einlassen, zu öffnen oder zu schließen. Damit wäre er auch in der Lage, unbestimmte Einwirkungen, die bisher verwehten, ohne von ihm wahrgenommen zu werden, aufzufangen. Oder er kann sich in sich selbst zurückziehen, so daß in seinem innern Reich die Mißtöne und der Lärm der Welt ihn nicht mehr stören können."

XVII. FREUNDSCHAFT UND PERSÖNLICHKEIT

Obgleich Eltern, Verwandte und häusliche Umgebung in Osten und Westen für jedes Leben von größter Bedeutung sind, ist es doch eine alte und anerkannte Beobachtung der vergleichenden Psychologie, daß diese Einflüsse im östlichen System der Gemeindefamilie viel tiefer und nachhaltiger wirken, als in den kleineren und individuelleren Familiensystemen des Westens in ihrer Zerstreuung. Wenn also auch jedes glücklich gebildete und schöpferische Leben ehrlich und dankbar die frühesten gestaltenden Einflüsse erkennen dürfte, ist man doch im Osten geneigt, ihrer häufiger und bewußter zu gedenken. Sie treten ja auch nachhaltiger hervor. So war Persönlichkeit und Beispiel des Vaters mit aller unendlichen Fülle von Betätigung und kühner Unternehmungslust für Bose sein Leben lang ein starker Antrieb und eine ständige Ermutigung. Die innige Liebe seiner Mutter, die er herzlich erwiderte, stand dem kaum nach. Daß sie entgegen der Entscheidung des Familienrats ihrem Sohne das Studium in England ermöglichte, scheint die auffallendste Auswirkung ihrer stillen, zielbewußten Führung gewesen zu sein. Die Eltern lebten, nachdem der Vater sich vom Amt zurückgezogen hatte, beide bis zu ihrem Tode bei ihrem Sohne. Der Vater starb mit zweiundsechzig Jahren, als Bose zweiunddreißig Jahre alt war, die Mutter etwa ebenso alt zwei Jahre später. Boses älteste Schwester, die spätere Frau A. M. Bose, war ihm die unzertrennliche Freundin und Gefährtin seiner Kindheit. Und daß auch ihr Einfluß ihm förderlich gewesen sein muß, beweisen nicht nur schriftstellerische Leistungen ihrer reifen Jahre, sondern auch ihre scharfe Naturbeobachtung. Auf ihrem Landsitz Fairy Hall bei Dumdum außerhalb von Kalkutta lenkte sie die Aufmerksamkeit ihres Bruders auf die sonderbaren Bewegungen der Biophytumblättchen, was zu der Entdeckung der mehrfachen Reaktion und ihres Zusammenhanges mit der selbsttätigen Reaktion der Telegraphenpflanze führte.

Auch ihr Gatte, Ananda Mohun Bose, wirkte sehr stark auf seines Schwagers Leben. Boses jüngere Schwestern waren ebenfalls geistig lebendige Menschen, jede auf ihre Art. Der Sohn der einen trat in die Fußtapfen seines Onkels und ist bereits ein erfolgreicher Erforscher der Radioaktivität.

Am stärksten beeinflußte Bose seit seiner Jugendzeit, also schon fünfunddreißig Jahre lang, natürlich seine Lebensgefährtin. Sie ist wissenschaftlich gebildet, da sie vier Jahre lang Medizin studierte. Zu ihrem großen Glück hatte sie gelernt, geschickt und sparsam hauszuhalten, was ihr sehr zustatten kam, so lange die Geldmittel knapp waren und zur Tilgung der Familienschulden sehr gespart werden mußte. Aber sie war dennoch nie nur Hausfrau, stets nahm sie lebhaft Teil an allen Kulturfragen. Sie bewies nicht nur ein feines Verständnis für die vielseitigen wissenschaftlichen Fragen und Arbeiten ihres Gatten und herzliche Gastfreundschaft gegenüber seinen Schülern und Freunden, sondern teilte auch alle seine Sorgen und Schwierigkeiten und erleichterte sie ihm nicht wenig. Für sein leidenschaftliches Temperament - das in jüngeren Jahren oft aufloderte und auch heute noch leicht erregbar ist - waren ihre unentwegte Heiterkeit und ihr stets froher Mut eine unschätzbare, immer wache Hilfe. Die Pilgerfahrten durch Indien und die Reisen nach Europa und Amerika machten sie immer gemeinsam, und ihr einziger großer Kummer, der Verlust des einzigen Kindes in frühester Jugend, hat sie nur noch enger verbunden. Bose hat mit dieser Lebensgefährtin ein seltenes Glück gefunden. Wenn er auch im großen und ganzen immer gesund war, so mußte er doch hie und da einmal in Krankheiten gepflegt werden. Seine Frau sicherte die Stetigkeit seiner geistigen Arbeit. Sie tröstete ihn in den Zeiten der Prüfung, Not und Niedergeschlagenheit, die langen Jahre der Armut und Entsagung trug sie freudig mit und erleichterte sie, wo sie nur konnte. Jeder Freund oder Biograph Boses muß anerkennen, welch gro ßer Anteil an der schöpferischen Leistung und am Erfolg seines Lebens dieser Frau zukommt.

Die Vorteile der Ehelosigkeit für das geistige Leben sind so lange in Ost und West betont und genutzt worden, daß auch solche, die in Leben und Beruf die noch größeren Vorzüge des Hausstandes erfuhren, einmal Zeugnis ablegen sollten. Und daß für das Weib wie für den Mann solche hingebende Kameradschaft wohl vereinbar ist mit Leistungen und Wirkungen über den Rahmen der Häuslichkeit hinaus, das beweist das Leben einer solchen Frau. In ihrer Leitung der Verwaltung der außerordentlich leistungsfähigen Mittelschule für Mädchen, die ihrem Hause in Kalkutta gegenüberliegt, erweist Lady Bose sich als der Tätigkeit ihres Gatten in der Leitung seines Institutes ebenbürtig.

Bevor wir zu Boses heute noch bestehenden Freundschaften übergehen, müssen wir seine Ansichten über das Leben und seine unmittelbaren Pflichten kennenlernen. Auf seine früheste Kindheit machten, wie wir schon sahen, die Ueberlieferungen der Heldenzeit des alten Indien tiefen Eindruck, und er glaubt heute noch unerschütterlich, "daß die Hingegangenen in einer edleren Zukunft durch die Wirkungskraft ihres Lebens wieder geboren werden". Er wird ungeduldig, wenn er oberflächlich von Internationalismus schwatzen oder den Segen der Entsagung rühmen hört. Denn niemand habe ein Recht, von Internationalismus zu reden, so lange Indien sich nicht wieder als selbständige Nation durchgesetzt habe. Ueber Entsagung aber denkt er folgendermaßen : "Der Schwächling, der dem Kampfe ausweicht, hat nichts gewonnen und besitzt nichts, worauf er verzichten könnte. Nur wer gekämpft und gesiegt hat, kann die Welt bereichern, indem er die Früchte seiner siegreichen Erfahrungen weiterschenkt." Bose empfand es immer als Pflicht des Starken, die Last zu tragen, und zog bewußt den schwierigeren Weg dem leichten Pfad vor. Das galt ihm als wahrhaft nationale Betätigung. Mit dieser Ueberzeugung verband sich eine andere, nicht weniger gebieterische. Seine Arbeiten hatten ihm die Geltung eines seltsamen Gesetzes vom Kreislauf aller Dinge geoffenbart: wie Trägheit in höchste Tätigkeit übergeht und wie dieser Höhepunkt dem Umschlag in das Gegenteil bedenklich nahekommt. Wenn wir uns auf die höchste Spitze erhoben haben, stürzen wir durch ein kleines Versehen in den Abgrund. Die Menschen haben ihr Leben darum gegeben, um die Wahrheit durchzusetzen. Dann kommt ein Wendepunkt, wo die Güter der Weisheit selbst jeden weiteren Fortschritt verhindern. Wer für die Freiheit eintritt, schlägt sich selbst und andere in Sklavenketten, und Vaterlandsliebe entartet oft in die schlimmste Form von Tyrannei. Er gelobte sich, nie dürfe seine Liebe zu Indien seiner umfassenden Liebe zur Menschheit im Wege stehen. Und in dieser Zeit seines Lebens wurden ihm zwei große Freundschaften geschenkt, die alle seine letzten Zweifel stillten und ihm ermöglichten, die Einheit alles menschlichen Strebens ganz klar zu erkennen. Im Jahre 1899 kamen Frau Öle Bull und Fräulein Margaret Noble (Schwester Nivedita), die viel von Boses Entdeckungen gehört hatten, in sein Laboratorium. Sie wollten soviel wie nur irgend möglich lernen. Die wechselseitige Freude aneinander, die an jenem Tage keimte, entfaltete sich zu einer tiefen Freundschaft, die erst der Tod löste. Frau Öle Bull, eine Amerikanerin, war die Witwe des großen norwegischen Geigers, der eine Generation von Dichtern und Musikern - Ibsen, Björnson, Grieg und andere - dafür entflammte, ganz Europa für ihr Heimatland und für sich selbst zu gewinnen. Sie wurden während ihres kurzen Aufenthaltes in Kalkutta 1899 schnell miteinander bekannt, und Frau Bull drang in Boses, sie einmal in Amerika zu besuchen. Nach dem Internationalen Kongreß in Paris brach Bose 1900 unter dem Einflüsse der anstürmenden Sorgen gesundheitlich völlig zusammen. Es stand sehr schlimm mit ihm. Als Frau Bull das hörte, kam sie vom Festland nach England herüber, besorgte ihm einen tüchtigen Arzt und half ihn wieder gesund pflegen. Von nun an waren Sie die besten Freunde und Bose fand in ihr noch einmal alle die wundervollen Eigenschaften seiner eigenen Mutter wieder. Als Boses 1907 nach Amerika kamen, war Frau Bulls Haus ihnen Heimat und Standort für die Reisen nach den verschiedenen Universitäten. Hier lernten sie auch Frau Bulls Bruder, J. G. Thorp, kennen, einen sehr einflußreichen und geachteten Bürger Bostons und seine Frau, die Tochter Longfellows. Als sie nach Frau Öle Bulls Tod 1914 Amerika ein zweites Mal besuchten, waren sie bei Herrn Thorp zu Gast, von dessen Haus aus sie neue Beziehungen zu den führenden Persönlichkeiten Bostons und Harvards anknüpften.

Die jüngste Freundschaft, aber in gewisser Hinsicht vielleicht die allerbedeutsamste, führte Bose mit Margaret Noble zusammen, besser bekannt als Schwester Nivedita, als Mitglied des Ramakrishnaordens, der von Swami Vivekananda zur Lösung verschiedener sozialer und erzieherischer Aufgaben gegründet worden war. Niveditas Interessen waren viel zu umfassend und verschieden und ungestüm, als daß sie sich nur auf einen engen Pflichtenkreis oder ein Lehrsystem begrenzen ließen. Sie erkannte sofort die Bedeutung von Boses Werk für die Wissenschaft im allgemeinen und für die Belebung wissenschaftlicher Arbeit in Indien im besonderen. Nach seiner schweren Erkrankung fand Bose zur Erholung bei Niveditas Mutter in Wimbledon ein Heim, und Frau Bose genoß später, als sie erkrankte, dieselbe Gastfreundschaft, so daß die beiden Familien, auch das jüngere, nachwachsende Geschlecht, eng und für immer miteinander verbunden wurden.

Der Idealismus des Denkens und Lebens, den Nivedita in sich verband, wurde durch Boses Entdeckungen und seine [damaligen Kämpfe zu voller Begeisterung gesteigert. Sie glaubte unerschütterlich an die Vollendung des Forschungsinstituts, von dem er so lange schon träumte, an dessen wissenschaftliche Möglichkeiten und unabsehbare Bedeutung, für Indien. Das drängte und ermutigte ihn immer wieder, es zu verwirklichen. Daran soll wohl das Relief des Gedächtnisbrunnens, der den Eingang zum Institut ziert, erinnern: eine Frau, die Licht zum Tempel bringt.

Nivedita erlebte die Grundsteinlegung des Instituts nicht mehr. Die Ueberanstrengung im Dienste derer, unter denen sie lebte, führte 1911 ihren frühzeitigen Tod herbei. S. K. Ratcliffe schrieb in einem von ihm herausgegebenen Gedächtnisbuche über Nivedita : "Alle, denen das adelnde Geschenk ihrer Freundschaft zuteil wurde, gedenken dessen als der größten Gnade dieser Welt". Frau Bose, die sehr unter dem Verlust ihrer Freundin litt, schrieb: "Ich lernte sie in ihrem Alltag kennen, als eine Frau voll Strenge gegen sich selbst, erfüllt von Sehnsucht nach Gerechtigkeit, von der sie wie von einer reinen Flamme umleuchtet war. Andere werden sie als die große sittliche und geistige Kraft kennen, die uns in Zeiten schwerer nationaler Not geschenkt wurde."

Wenden wir uns nun zu Boses Freunden, so steht als größter und nächster der Dichter Rabindranath Tagore in vorderster Reihe. Als Bose 1896 von seinem erfolgreichen Besuch Europas zurückkehrte, besuchte ihn Tagore, um ihm Glück zu wünschen. Da er Bose nicht zuhause traf, legte er als geeignetes und sprechendes Sinnbild seiner Verehrung eine große Magnolienblüte auf seinen Schreibtisch. Seit jener Zeit kamen sie sich immer näher. Jeder ergänzte und weitete und vertiefte dadurch die besondere Natur- und Lebensanschauung des anderen und regte ihn zu immer neuen Aeußerungen an. Als der Dichter Bose einmal einlud, für einige Zeit als Gast in sein Haus zu Silaida am Padmafluß zu kommen, erbat sich Bose, indem er die Einladung annahm, die umfassendste und weitestgehende Gastlichkeit, die sein Freund ihm gewähren konnte : er solle jeden Tag eine neue Geschichte schreiben und sie ihm des Abends vorlesen. So entstand eine Reihe der schönsten kleinen Erzählungen Tagores.

Wenn auch Tagore damals schon der erste Schriftsteller Indiens war, kannte man ihn doch in Europa noch nicht, und Bose bedauerte sehr, daß der Westen keine Gelegenheit fand, die Größe seines Freundes zu erkennen. Als er 1900 England zum zweiten Male besuchte, übersetzte er eine Erzählung seines Freundes, den "Kabuliwalla" ins Englische. Fürst Kropotkin, ein sehr kritischer Kenner von Schrifttum und Wissenschaft, bezeichnet sie als eine der ergreifendsten Geschichten, die er je gelesen habe. Sie erinnere ihn an die größten Dichter seiner eigenen Heimat. Bose bot die Uebersetzung Harpers Magazine an, sie wurde aber abgelehnt, weil der Westen noch keinen rechten Sinn für das Leben des Ostens hatte. Die Zeit war noch nicht reif.

Wenn auch das Bengalischrifttum bis jetzt in Tagore seinen größten Vertreter gefunden hat, so hatte er doch Vorgänger. Auch unter den jüngeren Zeitgenossen sind manche vielversprechenden Schriftsteller. Zu diesen sehr tätigen literarischen Kreisen hatte Bose immer die herzlichsten Beziehungen. Einige Jahre lang war er sogar Vorsitzender der Parishad, der Akademie für Bengaliliteratur. Außerdem ist er Vorsitzender einer anderen bedeutenden Einrichtung, der Ram Mohan-Bücherei. Diese Vereinigung veranstaltet regelmäßige Vorträge zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnis in volkstümlicher Form. Der jetzt immer erfolgreicheren und anerkannteren Malergruppe Gaganendranath und Abanindranath Tagores und ihrer Schüler, die ihr Teil zur Wiedergeburt Bengalens beitragen und Kalkutta immer mehr zu einem lebendigen Mittelpunkt machen, der den größeren europäischen Kulturstädten entspricht, - gehört seit langem Boses wirksamste Teilnahme. Sein Arbeitszimmer birgt einen bemerkenswerten Fries aus dem "Mahabharata" von Nanda Lal Bose, und den anschließenden Vortragssaal des Instituts hat derselbe Künstler mit einem sinnbildlichen Gemälde "Das Suchenc geschmückt.

Von seinen wissenschaftlichen Freunden möge besonders der Chemiker Sir P.C.Ray erwähnt werden. Als er von seiner Studienzeit aus Edinburg zurückkehrte, wurde er in Boses Haus herzlich aufgenommen. Der Geist engherzigen Ressortpartikularismus, der es einem Inder unmöglich machte, einen verantwortlichen Posten im Bildungswesen zu bekommen, stand damals in vollster Blüte. Aber Bose, der höflich, aber wenn es um Grundsätzliches geht, auch kampflustig für seine Freunde eintritt, gelang es, das Widerstreben der Behörde zu beheben, die keinen zweiten Inder als wissenschaftlichen Lehrer im Presidency College anstellen wollte. In langer, gemeinsamer Berufsarbeit wuchsen die beiden Männer auch als Freunde immer mehr zusammen. Boses nachdrückliches Eintreten für Rays Fähigkeiten und vielversprechendes Können wurde seitdem in reichstem Maße gerechtfertigt durch dessen hohe Wertschätzung seitens anderer Chemiker und durch die Erfolge seiner Schüler.

Bose war auch in herzlichster Freundschaft verbunden mit den Führern der Bildungs-, der sozialen und politischen Bewegungen, von denen vor allem der verstorbene G. K. Gokhaie und M. K. Gandhi erwähnt seien. Vor allem aber muß hier der Name seines ärztlichen Rates und Freundes, Sir Nilratan Sircar, des ersten Arztes in Kalkutta genannt werden. Neben seinem Beruf förderte dieser die Sache der höheren Bildung so eifrig, daß die indische Regierung ihn zum Vizekanzler der Universität Kalkutta wählte. Er und Bose wohnen in Kalkutta nicht weit voneinander, in Darjeeling Tür an Türe. Sir Nilratans Entschlossenheit und Geschicklichkeit verdankte Bose mehr als einmal sein Leben, und sein leidlicher Gesundheitszustand ist auf die Wachsamkeit des Freundes angewiesen.

Seine zahlreichen Schüler mögen hier auch erwähnt werden. In einer seiner Reden äußert er sich folgendermaßen über sie : "Vielleicht als Lohn für jahrelange Mühe finde ich heute über ganz Indien verstreut Männer, die einst meine Schüler waren und jetzt verantwortungsvolle Vertrauensposten verschiedenster Art bekleiden. Ich zähle dazu nicht nur rühm- und erfolggekrönte, ich meine auch viele andere, die den Lebenskampf mannhaft auf sich nehmen und deren reines selbstloses Wirken manches leidgeplagte Leben mit Freude erfüllt hat."

Man könnte noch manches von Freunden in Europa und Amerika erzählen, denn es sind deren viele. Und es muß ihm besondere Genugtuung gewähren, daß er auch aus der Reihe seiner ehemaligen Gegner eine ganze Anzahl sich zu treuesten Freunden gemacht hat.

In Anerkennung seiner einzigartigen, der Wissenschaft geleisteten Dienste hat die kaiserliche Regierung ihn wiederholt bei verschiedenen Gelegenheiten ausgezeichnet. Daß damit der Staat zum ersten Male die Bedeutung indischer Beiträge zur Förderung der Wissenschaft der ganzen Welt anerkannte, hat bei Boses Landsleuten lebhafte Befriedigung ausgelöst. Man kann sich auch für den Wechselverkehr und das ständig wachsende Verständnis zwischen Ost und West keinen besseren Vermittler denken, als Boses voll entfaltete indische Persönlichkeit, die das Beste der Kultur der ganzen Welt in sich verarbeitet hat.

Bose hätte 1913, als er fünfundfünfzig Jahre alt wurde, von seinem Posten zurücktreten müssen. Aber die bengalische Regierung verlängerte seine Dienstzeit um zwei Jahre in Anerkennung seiner Leistungen im Presidency College und seines großen Einflusses auf die Studenten, so daß er erst im November 1915 in den Ruhestand trat. Als weitere Anerkennung ernannte ihn die Regierung zum Professor emeritus mit vollem Gehalt statt Pension, eine im Bildungswesen Indiens bisher ganz einzigartige Auszeichnung. So war auch für die Zukunft seine Verbindung mit dem Presidency College gesichert, dessen Bedeutung er so wesentlich gefördert hat. Außerdem wurde er geadelt und zum Mitgliede des Sterns von Indien ernannt.

Die meisten Menschen würden unter so erfreulichen Bedingungen Ehrung und Vorteile als gebührende Belohnung für ihre unermüdlichen Anstrengungen annehmen und sich für berechtigt halten, sich die Muße des Ruhestandes zu gönnen. Bose machte es anders, denn er hatte sein Ziel noch nicht erreicht. Man braucht nur daran zu denken, wie oft in seinem Leben seine Bemühungen, ein Forschungslaboratorium zu errichten, dem Ziel nahe schienen, und wie jedesmal wieder etwas dazwischen kam, um die Ironie des Schicksals zu verstehen, die darin lag, daß er in den Ruhestand treten sollte, als eben das reich ausgestattete Laboratorium für sein College erbaut werden sollte. Nun war es natürlich für die Fortführung seiner Forschungen zu spät. Aber all diese Enttäuschungen steigerten nur Boses Entschlossenheit, seinen eigenen Plan zu verwirklichen. So arbeitete er mit unermüdlicher Kraft in den zwei Jahren nach seinem Rücktritt vom Amte, um das Forschungsinstitut bis ins Letzte zu durchdenken, zu bauen und einzurichten. Seine eigenen Forschungen wurden darüber freilich nicht unterbrochen, nur führte er sie in seinem Sommerhause zu Darjeeling durch, und in Sijberia am Ganges, zwanzig Meilen abwärts von Kalkutta, wo er einen hübschen kleinen Bungalow und baumum-rauschten Grund besitzt, ruhig und malerisch an der Vereinigung eines kleinen Flusses mit dem großen Strom gelegen. Aber gerade solch eine persönliche Arbeitsstätte verlangte nur noch gebieterischer nach der Schöpfung des langgeplanten Forschungsinstitutes.

Endlich, - an seinem neunundfünfzigsten Geburtstag, dem 30. November 1917 konnte er es eröffnen, im Gedächtnis und in Wiederholung seines vor dreiundzwanzig Jahren abgelegten Forschergelübdes. Wenn auch Bose durch seine Reisen nach England und anderen europäischen Ländern in außergewöhnlichem Grade ein Weltbürger geworden war, so blieb doch seine grundsätzliche Haltung dem Leben und dem Wissen gegenüber immer echt indisch, voll der edlen Begeisterung, die im letzten immer Dienst an der Menschheit meint. Sein Ziel und seinen Weitblick kennzeichnet wohl am besten seine Antrittsrede, die wir im nächsten Kapitel wiedergeben.

XVIII. DIE WEIHEREDE VON J.C.BOSE

Ich weihe heute dieses Institut ein. Es soll nicht nur ein Laboratorium, sondern ein Tempel sein.

Mit Hilfe der physikalischen Arbeitsweise vermögen wir die Wirklichkeit festzustellen, die wir unmittelbar durch unsere Sinne wahrnehmen können oder, infolge der ungeheuren Ausdehnung des Wahrnehmbaren mittels künstlich geschaffener Organe. Wir fangen aber selbst noch die schwingende Botschaft des Unhörbaren auf Jenseits der Grenze des Hörbaren. Wo das menschliche Auge versagt, dringen wir doch noch weiter ein in die Welt des Unsichtbaren. Das Wenige, das wir sehen können, ist nichts im Vergleich zu der Unendlichkeit des Unsichtbaren. Gerade aus der Unvollkommenheit seiner Sinne hat sich der Mensch ein Gedankenfloß gezimmert, auf dem er wagemutig abenteuerliche Fahrten auf den weiten Meeren des Unbekannten unternimmt. Doch es gibt noch andere Wirklichkeiten, die selbst den überfeinerten Methoden der Wissenschaft unzugänglich bleiben. Für sie brauchen wir Glauben, der nicht in wenigen Jahren, sondern nur in einem ganzen langen Leben erprobt werden kann. Und man baut einen Tempel als würdiges Denkmal solcher Wahrheit, für die ein Glaube vonnöten war. Die persönliche und doch allgemeingültige Wahrheit und der Glaube, deren Offenbarung dieses Institut eingedenk bleiben will, lautet: Wenn ein Mensch ein Ziel erschaut, dem er sich ganz weihen kann und muß, dann springen die verschlossenen Tore auf und das scheinbar Unmögliche wird erreichbar.

Vor zweiunddreißig Jahren wählte ich den wissenschaftlichen Lehrberuf für mich. Es herrschte damals allgemein die Ansicht, der indische Geist müsse sich kraft seiner ureigentlichen Veranlagung stets vom Naturstudium ab und metaphysischer Spekulation zuwenden. Allein auch wenn man dem Inder Forschertalent und Beobachtungsgabe zugesprochen hätte, wäre doch nirgends Gelegenheit für ihn gewesen, sie anzuwenden. Es gab weder gut eingerichtete Laboratorien, noch gelernte Techniker. Das ist leider nur zu wahr. Doch der Mensch soll sich nicht über die Verhältnisse beklagen, sondern sie tapfer auf sich nehmen, bekämpfen und Herr über sie werden. Und wir gehören ja der Rasse an, die Großes mit einfachen Mitteln vollbracht hat.

Mißerfolg und Erfolg

Heute vor dreiundzwanzig Jahren beschloß ich, soweit es auf rückhaltlose Hingabe und Glaubenskraft ankomme, soll es daran nicht fehlen. Und ein halbes Jahr danach fanden verschiedene der schwierigsten Probleme auf dem Gebiete der elektrischen Wellentheorie in meinem Laboratorium ihre Lösung und die freudige Anerkennung Lord Kelvins, Lord Rayleighs und anderer führender Physiker. Die Royal Society ehrte mich durch Veröffentlichung meiner Entdeckungen und überwies mir aus eigenem Antrieb einen Zuschuß aus den vom Parlament ausdrücklich zur Förderung der Wissenschaft bewilligten Mitteln. An diesem Tage öffneten sich die verschlossenen Pforten, und ich hoffte, die Fackel, die damals angezündet wurde, möchte immer heller und heller brennen. Aber Glaube und Hoffnung des Menschen müssen immer wieder auf die Probe gestellt werden. Fünf Jahre später wurde der Fortschritt unterbrochen. Gerade als meine Arbeit die höchste Anerkennung überall gefunden hatte, kam der plötzliche und unerwartete Umschlag.

Lebendes und Nichtlebendes

Im Verlaufe meiner Untersuchungen wurde ich nichtsahnend in das Grenzgebiet zwischen Physik und Physiologie geführt. Zu meiner größten Ueberraschung verschwänden die Grenzen zwischen dem Lebendigen und Nichtlebendigen und immer neue Berührungspunkte zwischen beiden Gebieten tauchten auf. Der anorganische Stoff erwies sich als keineswegs träge. Auch er erbebte unter dem Einfluß vielfältiger Kräfte, die auf ihn wirkten. Eine ihnen allen gemeinsame Weise der Reaktion stellte Metalle, Pflanzen und Tiere unter ein gleiches Gesetz. Bei allen fand man im wesentlichen dieselben Erscheinungen: Ermüdung und Depression, daneben die Fähigkeiten, sich zu erholen und in besondere Erregung zu geraten, zugleich aber auch die Möglichkeit dauernder Unempfindlichkeit, wie sie mit dem Tode eintritt. Mich erfüllte ehrfürchtiges Staunen über diese große Allgemeingültigkeit, und voller Hoffnung verkündete ich vor der Royal Society meine Ergebnisse, die ich durch Versuche bewies. Aber die anwesenden Physiologen rieten mir nach meinem Vortrag, mich doch auf meine physikalischen Forschungen zu beschränken, die mir so große, unzweifelhafte Erfolge gebracht hätten, - in ihr Sondergebiet aber solle ich mich nicht eindrängen. Ahnungslos war ich in den wohlbehüteten Bezirk eines neuen, mir fremden Kastensystems eingedrungen und hatte dadurch gegen die Etikette verstoßen. Auch spielte - ohne daß man selbst es wußte - jener theologische Hang mit herein, der Unwissenheit für Glauben ansieht. Dabei wurde ganz vergessen, daß Er, der uns mit dem immer neu sich entfaltenden Geheimnis der Schöpfung umgibt, dem unbeschreiblichen Wunder, das, im Mikrokosmos eines Stäubchens verborgen, in dessen komplizierter Atomgestalt das Geheimnis des Weltalls umschließt, uns auch den Drang zu forschen und zu verstehen eingepflanzt hat. Außer der theologischen Voreingenommenheit wirkte noch die Befürchtung hinsichtlich der angeborenen Neigung des indischen Geistes zu Mystizismus und hemmungsloser Phantasie. Aber diese glühende Einbildungskraft, die aus einer Masse einander scheinbar widersprechender Tatsachen eine neue Ordnung aufzubauen vermag, wird in Indien durch die Gewöhnung an Meditation in Schach gehalten. Diese Selbstbeherrschung gibt dem Geist die Kraft, unendlich geduldig nach der Wahrheit zu suchen, zu warten und sie immer neu zu überdenken, in zahllosen Versuchen zu erproben und immer wieder festzustellen. Vorurteil gegen Neuerungen ist auch in der Wissenschaft nur natürlich. Ich war also darauf gefaßt, so lange zu warten, bis der anfängliche Unglaube durch eine immer neue Fülle von Beweisen überwunden würde. Unglücklicherweise kam aber noch anderes dazwischen, worauf ich jetzt nicht näher eingehen will. Meine Ergebnisse wurden entstellt, was ich durch das Hindernis der weiten Entfernung nicht beheben konnte. Man kann sich wohl keine verzweifeltere und hoffnungslosere Lage denken, als die meine in den nächsten zwölf Jahren. Ich muß auf diesen Abschnitt meines Lebens kurz hinweisen. Denn wer sich der Erforschung der Wahrheit weiht, muß sich darüber klar sein, daß kein leichtes Leben seiner wartet, sondern endloser Kampf. Er muß sein Leben als Opfer hingeben, darf sich um Gewinn und Verlust, Erfolg und Mißlingen nicht kümmern. Doch plötzlich wurde dieser lange auf mir lastende Druck aufgehoben. Meine wissenschaftliche Reise im Auftrag der indischen Regierung gab mir 1914 Gelegenheit, meine Entdeckungen den wichtigsten wissenschaftlichen Gesellschaften der Welt vorzuführen. Daraufhin wurden meine Ergebnisse anerkannt und die Bedeutung des indischen Anteils an der Förderung der Wissenschaft der Welt zugestanden. Meine eigenen Erlebnisse zeigten mir, wie groß, wie erdrückend groß die Schwierigkeiten sind, denen ein Forscher hier in Indien gegenübersteht. Aber sie stärkten auch meine Entschlossenheit, allen, die meinen Fußtapfen folgen wollten, den Weg leichter gangbar zu machen. Indien sollte ' nie wieder aufgeben, was ihm in langen Kampfjahren gewonnen worden war.

Die beiden Ideale

Was soll denn nun Indien gewinnen und festhalten? Kann eine bescheidene oder begrenzte Sache Indiens Geist befriedigen ? Hat die eigene Geschichte und die Lehre der Vergangenheit Indien auf einen zeitlichen und ganz untergeordneten Gewinn eingestellt ? Es gibt heute zwei einander ergänzende, nicht einander bekämpfende Ideale für das Land. Indien wird in den Strudel internationalen Wettbewerbes hineingezogen. Es muß auf jede Weise leistungsfähig werden - durch Ausbreitung der Bildung, durch Uebernahme staatsbürgerlicher Pflichten und Verantwortungen, durch Industrie und kaufmännische Betätigung. Vernachlässigung dieser wichtigsten nationalen Pflichten bedeutet eine Gefahr für den Bestand der Nation. Erfolg und Befriedigung persönlichen Ehrgeizes werden wohl genügend dazu anreizen.

Aber das allein sichert nicht den Bestand einer Nation. Diese rein äußerliche Betätigung hat im Westen ihre Früchte gezeitigt: Steigerung von Macht und Reichtum. Auch im Bereiche der Wissenschaft nahm die fieberhafte Hast zu, das Wissen wirtschaftlich auszubeuten, oft mehr zum Verderb als zum Gedeih. Wenn eine gewisse Zurückhaltung fehlt, steht die Zivilisation bald haltlos am Rande des Abgrunds. Wir brauchen als Gegengewicht Ideale, die den Menschen aus diesem wahnwitzigen Vorwärtsdrängen retten, das ihn dem Untergange entgegenführt. Er folgte den Lockungen nnd Anreizen eines unersättlichen Ehrgeizes. Keinen Augenblick hielt er inne, um über das letzte Ziel nachzudenken, zu dem vorübergehende Erfolge nur als Ansporn dienen sollen. Er vergaß vollkommen, daß gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit im Leben viel wirkungsvoller sind als Wettbewerb. Und seit Jahrtausenden hat es in diesem Lande Menschen gegeben, die nicht nur den unmittelbaren, alles aufzehrenden Preis des Augenblicks, sondern die Verwirklichung des höchsten Lebensideals erstrebten - nicht durch passive Entsagung, sondern durch tätiges Ringen. Der Schwächling, der dem Kampfe ausweicht, braucht auf nichts zu verzichten, weil er nichts zu gewinnen hat. Nur wer kämpft und siegt, kann die Welt bereichern, indem er ihr großherzig die Früchte seiner siegreichen Erlebnisse schenkt. In Indien haben solche Beispiele von dauernder Verwirklichung von Idealen zur Bildung einer ununterbrochenen, lebenslänglichen Ueberlieferung geführt, die sich durch ihre geheime Verjüngungskraft, durch unendliche Verwandlungen immer neu gestaltet hat. Während die Seele Babylons und des Niltals verging, ist die unsere immer noch lebendig geblieben und fähig, alles, was die Zeit brachte, in sich aufzunehmen und es sich zu eigen zu machen.

Zu geben, zu bereichern, kurz Selbstentäußerung als Antwort auf den heiligsten Ruf der Menschheit ist das zweite, ergänzende Ideal. Der Drang dazu kommt nicht aus persönlichem

Ehrgeiz, sondern aus der Ueberwindung alles Kleinlichen und der Ausrottung jener Beschränktheit, die alles als Gewinn wertet, was man auf Kosten anderer kaufen kann. Das jedenfalls weiß ich, daß keiner die Wahrheit erschaut, dem nicht alle Quellen der Zerstreuung versiegt sind und dessen Geist seine Ruhe nicht gefunden hat.

Das öffentliche Leben und die verschiedenartigen Berufe mögen für viele strebsame junge Leute ein geeignetes Betätigungsfeld sein. Handelt es sich jedoch um solche, die meine Schüler werden wollen, so wende ich mich an die wenigen, die, einem inneren Rufe folgend, ihr ganzes Leben zielbewußt und entschieden einsetzen wollen in dem unendlichen Kampf um selbstloses Wissen und Schau der Wahrheit von Angesicht zu Angesicht.

Förderung und Ausbreitung der Wissenschaft

Die bisher in meinem Laboratorium geleistete Arbeit über die Reaktionen des Stoffes und die überraschenden Offenbarungen des Pflanzenlebens, die die Wunder des höchsten tierischen Lebens vorausahnen lassen, haben sehr umfangreiche neue Forschungsgebiete in der Physik, Physiologie, Medizin, Landwirtschaft und sogar Psychologie erschlossen. Bisher für unlösbar geltende Rätsel können jetzt experimentell erforscht werden. Diese Forschungen sind natürlich umfassender, als Physiker und Physiologen sie bisher gewohnt waren, weil sie sämtliche ganze, bisher zwischen beiden Gebieten mehr oder weniger geteilten Interessen und Fähigkeiten erfordern. Beim Studium der Natur kommt man um diesen doppelten Gesichtspunkt, um diese wechselseitige, aber rhythmisch ineinanderfließende Zusammenwirkung biologischen Denkens bei physikalischenStudien und physikalischen Denkens bei biologischen Studien nicht herum. Der künftige Forscher, der die Physik in neuer Weise erfaßt und die anorganische Welt umfassend erkennt - die ja mit "Lebensverheißungen und Lebenskräften" schwanger ist - wird seine Arbeits- und Denkkraft gegen früher verdoppeln. So wird er in der Lage sein, das Wissen der Vergangenheit mit feineren Sieben zu sichten, es mit frischer Begeisterung und besseren Instrumenten neu zu erforschen. Er darf hoffen, im Laufe der Zeit durch Denken und Arbeiten die alten Fragen unter neuen Gesichtspunkten darstellen, sie zugleich lebendiger und wirksamer, umfassender und zusammenhängender behandeln zu können.

Die umfassende Weitererforschung der zahlreichen, immer neu auftauchenden Fragen einer entstehenden Wissenschaft, die Lebendiges und Nichtlebendiges umfaßt, zählt zu den Hauptaufgaben des Instituts, das ich heute eröffne. Ich habe das Glück, für dieses Arbeitsfeld bereits eine hingebende Schar von Schülern zu besitzen, die ich selbst in den letzten zehn Jahren herangebildet habe. Ihre Zahl ist zwar noch sehr begrenzt, aber vielleicht bringt uns die Zukunft die Mittel, sie zu vergrößern. So können wir vielleicht bald über eine stets wachsende Zahl tüchtiger junger Leute verfügen, aus denen im Laufe der Zeit und Arbeit besonders fähige Forscher, fruchtbare Erfinder und vielleicht sogar eines Tages ein wirklich schöpferischer Geist erstehen wird.

Man kann aber keine großen Erfolge ohne entsprechende Genauigkeit im Experimentieren erwarten. Ihrer bedürfen wir heute mehr als je und morgen in noch höherem Maße. Daher rührt die lange Reihe durchweg hier ersonnener, hochempfindlicher Instrumente und Apparate, die sie beim Betreten des Hauses in der Vorhalle aus ihren Glaskästen begrüßten. Sie können ihnen von dem langjährigen Kampf erzählen, in dem ich mich abmühte, hinter dem täuschenden Schein zu der Wirklichkeit vorzudringen, die sich unserer Sinnenwelt entzog, von der ununterbrochenen zähen Arbeit, die nötig war, die Beschränkung menschlichen Denkens zu überwinden. In dieser Richtung erwarte ich dank der immer sinnreicheren Hilfsmittel zum Ausbau der Wissenschaft in nicht allzu ferner Zukunft eine Steigerung der Geschicklichkeit und Erfindungsgabe unserer Mitarbeiter. Können wir uns auf deren Geschicklichkeit verlassen, so werden bald auf zahlreichen Gebieten menschlicher Betätigung die praktischen Auswirkungen folgen.

Neben der Förderung der Wissenschaft ist eine Hauptaufgabe unseres Instituts die Ausbreitung des Wissens. Wir befinden uns hier in dem größten Raum des Hauses, dem Vortragssaal. Wenn ich ihn baute und größer anlegte, als man es in Forschungsinstituten bislang gewöhnt ist, so wollte ich für alle Zeiten die Förderung der Wissenschaft mit ihrer denkbar umfassendsten öffentlichen Ausbreitung verknüpfen, jenseits aller akademischen Grenzen soll sie allen Rassen und Sprachen, soll sie Männern wie Frauen zugänglich sein.

Die hier zu haltenden Vorträge sollen nicht nur Wissenschaft aus zweiter Hand bieten. Sie sollen einem Zuhörerkreis von fünfzehnhundert Menschen die hier gemachten Entdeckungen ankündigen und sie zu allererst der Allgemeinheit vorführen. So werden wir dauernd den höchsten Anspruch einer bedeutenden Stätte des Wissens erfüllen können: tätig an der Förderung und Verbreitung der Wissenschaft Anteil zu nehmen. Durch regelmäßige Herausgabe der Abhandlungen des Instituts sollen Indiens Arbeiten der ganzen Welt zugänglich gemacht werden. So werden die hier gemachten Entdeckungen Allgemeingut. Außer dem regelmäßigen Mitarbeiterkreis soll hier eine ausgesuchte Zahl von Gelehrten arbeiten, die durch ihre Leistungen besondere Befähigung erwiesen haben und ihr Leben der Forschungsarbeit widmen wollen. Da sie besonders geschult werden müssen, kann ihre Zahl natürlich nur begrenzt sein. Nicht die Menge, sondern der Gehalt ist indes von entscheidender Bedeutung.

Weiter hege ich den Wunsch, daß die Möglichkeiten dieses Institutes, soweit die Räumlichkeiten es erlauben, Forschern aller Länder zur Verfügung stehen. Damit versuche ich die Ueberlieferung meines Heimatlandes zu beleben, das seit zwei-einhalbtausend Jahren alle Gelehrten der verschiedensten Länder an den uralten Stätten der Weisheit zu Nalanda und Taxila willkommen hieß.

Das Fluten des Lebens

Mit dieser Weitherzigkeit können wir nicht nur den heiligsten Ueberlieferungen der Vergangenheit gerecht werden, sondern auch der Welt auf edle Weise dienen. Eins mit ihr, empfinden wir die Wogen des Lebens, die gemeinsame Liebe zum Guten, Wahren und Schönen. In diesem Institut, dem Studierzimmer und Garten des Lebens, wurde auch der Kunst nicht vergessen, denn der Künstler arbeitete mit uns zusammen vom Grundstein bis zum Dachfirst und vom Fuße bis zur Decke dieses Saales. Und hinter jenem Bogen geht das Laboratorium unmerklich in den Garten über, der das beste Laboratorium für die Erforschung des Lebens ist. Dort können sich Schlinggewächse, Pflanzen und Bäume ungehemmt in ihrer natürlichen Umgebung entwickeln - in Sonne und Wind und Nachtkühle unter dem sternenbesäten Himmelsgewölbe. Es ist auch noch eine andere Umwelt für sie bereit, wo sie der Farbenwirkung verschiedenen Lichtes, unsichtbaren Strahlen, galvanischen Strömen oder elektrisch geladener Atmosphäre ausgesetzt werden. Ueberall sollen sie mit eigener Schrift die Geschichte ihrerErlebnisse aufzeichnen. Von der freien Warte unseres Instituts aus schaut der Forscher im Schatten der Bäume dieses Panorama des Lebens. Von allen Ablenkungen geschützt, lernt er, sich selbst der Natur einzufügen. Der hüllende Schleier wird gelüftet, und er kommt schrittweise zu der Erkenntnis, daß Gemeinsamkeit in dem ganzen ungeheuren Meere des Lebens die scheinbare Gegensätzlichkeit weit überwiegt. Aus den Mißklängen steigt dann der große Einklang auf.

Der Ausblick

Das waren die Träume, die sich während langer Jahre um mein Wachleben spannen. Der Blick schweift ins Endlose, denn das Ziel liegt im Unendlichen. Nicht durch eines einzigen Menschen Leben oder Vermögen kann es verwirklicht werden. Es bedarf dazu des gemeinsamen Einsatzes des Lebens und Vermögens vieler. Die Erweiterung des Instituts hängt davon ab, ob wir die erforderlichen großen Geldmittel dafür bekommen. Der Anfang aber mußte einmal gemacht werden. Das ist die Entstehungsgeschichte des Instituts. Ich kam ohne Hab und Gut auf die Welt und werde sie ohne Hab und Gut wieder verlassen. Wenn in der Zwischenzeit etwas erreicht wurde, so war das eine besondere Gnade. Was ich habe, will ich geben, und die Frau, die all meine Kämpfe und Mühen mit mir geteilt hat, wollte gleichfalls alles, was sie besitzt, für diesen Zweck stiften. In all meinem Streben und Kämpfen war ich nicht ganz allein. Während die Welt zweifelte, wankte doch nie das Vertrauen einiger Weniger, die nun in der Stätte des Schweigens weilen.

Noch vor wenigen Wochen hatte es den Anschein, als werde erst die Zukunft unserem Institut die nötige Entfaltung und Dauer schenken müssen. Doch allmählich wird dem Ruf der Not Antwort. Die Regierung will uns Zuschüsse bewilligen, um daslnstitut auf sichere Grundlage zu stellen. Die Höhe der Beiträge soll dem Interesse entsprechen, das die Oeffentlichkeit an dem Unternehmen bezeugen wird. Zwei Männer aus einer weit entfernten Provinz, die mich persönlich nicht kennen, waren unter all denen, die sich vielleicht verpflichtet fühlen, Gelder zusammenzubringen, die ersten, die uns Beiträge sandten.

Indiens besondere Eignung zur Förderung der Wissenschaft

Die übertriebene Spezialisierung der Wissenschaft im Abendland hat dazu geführt, daß man leicht die grundlegende Tatsache aus dem Auge verliert, daß es nur eine Wahrheit, nur eine Wissenschaft gibt, die alle Wissenszweige umfaßt. Wie verworren sehen die Vorgänge in der Natur aus. Ist sie ein Kosmos, in dem der menschliche Geist eines Tages den einheitlichen Gang von Folge, Ordnung und Gesetz erkennen wird? Der Inder ist durch seine Geistesart besonders befähigt, den Gedanken der Einheit zu erfassen und in der Erscheinungswelt ein geordnetes All wahrzunehmen. Diese Denkart führte mich unbewußt zu den trennenden Grenzen der verschiedenen Wissenszweige und führte meine Arbeitsrichtung mit ihrer ständigen Wechselbeziehung von Theorie und Praxis von der Erforschung der anorganischen Welt zum organischen Leben und seinen vielfältigen Bestätigungen in Wachstum, Bewegung und selbst Empfindung. Wenn ich heute die verschiedenen Richtungen übersehe, in denen meine Forschungen der letzten 23 Jahre vordrangen, entdecke ich in alledem doch eine ganz natürliche Folgerichtigkeit. Die Untersuchung der elektrischen Wellen führte zur Erfindung von Methoden zur Erzeugung kürzester elektrischer Wellen, diese aber überbrückten die Kluft zwischen sichtbarem und unsichtbarem Licht. Daraus ergab sich folgerichtig die Untersuchung der optischen Eigenschaften unsichtbarer Wellen, die Bestimmung des Brechungsvermögens verschiedener undurchsichtiger Stoffe, die Entdeckung der Wirkung einer Luftschicht auf die totale Reflexion und die Polarisationseigenschaften unter Spannung stehender Gesteine und elektrischer Turmaline. Die Erfindung einerneuen Form sich selbst erholender elektrischer Empfänger aus Bleiglanz war der Anwendung von Kristalldetektoren zur Vergrößerung der Reichweite drahtloser Signale. In der physikalischen Chemie führte die Entdeckung der Molekularveränderung im Stoff unter der Einwirkung elektrischer Ströme zu einer neuen Theorie der photographischen Vorgänge. Die fruchtbare Theorie der Stereochemie wurde bestärkt durch die Erzeugung zweier Arten von künstlichen Molekülen, die, ähnlich wie die zwei verschiedenen Typen von Zucker, die polarisierte elektrische Welle entweder nach rechts oder nach links drehen. Weiter führte die "Ermüdung" meiner Empfänger zur Aufdeckung der allgemeinen Reizempfindlichkeit, die, wie die elektrischen Reaktionen beweisen, der Materie eigen ist. Es wurde dadurch ferner ermöglicht, zu untersuchen, wie sich diese Reaktionen mit wechselnder Umgebung ändern. Zu den allererstaunlichsten nach außen sichtbaren Offenbarungen gehört die Steigerung der Reaktion durch Reizwirkung und ihre Ausschaltung durch Gifte. Und als Beispiel der zahlreichen Auswirkungsmöglichkeiten dieser fruchtbaren Entdeckungen sei nur das genannt, wo die Charakteristik einer künstlichen Retina den Schlüssel zu der unerwarteten Entdeckung des "abwechselnden Sehens der beiden Augen" beim Menschen gab, indem sich die beiden Augen abwechselnd ergänzen, während man bisher das Augenpaar als eine ununterbrochen verbundene Einheit ansah.

Pflanzliches und tierisches Leben

Ganz folgerichtig ergab sich aus der Untersuchung der Reaktion im "anorganischen" Stoff ein ausgedehntes Studium der Vorgänge im Pflanzenleben im Vergleich zu den entsprechenden Vorgängen im Leben der Tiere. Da aber Pflanzen meist bewegungslos und passiv erscheinen und ihre Bewegungsmöglichkeiten auch tatsächlich sehr begrenzt sind, mußten erst besondere Apparate von äußerster Feinheit erfunden werden, um das Zittern ihrer Erregung vergrößern und die Dauer der Wahrnehmung durch die Pflanzen bis zu 1/1000 Sekunde messen zu können. Ultramikroskopische Bewegungen wurden gemessen und aufgezeichnet. Die gemessenen Längen waren oft geringer als ein Bruchteil einer Wellenlänge des Lichtes. Das Geheimnis des Pflanzenlebens wurde so zum erstenmal durch die Niederschrift der Pflanze selbst kund. Dieser Beweis aus eigenen Aufzeichnungen der Pflanzen verdrängte die althergebrachte irrige Ansicht, die Pflanzen seien in reizempfindliche und unempfindliche einzuteilen. Das merkwürdige Verhalten der "betenden Palme" von Faridpur, die sich jeden Abend neigte, als wolle sie sich zur Erde werfen, ist nur eines der neuesten Beispiele, die beweisen, daß die angebliche Reizunempfindlichkeit der Pflanzen und besonders der starren Bäume lediglich einer falschen Theorie und mangelhafter Beobachtung zuzuschreiben ist. Meine Untersuchungen bewiesen, daß sämtliche Pflanzen, auch die Bäume, alle Veränderungen ihrer Umgebung wahrnehmen. Sie antworten sichtbar auf jeden Reiz, auch auf leiseste Lichtschwankung beim Vorbeiziehen einer Wolke. Diese Reihe von Untersuchungen hat die grundsätzliche Einheitlichkeit der Reaktionen von pflanzlichem und tierischem Leben lückenlos festgestellt. Man kann sie z. B. an einer bei beiden gleichartigen, regelmäßig wiederkehrenden Unempfindlichkeit beobachten, die dem entspricht, was wir "Schlaf" nennen, oder auch im Todeskrampf, der bei der Pflanze wie beim Tier eintritt. Diese Einheitlichkeit des organischen Lebens zeigt sich auch in dem spontanen Pulsen, das dem Herzschlag des Tieres entspricht, sie offenbart sich in den gleichartigen Wirkungen von Reiz- und Betäubungsmitteln und von Gift im pflanzlichen wie tierischen Gewebe. Diese physiologische Uebereinstimmung unter der Wirkung von Chemikalien werten führende Aerzte als hochbedeutsam für den Weiterausbau der Heilkunde, denn hier haben wir eine Möglichkeit, die Wirkung von Chemikalien unter viel einfacheren Verhältnissen zu erproben, als ein Patient sie bietet, und viel genauer und humaner als beim Tierversuch.

Das Wachstum der Pflanzen und seine Veränderungen unter verschiedener Behandlung zeichnet mein Crescograph unmittelbar auf. Fachleute erwarten von dieser Arbeitsweise eine Förderung der praktischen Landwirtschaft, denn jetzt können wir zum erstenmal im einzelnen die Bedingungen zergliedern und untersuchen, die die Wachstumsgeschwindigkeit beeinflussen. Versuche, die sonst Monate kosten, können jetzt in wenigen Minuten durchgeführt werden.

Doch kehren wir zur reinen Wissenschaft zurück. Keine Er scheinung des Pflanzenlebens ist so außerordentlich vielseitig, keine konnte so schwer auf ein allgemeines Gesetz zurückgeführt werden, wie die "tropischen" Bewegungen, beispielsweise das Ranken der Schlingpflanzen, die heliotropischen Bewegungen der einem zum Licht hin, der ändern vom Licht fort, und die entgegengesetzten geotropischen Bewegungen von Wurzel und Sproß, von denen die erste in der Richtung der Schwerkraft der zweite ihr entgegen wächst. Meine neuesten Forschungen haben eine einzige grundlegende Reaktion ergeben, die sich außerordentlich verschieden äußert.

Zum Schluß darf ich wohl noch ein Wort sagen über das weitere neue, überraschende Gebiet, das sich uns mit dem Nachweis des >nervösen" Impulses der Pflanzen erschließt. Die Geschwindigkeit, mit der ein Nervenimpuls die Pflanze durchläuft, wurde bestimmt. Die nervöse Reizbarkeit und die Veränderungen, denen sie unterworfen ist, wurden desgleichen gemessen. Es ergab sich, daß der Nervenimpuls bei Pflanze und Mensch durch die gleichen Bedingungen gesteigert oder gehemmt wird. Wir können die Einheitlichkeit des Vorganges auch in scheinbar gegensätzlichen Fällen verfolgen. Eine Pflanze, die man unter Glas sorgfältig gegen äußere Erschütterungen schützt, sieht wach und blühend aus, doch erweist sich dann ihre höhere Nerventätigkeit als verkümmert. Wenn nun aber eine Folge von Erschütterungen auf diese aufgedunsene, dabei aber kraftlose Pflanze niederprasselt, schaffen sich die Erschütterungen selbst Nervenbahnen und beleben den geschwächten Organismus neu.

Eine Frage gab lange Zeit Physiologen und Psychologen gleichermaßen Rätsel auf: das Geheimnis des Gedächtnisses. Heute aber ist es unter Ausnutzung von mir gemachter Versuche möglich, "Gedächtniseindrücke" sogar bis in den anorganischen Stoff zurück zu verfolgen. Solche schlummernden Eindrücke können später wieder erweckt werden. Und weiter: die Art unserer Gefühlseindrücke hängt von der Stärke der Nervenerregung ab, die das innerste Wahrnehmungsorgan trifft. Es wäre wohl theoretisch möglich, die Art oder Färbung unseres Gefühlseindrucks zu verändern, wenn man Mittel fände, um den Nervenreiz auf dem Wege durch den Körper zu verändern. Die Untersuchung des nervösen Impulses in Pflanzen führte zu der Entdeckung einer Kontrollmethode, die sich bei nervösen Im pulsen des Tieres als ebenso wirksam erwies.

So überschneiden und begegnen sich die Grenzlinien der Physik, der Physiologie und der Psychologie. Und in diesem Hause wollen wir die vereinen, die Einheit inmitten der Vielfalt suchen. Hier möge der Geist Indiens wahrhaft zur Blüte kommen.

Die bebende Materie, das pochende Leben, das pulsende Wachstum, der Anstoß, der sich im Nerv fortpflanzt und seine Folgeempfindungen - wie verschieden sind sie doch, und doch wie eins! Wie seltsam, daß bebende Erregungen in der Nervensubstanz nicht nur einfach weitergeleitet, sondern wie das Bild in einem Spiegel von einer ändern Ebene des Lebens verwandelt und zerlegt werden in Empfindungen und Affekte, in Gedanken und Erregungen. Was von beiden ist wirklicher, der materielle Körper oder das von ihm unabhängige Bild ? Welches von beiden ist unverweslich, welches entrinnt dem Griff des Todes?

In den vedischen Zeiten fragte eine Frau, der man alle Reichtümer der Welt zur Wahl bot, ob sie dadurch unsterblich werde. Was solle sie sonst damit anfangen, wenn der Schatz sie nicht dem Tod entrücke? Danach sehnte sich von je die Seele Indiens ; sie wollte nicht noch mehr an das Vergängliche gekettet werden, sondern in Kämpfen ihr selbstgewähltes Schicksal verwirklichen und Unsterblichkeit erlangen. Gar manches Volk hat sich in der Vergangenheit zur Herrschaft der Welt erhoben. Ein paar verschüttete Bruchstücke sind alles, was als Erinnerung an die großen Dynastien geblieben ist, die einst die Macht dieser Welt besaßen. Doch noch ein anderes Element verkörpert sich in der Materie, hebt sich aber über Verwandlung und scheinbare Vernichtung empor: die lodernde Fackel des Gedankens, den ein Geschlecht dem ändern durch die Jahrtausende weiterreicht.

Nicht im Stofflichen, sondern im Gedanken, nicht in Besitz oder Gewinn, sondern in Idealen keimt Unsterblichkeit. Nicht durch äußere Errungenschaften, sondern durch großherzige Verbreitung von Ideen und Idealen kann das wahre Reich der Menschlichkeit erstehen. Auch für Asoka, dem dieses ungeheure, von unentweihten Meeren begrenzte Reich gehörte, kam - nachdem er durch völligste Selbstentäußerung versucht hatte, die Welt zu erlösen, der Augenblick, wo er nichts mehr zu geben hatte als die Hälfte einer Amlakifrucht. Das war seine letzte Gabe, und schmerzgequält rief er, da er nichts anderes mehr zu geben habe, möge man doch die Amlaki als seine letzte Gabe annehmen.

Asokas Sinnbild der Amlaki ist im Fries des Instituts zu sehen und darüber das Zeichen des Blitzes. Rishi Dadhichi, der Reine und Fleckenlose, opferte sein Leben, damit die göttliche Waffe, der Blitz, aus seinen Gebeinen gefügt werde, um das Bose zu vernichten und die Gerechtigkeit zu verherrlichen. Auch wir können heute nur eine halbe Amlakifrucht anbieten. Doch die Vergangenheit soll in einer noch viel edleren Zukunft wiedergeboren werden. Heute stehen wir hier, und morgen nehmen wir die Arbeit wieder auf, um durch den Ertrag unseres Lebens und unseren unerschütterlichen Glauben an die Zukunft dazu beizutragen, das größere Indien zu bauen, das da kommen soll."
Das Bose-Institut in Kalkutta (1920)
Das Bose-Institut in Kalkutta (1920)

XIX. DAS BOSE-INSTITUT

Wir haben Bose selbst von den Idealen reden lassen, die ihn bei der Gründung des Instituts beseelten. Seine Eröffnungsrede machte nicht nur in Indien, sondern auch in Europa tiefen Eindruck. Wir wollen in diesem Zusammenhang eine Stelle aus einem Leitaufsatz der "Times" anführen:

"Als Sir Jagadis vor einem Menschenalter den akademischen Lehrberuf für sich wählte, war man allgemein der Ansicht, der indische Geist wende sich infolge seiner geistigen Veranlagung stets von der Naturwissenschaft ab und der metaphysischen Spekulation zu. Damals geschah noch wenig oder gar nichts, um die Enge der fast ausschließlich literarischen Richtung, in die man Indiens höhere Bildung gedrängt hatte, zu sprengen. Sir Jagadis hat hervorragend an der wissenschaftlichen Wiedergeburt mitgearbeitet. Die Inder sind mit Recht stolz darauf, einige Männer von Weltruf zu den ihren zu zählen. Natürlich wirkt dieser Stolz starkauf die öffentliche Meinung zurück. Im Forschungsinstitut widmen eine Anzahl junger Studenten, die ihre Universitätsstudien abgeschlossen haben, ihr Leben der wissenschaftlichen Forschung. Die veröffentlichten Abhandlungen des Instituts beweisen, daß unter Führung dieses hervorragenden Bengalen die indische Forschungsarbeit wesentliche Beiträge zur wissenschaftlichen Erkenntnis liefert, und daß auf diesem Gebiet kein grundsätzlicher Unterschied zwischen westlichem und östlichem Geiste besteht, wie man annahm, als Sir Jagadis sein Werk begann. Es mag sein, wie es in einem Aufsatze hieß, daß die Richtung der Forschung und die Färbung der Theorien manchmal von den Anlagen des indischen Denkens beeinflußt wird, aber der Glaube an erfaßbare Wahrheiten und die Berufung auf Tatsachen kann in Indien ebensowohl wie in Europa die Grundlage dieser Forschungen und dieser Theorien bilden. Auf diesem und nicht weniger auf anderen Gebieten liefert Indien seinen besonderen Anteil. Sir J. C. Boses Lebenswerk beweist, daß der Inder durch seinen auf Meditation eingestellten Geist besonders befähigt ist, die Idee der Einheitlichkeit zu verwirklichen und in der Erscheinungswelt ein geordnetes All zu sehen. Diese Einstellung verleiht ihm die Macht, mit unendlicher Geduld der Wahrheit nachzusinnen."

Das "Athenäum" schreibt: "Die Gründung eines rein wissenschaftlichen Forschungsinstitutes ist ein Ereignis in der Geschichte Indiens. Die Veröffentlichung seiner Abhandlungen, der Erstlingsfrüchte seiner Wirksamkeit, erweist, daß es auch ein Ereignis in der Geschichte der Wissenschaft ist."

Wir wollen nun noch das Bose-Institut beschreiben, das die Fortsetzung der Forschungen seines Gründers zur Aufgabe hat und Weiterführung seiner großzügigen Auffassung von der Erforschung der Lebensvorgänge mit allen Hilfsmitteln und verfeinerten Methoden der physikalischen Wissenschaften.

Das Gebäude liegt an günstiger, zentraler Stelle für eine geistige Stätte, die der Bevölkerung Kalkuttas zugänglich sein soll. Die Umrisse des aus feinkörnigem graurosa Sandstein errichteten, im indischen Stil der vormohammedanischen Zeit durchgehend mit symbolischen Ornamenten geschmückten Hauses treten würdig aus ihrer Umgebung hervor. Ein kleiner Vorgarten - sinngemäß mit sensitiven Gewächsen bepflanzt - enthält einen Brunnen und einen Tümpel sowie eine Sonnenuhr und eine elektrische Uhr zu gegenseitiger Kontrolle. Besonders bezeichnend für das Institut und die darin geleistete Arbeit ist ein breiter Doppelriß, der vor den Augen des Beobachters zwei Kurven entstehen läßt. Eine davon zeigt wesentliche Veränderungen (Wärme, Licht usw.) der umgebenden Atmosphäre an, während die andere die Reaktionen eines großen Baumes auf diese wechselnden Bedingungen aufzeichnet. Diese Selbstniederschrift des Baumes 'beweist eindrucksvoll und anschaulich, daß alle Pflanzen, einschließlich der starren Bäume, Veränderungen ihrer Umgebung deutlich empfinden. Auch eine vorüberziehende Wolke wird wahrgenommen und von dem Baumapparat verzeichnet. Hier haben wir auch ein anschauliches Beispiel dafür, daß dieses Institut nicht nur ein Laboratorium für diese oder jene besondere Richtung physikalischer oder physiologischer Forschungen ist, sondern von Anfang an die Zusammenfassung der wichtigsten Hilfsmittel und Methoden der physikalischen Wissenschaften erstrebt, um sie in den Dienst des Hauptproblems der biologischen Wissenschaft zu stellen: der Frage nach den wesentlichen Lebensvorgängen selbst.

In der geräumigen Vorhalle steht eine lange Reihe von Glaskästen, in denen alle wesentlichen Apparate der vergangenen langen Forschungsjahre ausgestellt und aufgehoben werden, von den physikalischen Forschungen über elektrische Wellen bis zu den physiologischen über das Leben.

Sie zeigen, je weiter man gelangt, immer zunehmende Vollkommenheit der Beobachtung und Kurvenaufnahme. So gelangt man Schritt für Schritt von manchmal grob und schnell zusammengezimmerten HilfsVorrichtungen und einfachen Instrumenten bis zu den heutigen geradezu zauberhaften Meisterwerken an Feinheit und Genauigkeit. Hier können wir Boses ersten Apparat für drahtlose Signale aus dem Jahre 1895 sehen. Instrumente der neuesten Zeit verzeichnen das bisher unsichtbare Pulsen der wachsenden Pflanze, sogar deren Wahrnehmungszeit bis zu 1/1000 Sekunde und messen ultramikroskopische Bewegungen. So wird die Bedeutung des Instituts als Mittelpunkt neuer Erfindungen höchstempfindlicher Apparate und als Schule ungewöhnlicher Geschicklichkeit in deren Bau offenbar und zugleich seine Bedeutung für die Wissenschaft und unter Umständen auch für die Industrie. Hier darf wohl einmal darauf hingewiesen werden, daß die meisten großen physikalischen Entdecker und Erfinder von Watt bis Kelvin oder rückwärts bis auf Galilei und Leonardo da Vinci ebenso wie Bell und Edison und Bose ihre eigenen Instrumentenbauer waren. Denn Hand und Hirn regen einander wechselseitig zu den sich ergänzenden Fortschritten an, die wir "Entdeckung" und "Erfindung" nennen.

Gehen wir dann an dem großen Vortragssaal vorüber, so können wir einenBlick in die eigentlichen Laboratorien werfen, wo die Forschungsarbeit vor sich geht. Sie liegen zum Teil im Hauptgebäude, in noch größerer Anzahl aber im Nebenbau. Die ersten von allen waren jedoch ringsum im Garten unter gebracht, mit dem wir deshalb am besten beginnen. Hier überwiegen sensitive und andere bewegliche Pflanzen, wie Schling-und Kletterpflanzen, die einen langen, schattigen Laubengang bedecken. Der nächste Geländestreifen besteht aus lieblichen Wiesen mit Brunnen und Tümpel für Wasserpflanzen und einer Gruppe Bäume. Einige stehen schon lange in diesem Garten, andere wurden erst jüngst hierher verpflanzt, als sie schon voll ausgewachsen waren. Unter diesen Bäumen finden wir eine Fülle von Apparaten und weiter oben ist eine Plattform für Beobachtungen und Meditation angebracht, da ja dieser Wechsel von scharfem Denken und überlegender Deutung der Weg der Wissenschaft ist, der Rhythmus ihres Lebens.

Wir verlassen diese und andere Anfänge des biophysikali-schen Gartens und betreten die Laboratorien. Hier jenseits des kleinen Marmoreingangs, der wiederum freigehalten ist für Beobachtung und Meditation, stehen Glashäuser - weiße, rote, blaue - zum Studium des Wachstums der Pflanzen und ihres Verhaltens unter dem Einfluß von Licht der beiden Enden des Spektrums im Vergleich zu gewöhnlichem Licht. Dahinter lie-. gen die größeren Laboratorien, elektrische, chemische, mechanische, mikroskopische und physiologische.

Nachdem wir so einen allgemeinen Ueberblick über das neue Institut gewonnen und etwas von der Arbeit gesehen oder wenigstens geahnt haben, die dort geleistet wird, wollen wir den großen Vortragssaal besichtigen, der fünfzehnhundert Sitzplätze enthält, und in dem der Direktor und andere regelmäßige Vor-tragskurse veranstalten, in denen die Hauptergebnisse ihrer Forschungen behandelt werden.

Wie die Laboratorien und Grundstücke des Instituts mehrfach von den üblichen Formen abweichen, so auch dieser Saal, das bis heute vielleicht beste Milieu für wissenschaftliche Vorführungen. Er ist einfach, praktisch und schön. Eine zahlreiche Zuhörerschaft kann mit Auge und Ohr folgen, ohne unter den optischen und akustischen Mängeln von Räumen zu leiden, die ohne Mitarbeit des Physikers entworfen sind. Es handelt sich ja hier nicht um engbegrenzte Fachwissenschaft, wie schon aus der Größe des Saals hervorgeht, wenn auch der Zweck anderseits nicht schlechtweg Popularisierung ist. Die wesentliche Absicht ist, der gebildeten Allgemeinheit die neuen Errungenschaften wissenschaftlicher Arbeit in beglaubigter Form vorzuführen.

Der Schmuck der Halle spricht gleicherweise zum Gelehrten, Künstler und Studenten der Wissenschaften. Das Deckengemälde, eine große lichtausstrahlende Lotosblüte, ist einer der Domhallen von Ajanta frei nachgebildet und von den reizempfindlichen Pflanzen umsäumt, die mit der Arbeit des Institutes so eng verbunden sind. Der übrige Teil des Saales ist ruhig und schmucklos gehalten, um die Aufmerksamkeit nicht abzulenken, nur über dem Projektionsschirm ist ein allegorischer Fries angebracht, "Das Forschen", ein Gemälde von Nandalal Bose, einem wohlbekannten Mitglied der kleinen Gruppe von Künstlern Kalkuttas, die die Ueberlieferungen altindischer Kunst wieder erwecken und sie neuzeitlichen Bedürfnissen und persönlichem Ausdruck anpassen. Im Morgendämmern vom heiligen Fluß aufbrechend, schreitet die stämmige und straffe Gestalt des Intellekts einher, die Schneide des Schwertes betastend, mit dem er sich seinen Weg bahnen muß. Auf seiner Abenteuerfahrt begleitet ihn seine Braut Phantasie, ihn mit ihrer Zauberflöte begeisternd. Der Brennpunkt des Saales aber ist ein großes Relief in Bronze, Silber und Gold: Der Sonnengott erhebt sich in seinem Wagen zum täglichen kosmischen Kampf des Lichtes mit der Finsternis.

Wie dieses neue Institut arbeiten und auf das Denken und Leben Indiens sowie auf die Wissenschaft der Welt wirken wird, wie es Industrie, Landwirtschaft und auch Medizin fortbilden und wie es vor allem die notwendige Entfaltung und Erneuerung der höheren Bildung fördern wird, kann man heute noch nicht absehen. Genug, daß sich diese Blüte neuen schöpferischen Lebens nun ganz geöffnet hat. Die Früchte werden in kurzem reifen und die Saat neuer Tätigkeit sich über Indien und die ganze Welt verbreiten.

Die vorstehende Beschreibung wurde im wesentlichen unmittelbar nach der Eröffnung des Institutes geschrieben. Seitdem sind zwei Jahre vergangen und die damals geäußerten Hoffnungen sind bereits auf dem Wege reicher Erfüllung. Zwei dicke Bände "Abhandlungen des Institutes" sind bis jetzt erschienen. Sie enthalten mehr als vierzig Arbeiten, die auf zahlreiche Anregungen Boses zurückgehen und wurden unter seiner beständigen Aufsicht in Verbindung mit seinen Schülern und Mitarbeitern geschrieben, die auf diese Weise in engste Gemeinschaft mit ihrem Leiter kommen und von dessen Geist und Begeisterung angesteckt werden.

Es sind freilich noch viele Lücken auszufüllen und Wünsche zu erfüllen, wenn das Unternehmen in die Lage kommen soll, das ungeheure Gebiet klar erkannter Forschungsaufgaben zu beackern. Es fehlt noch viel, bis Räumlichkeiten und Einrichtungen als genügend gelten können, viel, bevor für die im Institut Arbeitenden so gesorgt ist, daß sie ohne den lähmenden Gedanken an ihre Zukunft schaffen können. Wer hier der Wissenschaft dient, kann nicht nach irdischem Gewinn trachten, er darf auch nicht irgendwelche akademische Ehren erwarten. Denn bei den Prüfungen der indischen Universitäten wird nach dem im Westen anerkannten und kanonisierten Wissen gefragt. Und es müssen noch viele Jahre vergehen, bis Boses Entdeckungen sich auf dem Wege über anerkannte Lehrbücher durchsetzen.

Daraus ergibt sich klar, wie brennend die Frage ist, ob das Institut dauernd bestehen, seine Arbeiten fortsetzen und ausbauen kann. Gewiß, Bose hat dem Verwaltungsrat sein ganzes Vermögen Übermacht; aber ein internationales wissenschaftliches Institut kann nicht mit einem Stiftungseinkommen bestehen, das den Bedürfnissen nicht entfernt entspricht. Es wäre natürlich das denkbar größte Unglück, wenn ein Mann wie Bose auch noch von geschäftlichen und geldlichen Sorgen gequält würde. Sein einziges, alles verdrängendes Verlangen ist und muß sein: seine ganze Kraft seinem Werke zu widmen, um mit ungehemmter Stoßkraft die zahlreichen neuen Forschungsgebiete, zu denen seine Untersuchungen unaufhörlich führen, zu erschließen und womöglich abschließend zu bearbeiten, Möglichkeiten, die anscheinend kein anderer so klar durchschaut, wenn überhaupt erfaßt hat.

Aber diese unbedingt notwendige Ruhe und Muße zum Ausbau seines Werkes wird er offenbar noch einige Jahre lang nicht finden können. Er mußte sich erst Nachfolger in der Verwaltung des Institutes heranbilden. Er hatte gleich zu Beginn Glück, als er für den Posten eines stellvertretenden Direktors einen früheren Schüler gewann, der bereits Beweise seiner Fähigkeiten und seiner Hingabe für wissenschaftliche Forschung geliefert hatte. Allen, die unter ihm arbeiten, hat Bose jede denkbare Möglichkeit zu eigenwüchsiger Entfaltung gegeben.

Gegen Ende 1919 fühlte sich Bose gedrungen, zum Besten seines Instituts noch einmal nach England zu gehen, um ein für allemal die wissenschaftliche Welt von der Bedeutung dessen zu überzeugen, was das moderne Indien der Wissenschaft geschenkt hat.

Doch der gewählte Zeitpunkt schien alles andere als günstig. Boses englische Freunde wiesen warnend auf die Wirrnis der politischen und sozialen Verhältnisse hin. Die allgemeine Lage und Stimmung ließen im ersten Jahre des sogenannten Friedens noch wenig von einer Rückkehr zu normalen Verhältnissen erkennen. Er werde erfahren, hieß es, daß er jetzt kein Interesse für seine wissenschaftliche Arbeit, geschweige denn für sein Institut erwecken könne. So pessimistisch diese Stimmen waren, ließ sich Bose durch nichts abschrecken und landete Mitte November in London.

Die Aufnahme, die er dort fand, war gründlich von dem verschieden, was seine Freunde in England und Indien ihm vorausgesagt hatten. Man hätte glauben können, all die Ereignisse der vergangenen Jahre hätten England empfänglicher gemacht für die Entdeckungen, die in früheren Jahren als fraglich und entlegen gegolten hatten. Es war, als hätten sich alle Türen weit aufgetan.

Die offizielle Anerkennung durch führende Geister wurde ihm im Dezember zuteil in Gestalt einer vom indischen Staatssekretär, Herrn Montagu veranstalteten Zusammenkunft im India Office. Er war für Boses Werk begeistert, seit er ihn vor vier Jahren, als er noch Untersekretär war, in Kalkutta kennengelernt hatte. Bose wurde eingeladen, unter dem Vorsitz Arthur Balfours einen Vortrag mit Vorführung zu halten. Man übertreibt wohl nicht, wenn man behauptet, das Ereignis habe nicht seinesgleichen in der Geschichte des India Office gehabt. Den Vortragsraum füllte eine auserlesene und äußerst repräsentative Hörerschaft, die die Darbietungen mit spontaner Begeisterung aufnahm. Bose führte eine besonders bezeichnende Reihe von Ergebnissen vor und zeigte die Arbeitsweise des magnetischen Crescpgraphen, der den Anwesenden zweifellos in überwältigender Weise offenbarte, wie sehr sich die Welt experimentellen Wissens heutzutage erweitert.

Bose erregte so lebhafte Teilnahme, daß ausführliche Berichte über den Vortrag nach dem Festlande und nach Amerika gekabelt wurden, während die englische Presse der Veranstaltung so viel Raum und dem indischen Gelehrten soviel Anerkennung widmete, wie man es von der Behandlung wissenschaftlicher Ereignisse in Tageszeitungen nicht gewohnt ist. Ein Leitaufsatz der Times enthielt folgenden Absatz:

"Sir Jagadis Chunder Bose ist ein treffliches Beispiel für die Fruchtbarkeit einer Verschmelzung altindischen Mystizismus mit den experimentellen Methoden der abendländischen Wissenschaft. Als wir Europäer noch in dem groben Empirismus des barbarischen Lebens steckten, hatte der scharfsinnige Osten bereits das ganze All in eine Einheit gefaßt und das Eine in all seinen wechselnden Offenbarungen erkannt.....Er betreibt die Wissenschaft nicht allein um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer Nutzanwendung zum besten der Menschheit. Wir begrüßen die Erweiterung unseres Wissens, die wir ihm verdanken, vor allem aber begrüßen wir in ihm den Beweis, daß Indien und Großbritannien ihre schöpferische Fähigkeiten zu wechselseitigem Vorteile vereinigen können."

Professor J. Arthur Thomson schrieb in einem größeren Aufsatz im New Statesman: "Es entspricht ganz der geistigen Eigenart Indiens, daß der Forscher der allem zugrunde liegenden Einheit tiefer nachspürt, als wir es bisher versuchten, daß Reaktionen und Gedächtniseindrücke im Lebendigen mit den entsprechenden Erscheinungen im anorganischen Stoff in Beziehung bringt und schon im voraus die Linien der Physik, der Physiologie und der Psychologie sich nähern und treffen sieht. Das sind Fragestellungen eines der hervorragendsten Experimentatoren, den wir heute mit Stolz in unserer Mitte begrüßen."

Schon einen Monat nach seiner Ankunft in London hatte Bose also überreichliche Beweise der leidenschaftlichsten und weitestgehenden Teilnahme für seine Arbeit und ihre Bedeutung für die Welt. Soweit seine Fachgenossen und die gebildete Welt im allgemeinen in Frage kommen, ist das gar nicht so verwunderlich. Die Jahre des Krieges, die Jahre seit seiner letzten Englandreise waren eine Zeit beispiellosen geistigen Erwachens im Gebiete der angewandten Wissenschaft und des Experimentes, dessen Erfolge alles bisher Bekannte in den Schatten stellte. Dadurch steigerte sich der Reiz aller Forschungsarbeit und aller Erörterung der geheimnisvollen Lebensvorgänge und vor allem der Grenzerscheinungen zwischen dem Beseelten und dem sogenannten Unbeseelten. Dieser Wissensdurst findet sich heute auch beim Durchschnittsmenschen in einem bisher unbekannten Maße.

Die Aufmerksamkeit der führenden Geister der wissenschaftlichen Forschung hatte sich Bose ja in den letzten Jahren völlig gesichert. Als er vor dem Kriege ein provisorisches Laboratorium in Maida Vale einrichtete, bekam er ständig Besuch von Männern, die sich auf mancherlei Lebensgebieten ausgezeichnet hatten. Im Frühling 1920 besichtigten fast alle führenden Gelehrten sein Laboratorium in Bloomsbury Square. Er wurde von den Universitäten in Oxford und Cambridge eingeladen, wo er in einem aufnahmefreudigen Zuhörerkreise seine Forschungsergebnisse vortrug und vorführte. Der Vizekanzler der Universität Leeds lud ihn sehr herzlich zu einem Vortrag ein. Sir Michael Sadler, der kurz vorher als Vorsitzender des Ausschusses zur Neugestaltung der Universität Kalkutta in Indien gewesen, begrüßte ihn im Namen der Universität. Daß er mit Boses Leistungen als akademischer Lehrer und seine eigenen Wege wandelnder Forscher wohl vertraut war, gab seinen Worten besonderes Gewicht. Indien, sagte er, brauchte mehr Wissenschaft in seiner Mittel- und Hochschulbildung und Befreiung von der Tyrannei zu weit getriebener Prüfungen. Als er mit seinen Kollegen das Bildungswesen in der Präsidentschaft Bengalen inspiziert hatte, sei ihm deutlicher als je klar geworden, was das Werk Sir Jagadis' nicht nur für Bengalen, sondern für ganz Indien bedeute. Der schöpferische Geist Indiens und der Englands sollten in gemeinsamer Arbeit ihr Bestes in voller Freiheit und unter einem hervorragenden Führer leisten. Das große Werk der Wissenschaften und Künste könne nicht unter pedantischem Examenszwang gedeihen, sondern in Anstalten, die der Ergründung eines großen Problems gewidmet seien. Der Name Boses und der seines Institutes in Kalkutta wirke auf Tausende in Indien wie ein Leuchtfeuer, weil dort in Freiheit und voller Hingabe die Wissenschaft um der Wissenschaft willen betrieben werde.

Die Universität Aberdeen zeichnete Sir Jagadis aus, indem sie ihm den Grad eines LL. D. (Doktor der Rechte) ehrenhalber verlieh, als Anerkennung der bedeutsamen Beiträge, mit denen er die allgemeine Physiologie gefördert habe und für seine Erforschung der Reizbarkeit der Pflanzen.

Noch ein Wort ist zu dieser endgültigen Aufnahme und Anerkennung von Seiten seiner europäischen Berufsgenossen zu sagen, womit wir das bedeutsamste aller Ereignisse berühren. Als höchste Ehre, die einem Gelehrten zuteil werden kann, gilt in den sämtlichen britischen Dominions das Fellowship der Royal Society. Sie wurde Bose verliehen, gerade als das vorliegende Buch in Druck ging (Mai 1920) in Anerkennung seiner Leistung nicht nur in der Physik, sondern auch in der Physiologie, und bedeutet für ihn die krönende Ueberwindung all der Schwierigkeiten zweier Jahrzehnte, gleicht einer endgültigen Entscheidung von fast dramatischer Einmütigkeit. Im Mai 1901 hatte Bose der Royal Society die Ergebnisse seiner ersten Arbeiten über die Antwort der Pflanzen mitgeteilt. Wie bereits erwähnt, wurde seine Abhandlung zurückgewiesen. Fast zwanzig Jahre währte es, bis die Wahrheit sich völlig durchsetzte, zwanzig Jahre angespannter, unablässiger Arbeit, um neue Forschungsmethoden zu finden. Dann aber siegte Bose mit seinen Experimenten, die, zuerst angezweifelt und herabgesetzt, inzwischen dem Reiche menschlichen Wissens eine neue Provinz eroberten. Was 1901 als zweifelhaft und unverständlich galt, wurde 1920 anerkannt und begeistert begrüßt. Boses einstige Gegner waren jetzt seine wärmsten und treuesten Freunde, und in der Royal Society vereinigten sich Physiker, Physiologen' und Psychologen, um ihrem Kollegen, dem Künder aus dem Osten, die Ehre des Fellowship zu verleihen.

Manche glaubten, Vorurteile gegen den Ausländer seien daran schuld, daß die offizielle Anerkennung durch die höchste wissenschaftliche Instanz erst so spät kam. In Boses Fall ist ein derartiger Erklärungsversuch sinnlos. Von Anfang bis zu Ende galt er unter seinen Berufsgenossen als Mann der Wissenschaft. In den Aussprachen über Eigenart und besonderen Wert der außergewöhnlichen Ergebnisse, mit denen sein Name und Ruf verbunden sind, trat auch nicht das geringste Mißverständnis zwischen Osten und Westen zutage. Sein großes Lebenswerk gewann ihm die begeisterte Bewunderung der Gelehrten aller Welt: Das wurde erst jüngst wieder bei einer besonderen Gelegenheit deutlich. Ein ganz unbekehrbarer unter seinen Gegnern schrieb an die Times, er bezweifle die Zuverlässigkeit des Crescographen und schlage vor, ihn in einem Laboratorium maßgebenden Fachleuten vorzuführen. Bose nahm die Herausforderung an. Das Ergebnis der Vorführung gab Anlaß zu einer so einmütigen Beifallskundgebung, daß sie wahrscheinlich in der neueren Geschichte der Wissenschaft einzigartig dasteht. In der Zeitschrift "Nature" erschien am 6. Mai 1920 der folgende Absatz:

"Die Empfindlichkeit von Sir Jagadis Boses Crescograph ist so auffallend, daß die Zuverlässigkeit seiner Angaben über das Wachstum der Pflanzen kürzlich angezweifelt und die Vermutung geäußert wurde, die von dem Instrument registrierten Bewegungen seien physikalischen Veränderungen zuzuschreiben. Eine Vorführung im Londoner University College am 23. April veranlaßte indes Lord Rayleigh und die Professoren Bayliß, V. H. Blackman, A. J. Clark, W. C. Clinton und F. G. Donnan, in der Times vom 4. Mai zu erklären: "Wir haben uns überzeugt, daß das Instrument das Wachstum der Pflanzengewebe genau verzeichnet, und zwar in ein- bis zehnmillionenfacher Vergrößerung". Sir W. H. Bragg und Professor F. W. Oliver, die anderwärts ähnliche Vorführungen sahen, bezeugen ebenso, daß der Crescograph tatsächlich die Reaktion im lebenden Pflanzengewebe auf jeden Reiz genau anzeigt.

Wir drucken im folgenden einen Abschnitt aus Boses würdevollem Brief an die "Times" vom 5. Mai ab:

"Kritik, die die Grenzen des Anstands überschreitet, muß unvermeidlich den Fortschritt der Wissenschaft hemmen. Meine Forschungen sind infolge ihrer Besonderheit außergewöhnlichen Schwierigkeiten begegnet. Ich muß leider sagen, daß zwanzig Jahre lang diese Schwierigkeiten durch falsche Darstellung und noch Schlimmeres wesentlich gesteigert wurden .... Die mir absichtlich in den Weg gelegten Hindernisse darf ich ja heute ignorieren und vergessen. Wenn das Ergebnis meiner Arbeit hie und da die Gegnerschaft eines einzelnen erregte, weil sie diese oder jene Theorie erledigte, so kann ich mich um so mehr über den herzlichen Willkomm freuen, der mir durch die große Mehrzahl der Gelehrten Englands bereitet wurde."

Der Orthodoxie in Wissenschaft und Religion macht es Schwierigkeiten, eine neue Wahrheit mit der alten Theorie in Einklang zu bringen. Der Neuerer, dessen Wort oder Werk man nicht annehmen kann, ohne gültige Dogmen zu verändern oder abzubauen, kennt das Schicksal, das ihm bevorsteht, nur zu gut. Er muß sich durchkämpfen. Das Reich der Wissenschaft wird nur im Sturme gewonnen. Im Falle J. C. Boses hat die Royal Society einen Neuerer aufgenommen und sein Werk gekrönt.

Die Lebensgeschichte Jagadis Boses verdient von allen jungen Indern, die sich für den Dienst an der Wissenschaft oder eine andere große geistige oder soziale Tätigkeit vorbereiten wollen, eingehend durchdacht zu werden. Weil sie nicht wissen, wie mühsam es lange bergauf ging und unter welchen Opfern das Ziel langsam erreicht wurde, könnten sie angesichts des endlich errungenen Erfolges denken, ein schönes Laboratorium oder äußere Hilsmittel seien die Voraussetzung für erfolgreiche Leistungen des schöpferischen Geistes. In Wirklichkeit verhält es sich aber ganz anders. Die zahllosen Hindernisse, die überwunden werden mußten, weckten in Bose die Ausdauer und Stoßkraft, die in mannhaften Naturen schlummern, so daß sich jene Charakterstärke und Spannkraft der Gedanken in ihm entfaltete, ohne die ein großes Lebenswerk unmöglich ist. Der junge Inder, der über den großartigen Aufstieg dieses Landsmanns nachdenkt, wird dadurch angespornt werden, sein Werk mit Kopf und Hand furchtlos zu wagen. So wird er nicht nur zur Wiedererweckung der edlen geistigen Ueberlieferung Altindiens begeistert, sondern auch zu ihrer Wiederaufnahme in heutigen Formen. Er wird die größte Aufgabe für Geist und Seele darin erblicken, diesen Ueberlieferungen eine lebendige Brücke in die Zukunft zu schlagen. Nur durch leidenschaftliches Suchen und Forschen, durch entschlossene und unablässige Arbeit, durch unmittelbare, persönlich aufbauende Tätigkeit schöpferischen Geistes kann Indien oder Europa oder die umfassende ewige Bruderschaft der Menschheit vorwärtskommen auf dem Wege zu ihrem so bitter notwendigen, langersehnten Neuaufbau.

Doch nun könnte man fragen: Was soll aber mit den unzähligen hart arbeitenden Millionen Indiens werden? Was bedeuten sie in dem großen wissenschaftlichen Arbeitsplan, und was bedeutet er für sie ? Dieselbe Frage könnte man natürlich ebenso für die Millionen Menschen in Europa und Amerika stellen, denn es ist klar, daß ihr volles Erwachen zu wissenschaftlicher Erkenntnis, ihre Eingliederung in das Beste was die Zivilisation zu bieten hat, noch lange auf sich warten lassen wird. In beiden Fällen muß die Antwort im wesentlichen gleich lauten: Erwachen und Eingliederung müssen am Ende einmal kommen, wenn nicht unsere moderne wissenschaftliche Welt tragisch in die Brüche gehen soll.

Für Indien ebenso wie für die Massen Europas gilt, daß Mangel an Bildung nicht unbedingt Finsternis bedeutet. Der indische Bauer ist nicht entfernt so unwissend, wie es den Gebildeten im allgemeinen scheint. Wir stellen uns die notwendige Popularisierung der Wissenschaft gewöhnlich so vor, als müsse man sie den Ungebildeten einfach durch Erklärung zugänglich machen. Doch das ist nur ein Teil. Durch sein Leben im Rahmen der Ueberlieferung, dessen geistige Wurzeln in dem organischen Wesen der Gesellschaft liegen, und dessen traditionelles Wissen die Generationen verbindet, wird das Volk indes dauernd befähigt, sich auf seine Weise mancherlei aus dem großen Schatz des allgemeinen Wissens anzueignen. Die Geschichte von einem mohammedanischen Bauern, der Bose einlud, in sein Haus zu kommen, damit seine Frauensleute ihn sehen könnten, ist eine entzückende Illustration hierzu. Es war kurze Zeit, nachdem die indischen Zeitungen die Nachricht verbreitet hatten, der bengalische Wundermann sei in jedem Lande, das er auf seiner Reise um die Welt besucht habe, mit Begeisterung empfangen worden. "Aber bin ich nicht ein Fremder?" fragte Bose, "und halten sie ihren Harem nicht sorgfältig verschlossen?" "Sie sind kein Fremder", erwiderte der Mohammedaner triumphierend. "Sie sind einer von uns. Ist nicht Ihr Wort überall hingedrungen"? Aehnlich war auch die Begeisterung seiner bäuerlichen Nachbarn in Sijberia. Von seinem Versuchsgarten sagten sie; "Dort reden des Nachts die Pflanzen zu ihm".

Auf seine eigene Weise also, die es zum Wesentlichen führt, kann das schlichte arbeitende Volk, wie es heute tatsächlich der Fall ist, von lebendigen Bewegungen ergriffen werden, die das Schrifttum beleben und erneuern und das Wissen vertiefen. Ihre Dichter und Schriftsteller, an der Spitze Rabindranath Tagore, und ihre Gelehrten, voran Jagadis Bose, bahnen ihnen einen Weg, ihnen und vor allem ihren Kindern. Denn offenbar reift erst in dem kommenden Geschlecht die Ernte dieser Saat, und dann wird immer mehr Land urbar gemacht.

Vielleicht wäre es am besten, von Bose in der Stille seines Dorfes Abschied zu nehmen und damit diesen Lebensbericht zu schließen. Aber mir ist als hörte ich ihn Einspruch erheben: "Nein, mein Werk endet nicht in dem Dorfe. Ich kam vom Dorfe und entdeckte eine größere Welt. Mein Leben war wie das Karnas, des Helden meiner Knabenzeit, immer Kampf, und so muß es bis zum Ende bleiben. Der Mensch soll sich nicht über die Verhältnisse beklagen, sondern sie tapfer auf sich nehmen, bekämpfen und beherrschen. Der Glaube, der meinen lebenslangen Traum von diesem Tempel der Wissenschaft endlich der Verwirklichung nahegebracht hat, bedeutet: Wenn man ein Ziel erkannt hat, dem man sich ganz weihen kann und muß, dann springt die verschlossene Pforte auf, und das scheinbar Unmögliche wird möglich".

Das Sinnbild für Boses Leben, Kampf und Erfolg ist also weniger das Dorf, in dem er aufwuchs und in das der reife Mann sich immer wieder zu Rast und Erholung zurückzieht, sondern die überschäumende Energie der Großstadt, in der sein Institut notwendigerweise liegen muß, und aus der es Stoßkraft und Antrieb empfängt. Nur wer kämpft und siegt, kann die Welt bereichern, indem er ihr großmütig die Früchte seiner siegreichen Erfahrung schenkt.


Erläuterung der Fußnoten.

1.Gutbesitzer.

2.On a self-recovering Coherer, Proceedings of the Royal Society, 1899. - On Electric Touch, and the Molecular Changes produced in Matter by Electric Waves. Proc. Roy. Soc. 1900.

3.Proceedings of the Royal Society 1901.

4.On the Strain Theory of Photographie Action. Proceedings of the Royal Society, London 1901.

5.Journal of the Chemical Society 1903.

6.De Ja Generalite des Phenomenes Moleculaires produits par L'Elec-tricite' sur la Matiere Inorganique et sur la Matiere Vivante. Congres International de Physique, 1900.

7.Hier mag eingeschaltet werden, daß bei der Royal Society hinsichtlich der in ihren "Proceedings" und "Transactions" (Verhandlungen und Berichten) zur Veröffentlichung gelangenden Vorträge ein von den "Comptes Rendus" der Französischen Akademie der Wissenschaften wesentlich verschiedener Brauch herrscht. In den letzteren wird jeder stattgehabte Vortrag gedruckt, und zwar allein auf Verantwortung seines Verfassers selbst. Die Royal Society hingegen hat ihre eigenen Publikationskomitees, weshalb die Veröffentlichung eines Vertrags besagt, daß er der Kritik eines solchen unterworfen worden ist. Schlechte Vorträge können daher leichter in den "Comptes Rendus" erscheinen, als in den "Proceedings", in denen dafür zuweilen neue Gedanken zurückgewiesen oder, wie das vorliegende Beispiel zeigt, beiseitegelegt werden. Auf alle Fälle neigt das englische Publikationsverfahren zur Verschleppung. Denn während in Paris die Vorlesungen, im großen ganzen wenigstens, regelmäßig in der folgenden Woche erscheinen, kann es mit den in London gehaltenen Monate, ja zuweilen ein Jahr lang oder zwei dauern. Allerdings werden Vorträge von .Gelehrten, deren gewohnte Tüchtigkeit und Genauigkeit dem einschlägigen Komitee bekannt ist, alsbald oder doch innerhalb kurzer Frist gedruckt. Dies war hinsichtlich Boses physikalischen Vorlesungen der Fall gewesen. Was den neuesten Vortrag anbetraf, so unterlag er freilich auch keiner Verzögerung: sein Schicksal war von vornherein besiegelt, und das Manuskript wurde alsbald dem Archiv übergeben.

8.Longmans, Green & Co., London 1902.

9.On Electromotive Wave accompanying Mechanical Disturbance in Metals', Proceedings of the Royal Society, 1902.

10.Sadhu ist ein Mann, der sich einem betrachtenden und religiösen Leben als Einsiedler oder Wanderer geweiht hat.

11.Plant Response, 1906, und Comparative Electro-Physiology, 1907. Longmans, Green & Co., London.

12.Response in the Living and Non-living, London 1902, Longmans, Green & Co. 199 S.

13.Plant Response, Longmans, Green & Co., 1906. 781 S.

14.Comparative Electro-Physiology, daselbst 1907. 760 S.

15.Researches on Irritability of Plants, Longmans 1913, 376 S.

16.On an Automatic Method for the Investigation of Velocity of Transmission of Excitation in Mimosa. Philosophical Transactions, vol. 204.

17.Transactions of the Bose Institute, vd. I, 1918.

18.Abhandlungen des Bose-Instituts Band I, 1918.
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