Richard Bach
DIE MÖWE JONATHAN
Für die wirkliche Mowe Jonathan,
die in uns allen lebt.
Es war Morgen, und die neue Sonne flimmerte golden über dem
Wellengekräusel der stillen See. Von einem Fischerboot, eine Meile vor der
Küste, wurden die Netze ausgeworfen. Blitzschnell verbreitete sich
die Nachricht in der Luft und lockte einen Schwarm Seemöwen
an. Tausende flitzten hin und her und balgten sich kreischend um
ein paar Brocken. Ein neuer Tag voller Geschäftigkeit hatte begonnen.
Nur ganz draußen, weit, weit von Boot und Küste
entfernt, zog die Möwe Jonathan ganz allein ihre Kreise. In dreißig
Meter Höhe senkte sie die Läufe, hob den Schnabel und
versuchte schwebend eine ganz enge Kurve zu beschreiben. Die
Wendung verringerte die Fluggeschwindigkeit; Jonathan hielt so
lange durch, bis das Sausen der Zugluft um seinen Kopf nur noch ein
leises Flüstern war und der Ozean unter ihm stillzustehen
schien. In äußerster Konzentration machte er die Augen schmal,
hielt den Atem an, erzwang noch ein...
einziges
.kleines...Stück...dann sträubte sich das Gefieder, er sackte
durch und kippte ab.
Niemals dürfen Seemöwen aufhören zu schweben
oder zu fliegen, niemals dürfen sie absacken. Für eine Möwe
bedeutet das Schmach und Schande.
Aber die Möwe Jonathan, die da so ungeniert und
ohne Zaudern nochmals mit ausgespannten Flügeln die
schwierige Kurve versuchte und immer langsamer werdend wieder
absackte, war kein gewöhnlicher Vogel.
Die meisten Möwen begnügen sich mit den
einfachsten Grundbegriffen des Fliegens, sind zufrieden, von der Küste
zum Futter und zurück zu kommen. Ihnen geht es nicht um die
Kunst des Fliegens, sondern um das Futter. Jonathan aber war das
Fressen unwichtig, er wollte fliegen, liebte es mehr als alles andere
auf der Welt. Diese Neigung machte ihn bei den übrigen Vögeln
nicht gerade beliebt, das merkte er bald. Selbst seine Eltern
waren unzufrieden, daß Jonathan ganze Tage mit seinen
Experimenten im tiefen Gleitflug verbrachte und seine Übungen
hundertfach wiederholte.
Er entdeckte zum Beispiel, ohne den Grund zu
wissen, daß er sich länger und müheloser in der Luft halten konnte,
wenn er ganz dicht über dem Wasser dahinflog, nur eine
halbe Spannweite seiner Schwingen hoch. Dann endete der
Gleitflug nicht mit dem üblichen Aufplatschen der vorgereckten Läufe,
er setzte vielmehr mit stromlinienförmig dicht am
Körper anliegenden Füßen in langem flachen Gleiten auf. Als er aber
dann auch bei Gleitflügen über dem Strand mit
angezogenen Beinen zur Landung anzusetzen begann und hinterher die
Länge der Gleitspur abtrippelte, da wurden seine Eltern wirklich böse.
«Wozu das, Jon? Warum in aller Welt?» fragte
seine Mutter. «Ist es denn wirklich so schwer, wie alle anderen zu
sein? Warum überläßt du den Tiefflug nicht den Pelikanen oder
dem Albatros?! Warum frißt du nicht wie die anderen? Du bist ja
nur noch Federn und Knochen, wie siehst du bloß aus.»
«Das ist mir ganz einerlei, Mama. Ich muß
herausfinden, was ich in der Luft kann und was nicht, das ist alles. Ich muß
es einfach wissen.»
«Sieh einmal, Jonathan», sagte sein Vater
nicht unfreundlich. «Bald kommt der Winter. Da gibt es nicht
viele Boote, und die Fische schwimmen nicht mehr dicht unter
der Oberfläche, sondern in der Tiefe. Wenn du unbedingt etwas
lernen willst, dann lerne, wie man sich sein Futter beschafft.
Fliegerei, gut und schön, aber von einem Gleitflug kann man
nichts abbeißen, verstehst du? Zweck des Fliegens ist, daß man
etwas zu Essen hat, vergiß das nicht.»
Jonathan nickte gehorsam. Einige Tage lang
versuchte er, genauso wie die übrigen Möwen zu sein; er gab sich
wirklich alle Mühe, er flatterte und kreischte mit dem Schwarm um
die Anlegestellen und Fischerboote und schnappte im Sturzflug
nach Fischabfällen und Brotkrumen, aber er war nicht glücklich dabei.
Es ist so sinnlos, dachte er und ließ absichtlich eine
mit Mühe ergatterte Sardine fallen, die ihm eine alte hungrige
Möwe abjagen wollte. Schade um die Zeit wieviel könnte ich
da richtig fliegen üben. Ich muß noch so viel lernen!
Und so dauerte es denn nicht lange, und die
Möwe entwischte wieder, wagte sich weit auf die offene See hinaus
und machte hungrig, aber glücklich neue Flugversuche.
Jetzt ging es Jonathan um die Geschwindigkeit.
Nachdem er eine Woche geübt hatte, wußte er darüber mehr als jede
andere Möwe. Aus dreihundert Meter Höhe stürzte er sich nach
kräftigen Flügelschlägen tollkühn in die Tiefe, den Wellen entgegen,
und lernte durch Erfahrung, warum keine Möwe mit voller
Wucht solche Sturzflüge versucht. Schon nach sechs Sekunden schoß
er mit einer Geschwindigkeit von mehr als hundert Stundenkilometern abwärts, und bei diesem Tempo können
die Schwingen dem Luftdruck nicht standhalten.
Es war immer das Gleiche. So sehr er sich auch
bemühte und anstrengte bei hoher Geschwindigkeit verlor er
die Kontrolle über den Flügelschlag.
Er stieg hoch auf, mit voller Kraft, setzte flatternd
zum senkrechten Sturzflug an, und dann versagte immer wieder
der linke Flügel im Aufschlag, daß der Körper heftig nach
links abdrehte. Er fing sich durch Abstellen des rechten Flügels
wieder und schoß wie ein Blitz kreiselnd schräg nach rechts abwärts.
Er konnte gar nicht achtsam genug sein.
Zehnmal nacheinander ersuchte er den Sturz, und jedesmal zerflatterte
er bei der hohen Geschwindigkeit und klatschte haltlos als
wild gestraubtes Federnbündel hart auf dem Wasser auf.
Schließlich dachte er tropfnaß , vielleicht darf
man bei hohen Geschwindigkeiten die Flügel nicht bewegen, muß
bis zirka fünfzig mit den Flügeln schlagen und sie dann stillhalten.
Er versuchte es noch einmal. Aus sechshundert
Meter Hohe kippte er, Schnabel senkrecht nach unten zum
Sturzflug, flatterte mit voll ausgespannten Schwingen bis zu
einer Stundengeschwindigkeit von etwa achtzig Kilometern und
hielt sie dann unbeweglich weit ausgespannt. Das erforderte alle
seine Kräfte, aber es gelang. Innerhalb von zehn Sekunden hatte er
das schwindelnde Tempo von hundertfünfzig
Stundenkilometern erreicht und überschritten. Jonathan hatte einen Weltrekord
in Geschwindigkeit unter Seemöwen aufgestellt!
Doch der Sieg war trügerisch. Kaum änderte er
zum Aufsetzen aus dem senkrechten Sturzflug den Winkel
der Flügelstellung, so verlor er die Kontrolle, der Luftdruck traf
ihn wie eine Sprengladung. Er schien mitten in der Luft
zu explodieren, dann prallte er auf die See auf, die hart war
wie Beton.
Als er wieder zu sich kam, war es bereits dunkel, er
trieb im Mondlicht auf dem Meer dahin. Die Flügel waren
zerzaust und schwer wie Blei, doch noch schwerer bedrückte ihn
das Gefühl des Versagens. Fast wünschte er, die Last möge ihn
sacht auf den Grund drücken, daß alle Mühe ein Ende habe.
Doch als er langsam tiefer sank, klang es seltsam
dumpf aus ihm heraus: Du darfst nicht aufgeben, aber du bist nur
eine Möwe und kannst über deine Natur nicht hinaus. Wärest du
zu solchen Flügen bestimmt, dann hättest du dafür
Diagramme, Richtlinien im Kopf-Wärest du zum raschen Fliegen
bestimmt, du hättest kurze Flügel wie der Falke und würdest Mäuse
fressen statt Fische. Dein Vater hatte recht Schluß mit den
Torheiten. Flieg heim zu deinem Schwarm und finde dich damit ab,
daß eine kleine Seemöwe ihre Grenzen hat.
Die Stimme schwieg, und Jonathan mußte ihr
zustimmen. Möwen verbringen die Nacht nahe der Küste, auf dem
Wasser; und er wollte von jetzt an eine normale Möwe sein, sich
dem Schwarm zugesellen, glücklich sein unter seinesgleichen.
Erschöpft hob er sich von der dunklen Wasserfläche
ab und zog mit mattem Flugelschlag landeinwärts, froh, daß er
früher den kräftesparenden Flug in niedriger Höhe geübt hatte.
Doch nein, Schluß mit alten Gewohnheiten. Schluß
mit allem Lernen. Ich bin eine Möwe, dachte er, ich bin wie
die anderen Möwen, ich will auch fliegen wie die anderen
Möwen. So stieg er mühsam bis zu dreißig Meter Höhe, schlug
angestrengt mit den Flügeln und strebte der Küste zu.
Er war erleichtert über die Entscheidung. Er fühlte
sich befreit von allem Zwang zum Lernen, von nun an würde es
keine Herausforderung mehr geben, keine Fehlschläge. Und es
war angenehm, so gedankenlos durch das Dunkel auf die Lichter
an der Küste zuzufliegen. Dunkel! Die dumpfe innere
Stimme meldete sich, brüchig im Erschrecken.
Möwen fliegen nicht bei Dunkelheit!
Jonathan beachtete sie nicht. Schön, dachte er. Mond
und Sterne blinken im Wasser und ziehen ihre schmalen
Leuchtspuren durch die Nacht. Alles ist friedlich und still...
Komm herunter! Möwen fliegen nicht bei
Dunkelheit! Nie! Wärest du zum Nachtflug bestimmt, du hättest Augen
wie die Eule. Du hättest Blindflugkarten im Kopf! Du hättest
die kurzen Flügel des Falken!
Doch die Möwe Jonathan, die in dreißig Meter Höhe durch
die Nacht flog, achtete nicht auf die Warnung, hörte nur die
letzten Worte. Angst, Erschöpfung, gute Vorsätze waren vergessen.
Kurze Flügel. Die kurzen Flügel des Falken!
Das war die Losung! Was für ein Narr war ich dochl
Ich brauche nur winzig kleine Flügel, ich brauche meine Flügel
nur einzuziehen, nur mit den Flugelspitzen zu fliegen!
Kurze Flügel!
Er schwang sich sechshundert Meter über die
schwarze See empor, und ohne auch nur eine Sekunde an Mißerfolg
und Tod zu denken, faltete er die Flügel an den Rumpf, daß nur
die wie schmale Sicheln gebogenen Spitzen dem Wind
ausgesetzt waren, dann ließ er sich senkrecht fallen.
Tosend brauste die Luft um seinen Kopf.
Hundert Kilometer Stundengeschwindigkeit,
hundertfunfzig, hundertneunzig und noch mehr. Der Anprall des Flugwindes
auf die Flügel war nun nicht annähernd so stark wie vorher:
jetzt konnte er sich mit einer ganz leisen Wendung der
Flügelspitzen abfangen, aus der Senkrechten in die Waagrechte übergehen
und wie eine grauweiße Kugel unter dem Mond über die
Wasserfläche hinschießen.
Gegen den Wind schloß er die Augen halb und
schrie jubelnd. Zweihundert Kilometer in der Stunde in
voller Flugbeherrschung! Wenn ich aus der doppelten Höhe
herabstoße wie schnell ich dann wohl bin? Alle guten Vorsätze
waren vergessen, waren fortgerissen von diesem Geschwindigkeitsrausch. Ohne Bedenken brach er
das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte. Derlei
Schwüre gelten nur für Möwen, die mit dem Mittelmaß zufrieden
sind. Wer einmal das Außerordentliche erfahren hat, kann sich nicht
mehr an die Normen des Durchschnitts binden.
Als die Sonne aufging, war die Möwe Jonathan
längst wieder bei ihren Flugversuchen. Aus fünfzehnhundert
Metern Hohe waren die Fischerboote nur noch Punktchen auf der
weiten blauen Wasserfläche, war der Schwarm futtersuchender
Möwen nur noch eine blasse Wolke aus kreiselnden Staubteilchen.
Und er lebte leise bebend vor Entzücken, stolz,
seine Furcht gezwungen zu haben. Ohne lange Vorbereitungen legte
er die Armschwingen fest an, spreizte die
geschweiften Handschwingen aus und stürzte sich senkrecht hinab.
Bei zwölfhundert Metern über dem Meer hatte er die
äußerste Geschwindigkeit erreicht. Wie eine kompakte Wand aus
Gebrüll schlug ihm die Luft entgegen und machte weitere
Beschleunigung unmöglich. Er flog jetzt abwärts mit über zweihundert
Kilometern pro Stunde Er schluckte krampfhaft Entfalteten sich bei
diesem Tempo die Flügel ganz wenig, dann würde er in winzige
Fetzchen zerplatzen, nichts würde von ihm bleiben. Aber
Geschwindigkeit war Macht, war Schönheit, war reines Gluck.
Bei dreihundert Metern versuchte er wieder
hochzuziehen. Die Flügel dröhnten und schwirrten im übermäßigen
Luftdruck, Boot und Möwenschwarm kippten seitwärts ab und schienen
dann mit meteorgleicher Schnelligkeit genau in seine Flugbahn
zu stürzen.
Er konnte nicht anhalten, er wußte nicht einmal, wie
er bei diesem Tempo wenden konnte.
Zusammenstoß bedeutete Tod.
Er schloß die Augen.
Und so geschah es, daß die Möwe Jonathan an
jenem Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, im rasenden Sturzflug
wie ein Schuß durch das Zentrum des Mowenschwarms knallte,
ein schreckliches, kreischendes Bündel aus Luftwirbeln und
Federn. Doch das Glück blieb ihm treu, niemand kam zu Schaden.
Als er den Schnabel endlich wieder hochgereckt
hielt, flitzte er immer noch pfeilschnell dahin, und als er endlich
die Geschwindigkeit genügend verlangsamt hatte und aufatmend
die Flügel ausbreitete, war der Fischkutter wieder ein Punkt auf
dem Meer, zwölfhundert Meter unter ihm.
Er triumphierte. Ich habe höchste
Geschwindigkeit erreicht, über zweihundert Stundenkilometer. Ein
beispielloser Erfolg, das größte Ereignis in der Geschichte des Schwarms.
Eine neue Epoche beginnt. Während er zu seinem
einsamen Übungsplatz hinausflog und die Flügel zum Sturzflug
aus zweitausendvierhundert Metern einfaltete, beschloß er,
nun herauszufinden, wie man im Sturz die Richtung ändern kann.
Und auch das gelang Verstellte er nur eine einzige
Feder an der Flügelspitze um wenige Millimeter, so erreichte er
auch bei großen Geschwindigkeiten eine weiche, fließende
Kurve. Doch bis es soweit war, mußte er durch Versuch und Irrtum
lernen, daß man bei hoher Geschwindigkeit keinesfalls mehr als
eine Feder verstellen durfte, sonst kam man wie eine Gewehrkugel
in eine Drehung. So wurde Jonathan die erste und einzige
Möwe, die Kunstflugfiguren vollbrachte.
An diesem Tag nahm Jonathan sich nicht die Zeit,
den anderen Möwen seine Kunst zu zeigen, er übte weiter bis
nach Sonnenuntergang und entdeckte den Looping, die langsame
Rolle um die eigene Achse, das Rollen nach Punkten, das verkehrte
Trudeln, den Abschwung und das Windrad.
Es war Nacht geworden, als die Möwe Jonathan
sich wieder bei dem Schwarm an der Küste einfand. Jonathan
war schwindlig vor Müdigkeit, aber so glücklich, daß er beim
Landen noch einen Looping machte.
Wenn die anderen von diesem großen Durchbruch
hören, werden sie vor Freude außer sich sein, dachte er. Ein
herrliches Leben wird jetzt beginnen. Statt der einförmigen
Alltagsplage mit dem ewigen Hin und Her zwischen Küste und
Fischkuttern hat unser Leben jetzt einen tieferen Sinn! Wir vermögen uns
aus unserer Unwissenheit zu erheben, dürfen uns als höhere
Wesen von Können und Intelligenz verstehen Wir werden frei sein!
Der Höhenflug ist erlernbar!
Die kommenden Jahre lockten und glühten
voller Verheißung. Als er landete, hockten die Möwen bei
einer Ratsversammlung beisammen. die offenbar schon
lange andauerte.
In der Tat, sie hatten auf etwas gewartet.
«Möwe Jonathan, komm in die Mittel» Der Älteste
sprach die Worte ehr zeremoniell In die Mitte kommen, das
bedeutete entweder die großte Schande oder die größte Auszeichnung.
Man ehrte so die bersten Anführer der Möwen. Natürlich,
dachte Jonathan, der Schwarm heute morgen sie haben den
Großen Durchbruch mitangesehen. Aber ich brauche keine Ehrung.
Ich will kein Führer werden. Ich möchte sie nur teilhaben lassen
an dem, was ich entdeckt habe: möchte ihnen zeigen, welch
neue Horizonte sich für uns alle eröffnen.
Er trat vor.
«Möwe Jonathan», sagte der Alteste. «In deiner
Schande tritt in die Mitte vor die Augen deiner Sippe!»
Jonathan war wie vor den Kopf geschlagen. Die
Beine versagten den Dienst, die Flügel hingen schlaff, er horte nur
noch ein Drohnen. In die Mitte treten zur Schande? Unmöglich
Der Große Durchbruch
Sie mißverstehen es
Sie irren sich,
sie irren sich.
«
wegen skrupellosen Leichtsinns», intonierte
die Stimme streng, «mit dem gegen die Würde und die
Traditionen der Möwensippe verstoßen wurde
»
Zur Schande in die Mitte treten müssen, das
bedeutete, daß man ihn aus der Gemeinschaft der Möwen ausstieß, ihn
zu einem einsamen Dasein auf den Fernen Klippen verdammte.
«
eines Tages, Möwe Jonathan, wirst auch du
begreifen, daß sich Verantwortungslosigkeit nicht bezahlt macht. Leben,
das ist das Unbekannte, das Unerkennbare.
Wir wissen nur eines: Wir wurden in die Welt gesetzt,
wir müssen uns ernähren und uns, so lange es nur irgend möglich
ist, am Leben erhalten.»
Keine Möwe darf je dem Urteil der
Ratsversarmmlung widersprechen, doch Jonathan erhob die
Stimme. «Verantwortungslosigkeit?» rief er aus. «Meine Brüder!
Keiner kann mehr Verantwortungsbewußtsein beweisen als eine
Möwe, die ein höheres Ziel erkennt, die dem Ruf folgt und den Sinn
des Lebens findet. An die tausend Jahre sind wir nur mühselig
hinter Fischabfällen hergewesen, jetzt aber hat unser Leben einen neuen
Inhalt bekommen zu lernen, zu forschen, frei zu sein!
Gebt mir eine Chance, laßt mich euch zeigen, was ich
gefunden habe
» Der Schwarm hockte wie aus Stein.
«Die Bruderschaft ist zerbrochen», intonierten die
Möwen einmütig im Chor, schlossen feierlich die Augen und
wandten sich von ihm ab.
So verbrachte Jonathan sein weiteres Leben in
Einsamkeit und flog weit über die Fernen Klippen hinaus. Nicht
die Einsamkeit bedrückte ihn, nur die Tatsache, daß die
anderen Möwen die Herrlichkeit des Segens nicht erleben konnten,
daß sie sich weigerten, die Augen aufzumachen zu sehen.
Täglich wurden seine Fähigkeiten vollkommener.
Er lernte, im Sturzflug in Stromlinienhaltung weit genug ins
Wasser einzutauchen, um die seltenen wohlschmeckenden Fische
zu erlangen, die in Schwärmen unter der Oberfläche des
Ozeans dahinzogen.
Er brauchte keine Fischkutter und kein altbackenes
Brot mehr zum Leben Er lernte im Flug in der Luft zu schlafen,
indem er sich bei Nacht quer zum Wind stellte, der von der
Küste herblies. So vermochte er zwischen Sonnenuntergang
und Sonnenaufgang hundertsechzig Kilometer zurückzulegen.
Mit Hilfe des gleichen inneren Richtungssinnes durchstieß er
die schweren Seenebel und stieg über sie hinaus in blendend
lichte Höhen auf
indes die anderen Möwen zur selben Zeit auf
dem Boden hockend nichts als Nebel und Regen kannten.
Er lernte, auf Hochwinden weit ins Land hinein
zu schweben, um dort köstliche Insekten zu verspeisen. Was er
sich einst für seinen Schwarm erhofft hatte, ihm allein wurde es zuteil;
er lernte, was wahrhaft Fliegen heißt, und er bereute nie den
Preis den er dafür bezahlt hatte. Die Möwe Jonathan entdeckte,
daß nur Langeweile, Angst und Zorn das Leben der Möwen
verkürzen, nachdem diese drei von ihm gewichen waren, lebte er ein
langes und ein wahrhaft lebenswertes Leben.
Und eines abends geschah es: Zwei Möwen kamen,
und sie fanden Jonathan friedvoll und einsam unter seinem
geliebten Himmel schwebend. Sie tauchten neben seinen Schwingen
auf, sie schimmerten in reinstem Weiß und erhellten mit
sanftem, sternenhaftem Leuchten die Nacht Das Schönste aber war
ihr meisterhafter Flug. Ihre Schwingen bewegten sich
in vollkommenem Gleichmaß, und die Flugelspitzen hielten sich
in geringem Abstand neben den seinen.
Wortlos unterwarf Jonathan sie seiner Prüfung, die
noch nie eine Möwe bestanden hatte. Er drehte die Flügel
und verlangsamte seinen Flug fast bis zum Stillstand. Die
beiden strahlenden Vögel taten das gleiche mühelos, ohne die Lage
zu verändern. Sie wußten um den langsamen Flug.
Er legte die Flügel ein, kippte vornüber und ließ sich
in einen rasenden Sturzflug fallen. Sie stürzten mit ihm,
schossen in geschlossener Formation senkrecht hinab.
Schließlich zog er bei gleichbleibender
Geschwindigkeit kerzengrade hoch in eine endlose, vertikale Spirale, und
sie folgten wie schwerelos. Er fing sich zu horizontalem Flug ab
und schwieg lange. Dann fragte er Wer seid ihr?»
«Wir sind von deiner Art, Jonathan. Wir sind
deine Brüder». Stark und ruhig tönten die Worte. «Wir sind
gekommen, um dich hoher hinauf zu geleiten, wir holen dich heim».
«Ich bin nirgends daheim. Ich gehöre zu keinem
Schwarm. Ich bin ein Ausgestoßener. Und wir fliegen jetzt schon sehr
hoch, wir fliegen auf dem Gipfel des Großen Bergwindes Viel
höher kann ich diesen alten Leib nicht mehr erheben.»
«Doch, du kannst es, Jonathan. Du hast viel gelernt.
Die eine Lehrzeit ist zu Ende, die Zeit ist gekommen, um in
einer anderen neu zu beginnen.»
Das Licht, das ihm sein Leben lang geleuchtet hatte,
das Licht des Verstehens, erhellte auch diesen Augenblick. Die
Möwe Jonathan verstand. Sie hatten recht. Er
konnte höher fliegen, es war Zeit heimzugehen.
Mit einem letzten, langen Blick nahm er Abschied
von seinem Himmel, von diesem majestätischen silbernen Reich,
das ihn soviel gelehrt hatte.
«Ich bin bereit», sagte er dann.
Und die Möwe Jonathan erhob sich mit den
beiden sternenhellen Möwen und entschwand in
vollkommene Dunkelheit.
Zweiter Teil
Das also ist das himmlische Paradies,
dachte er amüsiert. Seine Empfindungen waren nicht
besonders ehrerbietig, wo er doch anscheinend gerade in den Himmel
kam. Während er in enger Flugformation mit den zwei
strahlenden Möwen über die Wolken aufstieg, begann auch sein Gefieder
so hell zu strahlen wie das ihre. Immer hatte hinter den
goldenen Augen unwandelbar jung die Möwe Jonathan existiert, und
sie lebte weiter, nur die äußere Form verwandelte sich
Es schien der vertraute Körper zu sein, doch
Jonathan flog besser und leichter als je zuvor. Ich werde mit halber
Kraft zweifache Geschwindigkeit erreichen, dachte er, werde
die Leistungen meiner besten Erdentage verdoppeln.
Sein Gefieder leuchtete jetzt ganz weiß, und
seine Schwingen schimmerten glatt und vollendet wie poliertes
Silber. Voller Freude erprobte er sie und ließ seine Kraft in diese
neuen Flügel einströmen.
Bei vierhundert Stundenkilometern spürte er, daß er
sich seiner Höchstgeschwindigkeit im Horizontalflug näherte.
Bei vierhundertfünfzig hatte er das äußerste erreicht und war
fast etwas enttäuscht. Auch dieser neue Körper war also in
seinen Möglichkeiten eingeschränkt. Er hatte zwar seinen
früheren Weltrekord überboten, doch immer noch gab es eine Grenze,
die ihn zu großen Anstrengungen herausforderte. Im Himmel,
dachte er, im Himmel sollte es keine Beschrankungen mehr geben.
Die Wolkendecke riß auf, seine Begleiter
riefen: Glückliche Landung, Jonathan,» und lösten sich in
durchsichtige Luft auf. Er schwebte über einem Meer auf eine zerklüftete
Küste zu. Einzelne Möwen kämpften mit den Aufwinden über
den Klippen Fern im Norden, fast am Rande des Horizonts,
kreisten noch ein paar Vögel. Neue Ausblicke, neue Gedanken, neue
Fragen. Warum nur so wenig Möwen? Der Himmel müßte
voll von Schwärmen sein. Und er war so müde. Im Himmel dürfte
es doch keine Müdigkeit geben. Muß man hier auch
schlafen? Schlafen? Wo hatte er das Wort gehört? Die Erinnerung an
sein Erdendasein verflüchtigte sich. Gewiß war die Erde ein
Platz gewesen, wo er manches gelernt hatte, aber die
Einzelheiten verschwammen. Futter suchen oder so ähnlich und ja
Verbannung.
Die Möwen vor der Küste flogen ihm zur
Begrüßung entgegen, doch gaben sie keinen Schrei, keinen Laut ab.
Trotzdem fühlte er, daß er willkommen war und daheim. Es war ein
großer Tag für ihn, aber an den Sonnenaufgang dieses Tages
erinnerte er sich nicht mehr.
Er kreiste tiefer, flatterte nah über dem Boden fast
auf der Stelle, dann setzte er leicht auf dem Sand auf. Die
anderen Möwen aber landeten schwebend, keine bewegte auch nur
eine Feder. Die schimmernden Flügel weit ausgespannt drehten sie
in den Wind, dann änderten sie, Gott weiß wie, die Stellung
der Schwungfedern und kamen im Augenblick zum Stillstand, da
sie mit den Füßen den Boden berührten. Die
vollkommene Korperbeherrschung war herrlich. Doch Jonathan war zu
müde, es auch so zu versuchen. Da, wo er aufgesetzt hatte, war er
im Stehen eingeschlafen.
Dann folgte ein Tag dem anderen. Auch hier übte
Jonathan unablässig neue Flugtechniken wie in dem Leben, das hinter
ihm lag. Nur eines war anders. Die Möwen hier fühlten wie er.
Jede einzelne erstrebte die höchste Vollkommenheit auf dem
Gebiet, das allen das wichtigste war: dem Fliegen Es waren
großartige Vögel, alle. Täglich verbrachten sie viele Stunden damit, ihre
Flugtechnik zu üben und sich im Kunstflug zu erproben.
Jonathan vergaß alles Frühere. Versunken war die
Welt, aus der er gekommen war, vergessen der Schwärm, der die
Augen gegen die Herrlichkeit des Fliegens verschlossen hatte und
die Flügel einzig als Mittel zum Zweck beim Futtersuchen und
Raufen um die Nahrung gebrauchte. Doch ab und an blitzte
sekundenlang die Erinnerung auf, und dann kamen die Fragen. So geschah
es an einem Morgen, als sein Lehrer und er nach einer Serie
von Loopings mit anliegenden Flügeln auf dem Wasser ausruhten.
«Wo sind sie denn alle, Sullivan?» dachte er. Er war
jetzt mit der mühelosen Gedankenübertragung vertraut, die hier
das Kreischen und Krächzen der Möwen auf der Erde ersetzte.
«Wieso sind nicht mehr von uns hier? Es gab doch
»
«
Tausende und Abertausende von Möwen ich
weiß.» Sullivan schüttelte den Kopf. «Ich kenne nur eine
Antwort, Jonathan. Du bist wahrscheinlich einer unter Millionen, die
große Ausnahme. Die meisten von uns sind nur ganz
allmählich weitergekommen, von einer Welt in die nächste, die dann
anders war. Wir vergaßen sofort, woher wir gekommen waren, und
es kümmerte uns nicht, wohin wir gingen. Wir lebten nur für
den Augenblick. Es ist kaum vorstellbar, durch wie viele Leben
wir hindurch mußten, bis wir verstanden, daß Leben mehr ist
als Fressen und Kämpfen und eine Vormachtstellung im
Schwarm einnehmen. Tausend Leben, zehntausend, und danach
vielleicht noch hundert Leben, ehe uns die Erkenntnis aufdämmerte,
daß es so etwas gibt wie Vollkommenheit, und dann nochmals
hundert Leben, um endlich als Sinn des Lebens die Suche nach
der Vollkommenheit zu sehen und zu verkündigen. Diese Regel
gilt auch jetzt. Wir erlangen die nächste Welt nach dem, was wir in
dieser gelernt haben. Lernen wir nichts hinzu, so wird
unsere nächste Welt nicht anders sein als diese, sie bietet die
gleichen Beschränkungen, und es gilt, die gleiche bleischwere Last
zu überwinden».
Er breitete die Schwingen aus und wendete den Kopf
in den Wind. «Du aber, Jon», sagte er, «hast so viel auf
einmal gelernt, daß du nicht durch viele tausend Leben mußtest,
um hierher zu gelangen». Und wieder schwangen sie sich in die
Lüfte und setzten ihre Übungen fort. Beim Fliegen in der
Formation waren die Drehungen um die eigene Achse besonders
schwierig, da die Hälfte der Flugfigur Rückenlage erforderte. Jonathan
mußte dabei umdenken, mußte die Flügel zurückstoßen und
die Flugelhaltung genau auf die seines Mentors abstimmen.
Immer wieder sagte Sullivan: «Versuchen wir es noch einmal,
versuchen wir es noch einmal.» Und endlich sagte er: «Gut.» Und
sie begannen eine neue Figur zu üben.
Hatten die Möwen keine Nachtflüge, so hockten
sie beisammen und meditierten. An einem Abend faßte Jonathan
sich ein Herz und näherte sich dem Ältesten, der sich, wie es
hieß, bald über diese Welt hinaus erheben würde.
«Chiang
», begann er ein wenig unsicher.
Der Uralte sah ihn gütig an. «Ja, mein Sohn?» Das
Alter hatte ihn nicht geschwächt, sondern gestärkt. Er konnte
jede andere Möwe im Flug überholen und kannte Techniken, die
die anderen erst ganz allmählich erlernten.
«Diese Welt ist gar nicht das himmlische Paradies,
nicht wahr, Chiang?»
Im Mondlicht sah er, daß der Älteste ihm
freundlich zunickte. «Du hast wieder etwas dazugelernt, Jonathan»,
sagte er.
«Und was geschieht nachher? Wohin kommen wir
dann? Gibt es gar ein Paradies?»
«Nein, Jonathan, einen solchen Ort gibt es nicht.
Das himmlische Paradies ist kein Ort und ist keine Zeit. Paradies,
das ist Vollkommenheit.» Er schwieg einen Augenblick. «Du bist
ein sehr rascher Flieger, nicht wahr?»
«Ich
ich liebe die Geschwindigkeit», sagte
Jonathan betroffen, aber doch stolz, daß es dem Ältesten aufgefallen
war. «Du wirst zum ersten Mal den Rand des Paradieses streifen,
wenn du die vollkommene Geschwindigkeit erreicht hast. Und
das bedeutet nicht, daß du in der Stunde tausend oder
hunderttausend Kilometer zurücklegen kannst. Selbst wenn du mit
der Geschwindigkeit des Lichtes fliegen würdest, hättest du nicht
die Vollkommenheit erreicht. Alle Ziffern sind
Begrenzungen, Vollkommenheit aber ist grenzenlos.
Vollkommene Geschwindigkeit, mein Sohn, das heißt ganz dasein.»
Dann war Chiang plötzlich ohne ein weiteres
Wort verschwunden und tauchte im gleichen Augenblick weit
entfernt an der Küste auf, verschwand sofort wieder und stand
neben Jonathan. «Das macht Spaß», sagte er.
Jonathan war völlig verblüfft. Er vergaß alle
weiteren Fragen nach dem Paradies. «Wie machst du das? Was
empfindet man dabei? Wie weit kannst du dich entfernen?»
«Man kann überall hinkommen, man muß es nur wirklich
wollen. Ich bin überall gewesen und in allen Zeiten, die ich
mir vorstellen kann.» Sinnend blickte der Älteste über das
Meer. Seltsam. Möwen, die um ihrer begrenzten Wege und Ziele
willen die Vollkommenheit des Fliegens verachten, kommen nur
langsam vorwärts und nirgendwo an. Die aber um der
Vollkommenheit willen des Weges nicht achten, kommen in
Sekundenschnelle überall hin. Bedenke immer, Jonathan das himmlische
Paradies findet sich nicht in Raum oder Zeit, denn Raum und Zeit
sind bedeutungslos. Das Paradies ist
»
«Kannst du mich lehren, auch so zu fliegen?»
Jonathan bebte vor Sehnsucht nach dem Unbekannten.
«Gewiß, wenn du es lernen möchtest.»
«So gern. Wann können wir anfangen?»
«Wenn du willst, sofort.»
«Ich möchte so fliegen lernen,» sagte Jonathan, und
seine Augen strahlten vor Eifer. «Sag mir, was ich tun soll.»
Chiang setzte seine Worte bedächtig und sah die
jüngere Möwe dabei unentwegt prüfend an. «Um in
Gedankenschnelle zu fliegen, ganz gleich an welchen Ort, mußt du schon vor
Beginn wissen, daß du bereits dort angekommen bist.»
Nach Chiangs Worten mußte man also als erstes
aufhören, sich selbst als Gefangenen eines irdisch-begrenzten Körpers
zu empfinden, dessen Flügelspannweite etwa einen Meter
betrug und dessen Leistungsfähigkeit sich mit Hilfe
graphischer Darstellung berechnen ließ. Die Voraussetzung für das
Gelingen lag in dem Bewußtsein, daß das wahre Sein so vollkommen
ist wie eine nicht aufgeschriebene, wie eine abstrakte Zahl und
überall zugleich existiert, unabhängig von Zeit und Raum.
Vom Morgengrauen an, noch vor Sonnenaufgang
und lange bis nach Mitternacht überließ Jonathan sich
mit Leidenschaft seinen Versuchen. Aber alle seine
Anstrengungen halfen ihm nicht weiter.
«Vergiß alles Wissen», sagte ihm Chiang wieder
und wieder. «Du hast es nicht gebraucht, um zu fliegen, du hast
einfach fliegen müssen. Und jetzt ist es das gleiche. Versuche es
noch einmal
»
Und eines Tages war es soweit Jonathan. ruhte auf
dem Strand aus. Mit geschlossenen Augen versenkte er sich ganz
in sich, und in jähem Begreifen fühlte er, was Chiang gemeint
hatte. «Natürlich. So ist es. Ich bin. Ich bin eine vollkommene,
durch nichts beschränkte Möwe!» Glück durchströmte ihn wie
ein heftiger Schreck.
«Gut,» sagte Chiang. Seine Stimme klang
triumphierend. Jonathan machte die Augen auf. Er stand ganz allein neben
dem Ältesten an einer gänzlich fremd anmutenden Küste
Bäume wuchsen bis an den Saum des Ozeans hinab, und zu
Häupten kreiste ein Zwillingsgestirn gelber Sonnen.
«So hast du es endlich erreicht», sagte Chiang, «aber
du mußt noch weiter daran arbeiten, dich selbst zu steuern
»
Jonathan war überwältigt. «Wo sind wir?»
Den Ältesten ließ die fremde Umwelt kühl. Er tat die
Frage ziemlich gleichgültig ab. «Wir sind auf irgendeinem
Planeten, wie es scheint. Er hat einen grünen Himmel und eine
doppelte Sonne.» Jonathan stieß vor Entzücken einen hellen Schrei aus,
den ersten Laut, seit er die Erde verlassen hatte. «Es ist gelungenl»
«Natürlich ist es gelungen, Jon», sagte Chiang. «Es
gelingt immer, wenn du genau weißt, was du willst. Und nun zu
der Selbststeuerung
»
Als sie zurückkamen, war es schon dunkel. Die
anderen Möwen betrachteten Jonathan, und in ihren goldenen Augen
stand ehrfürchtige Scheu. Sie hatten gesehen, wie er urplötzlich
von der Stelle, auf der er lange Zeit wie angewurzelt verharrt
hatte, verschwunden war. Er ließ sich aber nicht lange bewundern.
«Ich bin hier noch ein Neuling. Ich fange ja erst an. Ich bin es, der
von euch lernen muß.»
«Ich bin aber doch überrascht», sagte Sullivan, der
unweit von ihm stand. «In all den zehntausend Jahren hab ich keine
Möwe gesehen, die so furchtlos alles Neue erlernen will wie du.»
Die anderen Möwen nickten dazu. Jonathan trippelte vor
Verlegenheit von einem Fuß auf den anderen.
«Wenn du willst, werden wir uns als nächstes mit der
Zeit beschäftigen», sagte Chiang. «Du wirst lernen,
durch Vergangenheit und Zukunft zu fliegen. Wenn dir das möglich
ist, dann erst kannst du das Allerschwerste, das Großartigste,
das Schönste beginnen. Dann erst kannst du dich dazu
aufschwingen, das wahre Wesen von Güte und Liebe zu begreifen.»
Ein Monat verging, oder vielmehr ein Zeitraum, der
sich wie ein Monat ausnahm. Jonathan lernte außerordentlich
schnell. Er hatte schon sehr rasch Fortschritte gemacht, als er noch
aus der praktischen Erfahrung lernte, nun aber, als Einzelschuler
des Altesten selbst, verarbeitete er die neuen Ideen wie
ein stromlinienförmiger, gefiederter Computer.
Doch dann kam ein Tag, an dem Chiang
endgültig verschwand. Zuvor hatte er noch einmal lautlos die
ganze Gemeinschaft ermahnt, niemals das Lernen
aufzugeben, unentwegt weiter zu üben und danach zu streben,
das vollkommene, unsichtbare Prinzip alles Lebens zu erfahren.
Dabei wurde sein Gefieder lichter und lichter, und zuletzt erstrahlte
es in solchem Glanz, daß die Möwen geblendet die Augen
abwenden mußten.
«Jonathan, erlerne die Liebe.» Das waren seine
letzten Worte. Als die Blendung der Augen nachließ, weilte Chiang
nicht mehr unter ihnen.
Und die Zeit verrann. Immer häufiger mußte
Jonathan jetzt an die Erde zurückdenken, von der er einst gekommen
war. Hätte er dort unten nur ein Zehntel, nur ein Hundertstel von
dem gekannt, was er jetzt wußte, wieviel sinnvoller wäre sein
Leben gewesen. Er stand im Sand und fragte sich, ob es dort
unten vielleicht wieder eine Möwe gäbe, die ihre Grenzen
zu überwinden trachtete, eine Möwe, der das Fliegen mehr
bedeutete als nur Fortbewegung zu dem Ziel, ein paar Brocken Brot
von einem Fischkutter zu ergattern. Vielleicht war wieder eine
Möwe in Verbannung geschickt worden, weil sie gewagt hatte,
dem großen Schwarm die Wahrheit zu sagen. Und je länger
Jonathan sich um Güte bemühte, je mehr er danach strebte, das Wesen
der Liebe zu begreifen, desto größer wurde sein Verlangen, zur
Erde zurückzukehren. Trotz der Vereinsamung in seinem
vergangenen Erdendasein war Jonathan im Grunde der geborene Lehrer.
So gab es für ihn nur eine einzige Möglichkeit, der Liebe zu
dienen: Er mußte die von ihm erkannte Wahrheit weitergeben an
eine Möwe, die auch die Sehnsucht nach Wahrheit in sich trug.
Sein Lehrer Sullivan war bereits Meister im gedankenschnellen Flug und half den anderen bei ihren
Übungen. Er hatte seine Zweifel.
«Du bist früher auf der Erde ein Ausgestoßener
gewesen, Jon. Wie kannst du glauben, daß dir jetzt auch nur eine
Möwe aus deiner Vergangenheit zuhören würde? Du kennst doch
das Sprichwort: Am weitesten sieht, wer am höchsten
fliegt. Dann steckt Weisheit. Die Möwen, von denen du abstammst,
kleben am Boden und zetern und streiten miteinander. Unendlich
weit sind sie vom Himmel entfernt und da glaubst du, du
kannst ihnen von ihrem Standort aus den Himmel öffnen? Sie
können doch nicht über ihre eigenen Flügelspitzen hinausblicken.
Bleib bei uns, Jon. Hilf den Anfängern hier. Sie sind schon weiter,
sie können erkennen, was du ihnen zeigen willst.»
Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort:
«Wenn Chiang in seine früheren Welten zurück gekehrt wäre, wo
warst du jetzt?»
Diese Bemerkung gab den Ausschlag. Sullivan hatte
recht. «Am weitesten sieht, wer am höchsten fliegt.» So blieb
Jonathan und arbeitete mit den Neulingen, die alle klug und
lernbegierig waren. Doch die alten Wünsche kehrten wieder. Immer
stärker und häufiger mußte er an die Erde zurückdenken und daß
ihn dort vielleicht ein oder zwei Möwen als Lehrer brauchten.
Wieviel weiter wäre er selber gekommen, wäre Chiang bei ihm in
der Verbannung gewesen.
«Ich muß zurück, Sully», sagte er schließlich.
«Deine Schüler entwickeln sich gut. Sie können dir bei den
Neulingen helfen.»
Sullivan seufzte und widersprach nicht länger. «Du
wirst mir sehr fehlen, Jonathan.»
«Schäm dich, Sully!» sagte Jonathan vorwurfsvoll.
Sei nicht töricht. Was üben wir denn jeden Tag? Wäre
unsere Freundschaft von Raum und Zeit abhängig, dann taugte sie
nichts mehr, sobald wir Raum und Zeit hinter uns lassen.
Überwinde den Raum, und alles, was uns übrigbleibt, ist Hier.
Überwinde die Zeit, und alles, was uns übrigbleibt, ist Jetzt. Und meinst
du nicht auch, daß wir uns im Jetzt und Hier begegnen könnten?»
Trotz seines Kummers wurde Sullivan wieder
fröhlich. Du komischer, du verrückter Vogel», sagte er zärtlich.
Wenn überhaupt einer den beschränkten Möwen auf der Erde
Weitblick beibringen kann, dann bist du es.» Er starrte in den Sand.
Leb wohl, Jon, mein Freund.»
«Leb wohl, Sully. Wir sehen uns wieder.» Im Geist sah
er große Mowenschwärme an den Küsten einer anderen Welt
und Zeit. Aus langer Übung hatte er die innere Gewißheit, daß
er selbst kein Wesen aus Knochen und Federn mehr war,
sondern die reine Idee des freien Fluges, der keine Grenzen kennt.
Auf der Erde lebte ein Möwenvogel, der hieß
Fletcher Lynd Er war noch sehr jung, doch hatte er schon böse
Erfahrungen hinter sich und meinte, daß kein anderer je so hart von
seinem Schwarm behandelt, daß niemandem je solches Unrecht
angetan worden wäre.
«Mir ganz gleich, was sie sagen», dachte er wütend,
und ihm verschwamm alles vor den Augen, als er auf die
Fernen Klippen der Verbannung zuflog. «Fliegen ist doch wichtiger
als nur von einem Ort zum nächsten zu sausen. Das kann jede
Mücke!
Eine kleine Rolle in der Luft rund um den Ältesten, nur so
aus Spaß, und schon haben sie mich ausgestoßen. Sind sie denn
blind? Können sie sich das Glück gar nicht vorstellen, das
richtiges Fliegen mit sich bringt? Mir ganz gleich, was sie denken.
Ich werde ihnen zeigen, was Fliegen heißt. Ich breche das Gesetz
sie wollen es ja nicht anders. Das wird ihnen noch leid tun
»
Da vernahm er eine Stimme, die aus seinem Innern
zu kommen schien. Sie tönte ganz sanft und erschreckte ihn
doch so sehr, daß er erstarrte und durch die Luft taumelte.
«Denk nicht so hart über sie, Möwe Fletcher Lynd,
die anderen haben sich nur selbst geschadet, als sie dich
ausstießen. Eines Tages werden auch sie begreifen, eines Tages werden
auch sie sehen, was du siehst. Vergib ihnen und hilf ihnen.»
Kaum einen Zoll entfernt von ihm segelte wie
schwerelos und ohne eine einzige Feder zu ruhren die reinste,
strahlendste Möwe der Welt. Mühelos hielt sie sein Tempo, das für ihn
schon Höchstgeschwindigkeit war.
Der junge Vogel war völlig verwirrt.
«Was ist das? Traume ich? Bin ich tot? Was ist das?»
Leise und ruhig tönte die Stimme aus seinem Herzen
fort und verlangte nach Antwort. «Möwe Fletcher Lynd, willst
du fliegen?»
«Ja, ich will fliegen!»
«Willst du es so sehr, daß du bereit bist, deinem Schwarm zu vergeben, da du lernen willst und
nur lernen und dann zu ihnen zurückzukehren und ihnen helfen,
damit auch sie verstehen?»
Diesem glorreichen, überlegenen Wesen gegenüber
gab es kein Ausweichen. So sehr der junge Vogel auch noch an
seinem gekränkten Stolz litt, er mußte nachgeben.
«Ich bin bereit.»
«Nun,» erklang es liebevoll aus dem strahlenden
Wesen, «dann wollen wir mit dem Horizontalflug beginnen
»
Dritter Teil
Jonathan kreiste langsam
über den fernen Klippen und sah aufmerksam in die Höhe.
Dieser widerborstige junge Fletcher war ein Flugschüler, wie man
ihn sich besser nicht wünschen konnte. Er war leicht und kräftig
und flink in der Luft, aber weit wichtiger war, daß er nichts
sehnlicher wünschte, als richtig fliegen zu lernen.
Da tauchte er auf, ein verwischter grauer Fleck
im sausenden Sturzflug. Er schoß an seinem Lehrer vorbei, zog
dann unvermittelt wieder hoch zu einem neuen Versuch mit
einer vertikalen langsamen Rolle mit sechzehn Umdrehungen. Er
zählte die Umdrehungen laut mit.
«acht
neun
zehn
Jonathan, Jonathan,
die Geschwindigkeit reicht nicht aus
elf
ich
will-kurze-scharfe-Stops-wie-du
zwölf
verdammt-ich
krieg's-nicht-hin
dreizehn
noch
drei ohne vierzehn
aaakk!»
Die letzte Drehung schlug durch seinen Ärger und
seine Wut über das Versagen völlig fehl. Fletcher kippte nach
hinten um, taumelte, trudelte, warf sich wutentbrannt in
einen einwärtsdrehenden Kreiselflug und fing sich endlich
krächzend einige hundert Meter unterhalb von seinem Lehrer ab.
«Du vergeudest deine Zeit mit mir, Jonathan! Ich bin
zu dumm! Ich bin ein Idiot! So oft ich es auch probiere, ich
kriege es nicht hin!»
Jonathan blickte zu ihm hinab und nickte. «Du wirst
es bestimmt nicht schaffen, so lange du so hart hochziehst.
Du verlierst zu viel Geschwindigkeit, bevor du die Rolle
beginnst. Du mußt weicher sein, Fletcher! Energisch, aber nicht
krampfhaft! Denk daran.» Er senkte sich zu der jungen Möwe
hinab. «Versuchen wir es gemeinsam, in Formation. Achte genau
auf das Hochziehen. Man muß weich und leicht hineingehen.»
Drei Monate waren vergangen. Jonathan hatte
inzwischen sechs weitere Schüler, lauter Außenseiter, die aus Freude
am Fliegen neugierig waren auf die seltsamen neuen Ideen.
Freilich war es für sie leichter, die hohe Kunst zu erlernen, als die Idee
zu erfassen, die dahinterstand.
«In jeder einzelnen von uns ist in Wahrheit das Ideal
der Großen Möwe, die unbegrenzte Idee der Freiheit»,
erklärte Jonathan ihnen abends auf dem Strand wieder und wieder.
«Der Präzisionsflug ist nur ein Schritt weiter in
der Darstellung unserer wahren Natur. Wir müssen alle
Begrenzung hinter uns lassen. Deshalb üben wir
Spitzengeschwindigkeiten, Langsamflug und Flugakrobatik
»
...und seine Schüler schliefen dabei ein, erschöpft vom
Tagespensum. Sie liebten ihre Übungsstunden, die
aufregenden Geschwindigkeiten, die ihren Hunger nach mehr Können
von Stunde zu Stunde erhöhten. Aber nicht einer von ihnen
konnte glauben, daß der Gedankenflug ebenso Reales sei wie
die Bewegung ihrer Schwingen, die sie durch die Lüfte trugen.
«Der ganze Körper ist von einer Flügelspitze zur
anderen nichts anderes als Gedanke», sagte Jonathan. «Geist in
sichtbarer Gestalt. Durchbrecht die Beschränktheit eures Denkens, und
ihr zerbrecht damit auch die Fesseln des Körpers
» Aber was
er ihnen auch sagte, es klang nur wie wunderschöne
Phantasien, die sie angenehm einschläferten.
Nach einem Monat erklärte Jonathan, die Zeit sei
reif, um zum Schwarm zurückzukehren. «Wir sind noch nicht so
weit!» sagte die Möwe Henry. «Man will uns da nicht haben. Wir
sind ausgestoßen. Wir wollen uns nicht aufdrängen, wo man uns
nicht haben will.» «Wir sind frei, wir können fliegen, wohin wir
wollen, und sein, was wir sind», erwiderte Jonathan. Er hob sich
vom Sand ab und wandte sich gen Osten zu den Heimatgründen
des Schwarmes. Seine Schüler zauderten. Die Gesetze des
Schwarmes erlauben keinem Verbannten jemals die Heimkehr, und noch
nie hatte einer sie zu brechen gewagt. Das Gesetz befahl ihnen,
zu bleiben; Jonathan gebot ihnen heimzufliegen. Er hatte schon
eine große Strecke zurückgelegt, wenn sie noch länger zögerten,
würde er allein bei dem feindlich gesinnten Schwarm eintreffen.
Fletcher Lynd meinte betont selbstsicher: Eigentlich brauchen wir
dem Gesetz gar nicht zu gehorchen, schließlich gehören wir
dem Schwarm ja gar nicht mehr an.» «Und wenn es zu einem
Kampf kommt, müssen wir Jonathan dort helfen.»
Und so flogen sie denn an jenem Morgen von Westen
her ein, acht Möwen in einer doppelten Formation; die Flügelspitzen
überlagerten einander fast. Pfeilschnell überflogen sie
den Versammlungsplatz des Schwarms, Jonathan hielt die
Spitze, Fletcher glitt leicht an seinem rechten Flügel dahin, und
Henry hielt sich tapfer an seinem linken Flügel. Dann rollte
die geschlossene Formation wie ein einziger Vogel langsam
rechts ab
zog gerade
drehte nochmals
und wieder gerade. Und
der Wind peitschte über sie hinweg.
Das alltägliche Gekrächz und Gekrakel des
Schwarms verstummte wie abgeschnitten, als ob die Formation
ein Riesenmesser wäre. Viertausend Augenpaare starrten ohne
zu blinkern zu ihnen empor. Die acht weißen Vögel zogen nun
einer nach dem anderen im steilen Winkel hoch zum Überschlag
in ein volles Looping, schwebten durch eine
vollkommene Kreisbahn und setzten alle exakt gleichzeitig in einer
unglaublich langsamen Landung auf dem Sande auf. Als sei das alles
etwas ganz Alltägliches, begann Jonathan ihre Flugleistung
zu anaiysieren.
«Erstens», sagte er trocken, «seid ihr alle
beim Aufschließen etwas zu spät dran gewesen.» Der Schwarm
war wie vom getroffen. Das sind die ausgestoßenen Vögel.
Sie kommen einfach zurück Das kann es doch nicht geben.
Der Schwarm war völlig verwirrt und wie erstarrt.
Fletchers Kampfansage bewahrheitete sich nicht.
Ein paar jüngere Möwen krächzten: «Und wenn
es zehnmal die Verbannten sind, wo haben die so fliegen gelernt?»
Es dauerte fast eine Stunde, bis der Befehl des
Ältesten sich im ganzen Schwarm herumgesprochen hatte: Ignorieren!
Jede Möwe, die mit einem Verbannten redet, wird ausgestoßen.
Jede Möwe, die einen Verbannten auch nur ansieht, bricht das Gesetz
des Schwarms. Immer mehr Möwen wandten ihre
graugefiederten Rücken Jonathan zu, aber er beachtete das gar nicht und
hielt seine Übungsstunde direkt über dem Versammlungsplatz
der Möwen ab. Er holte aus seinen Schülern das Äußerste
heraus, trieb sie bis an die Grenze ihrer Kräfte. «Möwe Martin, du
glaubst, du beherrschst den Langsamflug? Beweis es. Los. Fliegen.»
Der schüchterne kleine Vogel Martin war tief
erschrocken, daß er so in das Schußfeld seines Mentors geraten war. Er
mußte allen Mut zusammenreißen und wurde zu seiner
eigenen Überraschung ein wahrer Hexenmeister im Langsamflug.
Selbst in leisester Brise vermochte er die Schwingfedern so zu
stellen, daß sich ohne einen Flügelschlag vom Sand emporhob und
hoch zu den Wolken hinaufsegelte und wieder zurück. Auch die
Möwe Charles schwebte auf dem Großen Bergwind so hoch hinauf,
daß sie zitternd vom Kälte, überrascht von der eigenen Leistung
und überglücklich herunterkam, fest entschlossen, morgen noch
höher hinaufzusteigen.
Fletcher liebte vor allem die Flugakrobatik Auch
er überbot mit sechzehn Umdrehungen beim Langsamrollen in
der Vertikale seinen eignen Rekord. Am folgenden Tag schloß er
sogar mit einem dreifachen Radschlag ab, wie ein blendender
weißer Sonnenstrahl kreiste er über dem Strand, von dem ihn mehr
als ein Augenpaar verstohlen beobachtete.
Jonathan war ständig bei seinen Schülern,
demonstrierend, beschwörend, antreibend, leitend. Aus Sport flog er mit
ihnen durch Nacht und Wolken und Stürme, während sich die
Möwen des Schwarms armselig auf dem Erdboden aneinanderdrängten.
Nach den Flugstunden ruhten sich die Schüler mit
ihrem Lehrer immer auf dem Strand aus, und allmählich hörten sie doch
zu, wenn er ihnen seine Ideen entwickelte. Einige
klangen ziemlich verrückt, sie verstanden sie nicht, einige aber
begriffen sie schon. Mit der Zeit bildete sich nachts ein zweiter Kreis
um den Ring der Schüler, ein Kreis aus neugierigen jungen
Möwen, die im Schutz der Dunkelheit stundenlang zuhörten. Sie
wollten nicht gesehen werden und selbst niemanden sehen und
schlichen sich vor Morgengrauen verstohlen davon. Und eines
Tages überschritt die erste Möwe aus dem Schwärm die Grenzlinie
zum inneren Ring und bat um Aufnahme in die Lehrstunde.
Dadurch gehörte nun auch die MöweTerrence zu den Verbannten
unter den Vögeln, war behaftet mit dem Makel des Ausgestoßenen
und wurde gleichzeitig der achte Schüler Jonathans.
Eine kranke Möwe gab es im Schwärm, sie hieß
Kirk Maynard. Sie watschelte in der folgenden Nacht mit
hängendem linken Flügel über den Sand heran und plumpste vor Jonathan
in den Sand. «Hilf mir», krächzte sie matt wie ein Sterbender.
«Ich wünsche nichts in der Welt so sehr, wie fliegen zu können..»
«Dann komm», sagte Jonathan. «Steig mit mir vom
Boden auf, fangen wir an».
«Du hast mich nicht verstanden. Mein Flügel. Er
ist gelähmt.»
«Möwe Maynard, du bist frei. Sei, was du bist,
entfalte dein wahres Selbst jetzt und hier, und nichts kann dir im
Wege stehen. So will es das Gesetz der Großen Möwe, das Gesetz
des Seins.»
«Willst du sagen, daß ich fliegen kann?»
«Ich sage, du bist frei.» Und Kirk Maynard breitete
die Flügel aus, ganz einfach und rasch und erhob sich mühelos in die
dunkle Nachtluft.
Sein Jubel riß den Schwarm aus dem Schlaf. Aus
großer Höhe erklang sein machtvoller Schrei: «Ich kann fliegen!
Hört, ich kann fliegen!»
Bei Sonnenaufgang standen fast tausend Vögel um
den Ring der Schüler und starrten Kirk Maynard neugierig an.
Sie achteten nicht mehr darauf, ob man sie dabei sah oder nicht,
sie hörten dem Unterricht zu und suchten zu verstehen.
Jonathan sprach von einfachen Dingen daß
Möwen zum Fliegen da sind, daß die wahre Natur ihres Wesens
Freiheit ist, daß sie alles, was dieser Freiheit im Wege steht, abtun
müssen, Sitten und Bräuche und jegliche Beschränkung.
«Was heißt abtun?» erklang eine Stimme aus
dem Schwarm. «Sollen wir das Gesetz des Schwarmes nicht achten?»
«Es gibt nur ein wahres Gesetz, das in die Freiheit
führt», sagte Jonathan. «Es gibt kein anderes.»
«Wie kannst du erwarten, daß wir so fliegen wie
du?» fragte eine andere Stimme. «Du bist ein Auserwählter,
ein Begabter, ein Göttlicher, hoch über allen anderen Vögeln.»
«Seht Fletcher an. Lowell. Charles. Sind sie
alle auserwählt, begabt und göttlich? Sie sind nicht anders als
ihr, nicht anders als ich. Der einzige Unterschied ist, daß sie
ihre eigentliche Natur zu erkennen beginnen und angefangen
haben, danach zu handeln.»
Die Schüler trippelten unbehaglich hin und her,
nur Fletcher nicht. Es war ihnen noch gar nicht bewußt
geworden, was sie eigentlich unternommen hatten.
Die Menge wurde täglich größer, stellte
Fragen, bewunderte, beschimpfte.
«Im Schwarm behaupten sie» erzählte Fletcher
seinem Lehrer nach einer Lehrstunde im Geschwindflug
für Fortgeschrittene, «wenn du nicht göttlicher Herkunft bist,
dann bist du zumindest deiner Zeit um Jahrtausende voraus.»
Jonathan seufzte. Das ist der Preis, dachte er, man
wird mißverstanden, wird für einen Teufel gehalten oder für einen
Gott. «Und was denkst du, Fletcher sind wir unserer Zeit voraus?»
Langes Schweigen lastete. Endlich kam die Antwort.
«Die Kunst des Fliegens ist real und jederzeit für jeden erlernbar,
dem der Sinn danach steht; das hat nichts mit der Zeit zu tun. Wir
sind den anderen vielleicht weit voraus in der Form, in der Art
des Fliegens.»
«Das klingt schon besser», sagte Jonathan und
zog schwebend und glänzend seine Kreise. «Das hast du nicht
schlecht ausgedrückt.»
Genau eine Woche später geschah etwas.
Fletcher demonstrierte vor neuen Schülern die Grundsätze
des pfeilschnellen Fluges. Er hatte sich nach einem rasenden
Sturzflug elegant abgefangen, schoß ein paar Zentimeter über dem
Sand waagrecht dahin. Es war, als zeichne er einen grauen Strich
in die Luft. Da geriet ihm ein junger Vogel direkt in die
Flugbahn. Es war sein erster Gleitflug, jämmerlich schrie er nach
seiner Mutter. Ein Zusammenstoß schien unvermeidlich. Im
Bruchteil einer Sekunde verriß Fletcher scharf nach links und prallte
in höchster Geschwindigkeit gegen eine Klippe aus Granit.
Er empfand keinen Schmerz. Es war, als sei der Felsen ein
gewaltiges ehernes Tor zu einer anderen Welt. Er ertrank in einer Woge aus
Entsetzen und Schrecken, alles wurde schwarz, dann fand er
sich in einem sehr seltsamen Himmel treibend und vergaß,
was geschehen war, und erinnerte sich und vergaß, betrübt und
bang und traurig und voll Reue. Und da ertönte wieder die Stimme
in ihm und neben ihm wie an jenem ersten Tag, da er
Jonathan begegnet war. «Wir müssen versuchen, unsere Grenzen in
der rechten Ordnung geduldig zu überwinden. Einen Felsen
zu durchfliegen, das ist noch zu früh, das ist ein späterer Lehrstoff.
«Jonathan.»
«Jawohl, angeblich der Göttliche», erwiderte sein
Lehrer trocken.
«Was machst du hier? Die Klippe? Bin ich nicht
eben.. .bin ich nicht tot?»
«Ach, du närrischer Vogel. Denk nach. Wenn du jetzt
mit mir reden kannst, bist du doch nicht tot. Was dir da eben
geglückt ist, ist nur ein Wechsel der Bewußtseinsebene. Allerdings
ziemlich heftig. Jetzt darfst du wählen. Du kannst bleiben und auf
dieser Ebene weiterlernen, die beträchtlich höher ist als die
frühere, oder du kannst zurückkehren und bei deinem Schwarm
weiter lehren. Die Ältesten haben immer gewartet, daß es ein
Unglück geben würde, jetzt sind sie zufrieden, daß du ihnen den
Gefallen getan hast».
«Ich will zurück zum Schwärm, selbstverständlich.
Ich habe doch mit disr neuen Gruppe eben erst angefangen».
«Sehr gut, mein Sohn. Denk daran, was du gelernt
hast: Der Körper ist nur der personifizierte Gedanke
»
Fletcher schüttelte verwirrt den Kopf, spannte die Flügel aus und
öffnete die Augen. Und er befand sich wieder am Fuß der Klippe. Um
ihn hatte sich der SchwArm versammelt. Als er sich
bewegte, lief ein gewaltiges Getöse aus Krächzen und Kreischen
durch die Menge.
«Er lebt! Er, der schon tot war, lebt!» «Der Göttliche
hat ihn nur mit der Flügelspitze berührt. Er hat ihn zum
Leben erweckt.»
«Nein. Er leugnet seine göttliche Herkunft. Er ist
der Teufel. DerTeufel, der die Gemeinschaft des
Schwarms zerbrechen will.» Die Masse der Möwen fürchtete sich
wegen der Dinge, die sich zugetragen hatten.
Der Schrei Teufel! lief wie ein Wind durch die
Menge, brauste wie der Sturmwind vom Meer. Augen starrten
glasig, scharfe Schnäbel rückten enger zusammen. Mord drohte.
«Möchtest du fort, mein Sohn?» fragte Jonathan. «Ja,
es wäre wohl besser». Im selben Augenblick schwebten sie
beide eine halbe Meile weit entfernt, und die scharfen Schnäbel
des Pöbels stachen ins Leere.
«Warum ist es nur so furchtbar schwer, einen Vogel
von seiner Freiheit zu überzeugen», sagte Jonathan sinnend.
«Jeder ist frei und kann seine Freiheit nutzen er muß sie nur üben.
Ist das denn wirklich so schwierig?» Fletcher blinzelte,
noch schwindlig vom raschen Wechsel der Umgebung. «Was hast
du jetzt gemacht? Wie sind wir hierhergekommen?» «Du
wolltest doch weg von diesem mordlustigen Pöbel?»
«Gewiß, aber wie hast du... « «Wie? Genauso wie
alles andere, Fletcher. Es ist Übung.»
Im Laufe des Morgens vergaß der Schwarm seine Tollheit
wieder, doch Fletcher nicht.
«Jonathan, erinnerst du dich, was du mir vor sehr
langer Zeit einmal gesagt hast daß man den Schwarm so sehr
lieben muß, daß man zurückkehrt und ihm hilft?» «Sicher» «Ich
begreife nicht, wie du einen Mob lieben kannst, der eben noch
versucht hat, dich umzubringen» «Oh, Fletcher, den Mob liebt man
nicht! Man liebt nicht den Haß und das Böse, natürlich nicht. Du
bist noch unerfahren, du mußt dich ständig bemühen, die
wahre Möwe, den guten Kern in jeder einzelnen von ihnen, zu
erkennen. Du mußt ihnen helfen, sich selbst zu sehen. Das meine ich
mit Liebe. Hat man sie gefunden, dann macht alles Freude. Ich
kannte einmal einen wilden jungen Vogel, der hieß Fletcher Lynd.
Er war ausgestoßen aus seinem Schwärm, und er faßte
seine Artgenossen deswegen und wollte sie bis auf den Tod
bekämpfen. Und damit schuf er sich seine eigene bittere Hölle draußen
auf den Fernen Klippen. Und heute ist er hier und ist dabei, sich
seinen eigenen Himmel zu erbauen, weil er seinen Schwarm auf
den richtigen Weg führen will».
Fletcher sah seinen Lehrer an. In seinen Augen
blitzte sekundenlang die Angst auf. «Ich
sie führen? Was meinst du damit, daß
ich sie führen soll? Du bist hier der Lehrer. Du
könntest sie nicht verlassen».
«Könnte ich nicht? Zahllose Schwärme gibt es
und zahllose ruppige Möwen wie einst jener Fletcher. Meinst du
nicht auch, daß sie mich mehr brauchen als diese da, die
schon unterwegs sind zum Licht?»
«Aber ich? Jon, ich bin nur eine gewöhnliche Möwe,
du... «
«Bist ein Göttlicher, willst du sagen?» Jonathan seufzte
und sah über das Meer hinaus. «Du brauchst mich nicht
mehr. Was du brauchst, ist Selbstvertrauen. Finde zu dir selbst
täglich ein wenig mehr Finde die wahre, unbegrenzt freie Möwe
Fletcher. Sie wird dein Lehrer sein.» Und Jonathans Körper flimmerte
in der Luft, erstrahlte und wurde durchsichtig. «Laß nicht zu,
daß sie dumme Gerüchte über mich verbreiten oder mich zum
Gott erklären. Ich bin nur eine Möwe. Ich liebedas
Fliegen, vielleicht
»
«Jonathan!»
«Mein armer Sohn. Trau deinen Augen nicht. Was
immer sie dir zeigen, es ist nur Begrenztheit. Trau deinem
Verstand, hebe ins Bewußtsein, was in dir ist, und du wirst wissen
und fliegen.»
Der Strahlenglanz erlosch. Die Möwe Jonathan hatte
sich in Luft aufgelöst. Und ihr Schüler flog schwerfällig auf,
wandte sich unter grauem Himmel heimwärts und nahm seine
Pflicht bei neuen Schülern auf, die begierig auf ihre erste
Lehrstunde warteten. Ernst und bedrückt begann er. «Ihr müßt vor
allem verstehen, daß die Möwe die absolute Idee der Freiheit ist,
das Abbild der Großen Möwe. Und der Körper ist von
Flügelspitze zu Flügelspitze nichts weiter als der Gedanke selbst.»
Die jungen Möwen blickten ihn unsicher an.
Hallo, dachten sie, das klingt aber gar nicht nach Flugregeln.
Fletcher seufzte und wollte noch einmal von vorn anfangen. «Ja
na schön», sagte er plötzlich und musterte sie kritisch. «Fangen
wir mit dem Tiefflug an.» Und indem er das sagte, begriff
er urplötzlich, daß sein Freund wahrhaftig nicht um ein
Haar göttlicher gewesen war als er selbst.
Keine Grenzen, Jonathan, dachte er. Die Zeit ist nicht mehr
fern, da auch ich aus der durchsichtigen Luft heraus auf
deinem Strand erscheinen und dir zeigen kann, was Fliegen in
Freiheit bedeutet. Und obwohl er sich vor seinen Schülern streng
gab, sah er sie plötzlich alle so, wie sie wirklich waren. Und was er
in ihnen sah, erfüllte ihn über Anerkennung hinaus mit tiefer
Liebe. Grenzenlos. Jonathan, dachte er und war glücklich. Der Weg
zur Erkenntnis war beschritten, der Kampf in ständigem Lernen
hatte begonnen.