Roerichs Glaube, daß der Mensch der Moderne vieles von den alten, vorgeschichtlichen Kulturen lernen könne, leitete ihn zu dem fundamentalen Lehrsatz in der östlichen Philosophie, daß die Geschichte des Universums nicht linear, sondern zyklisch ist. Die östliche Vorstellung "einer immer wiederkehrenden Philosophie, einer zeitlosen Weisheit, die sich wieder und wieder offenbart, neu geschaffen wird, verlorengeht, um erneut durch den Zyklus der Zeit wiedererschaffen zu werden"9 , war seinen eigenen Vorstellungen viel näher als die verhältnismäßig moderne westliche Vorstellung, die die Geschichte als ein sich immer weiterentwickelndes Phänomen ansieht.
Auch die Theosophie (wörtlich "göttliche Weisheit"), eine spirituelle Lehre, die von Helena P. Blavatsky in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt wurde, sagte Roerieh sehr zu. Blavatsky war durch Asien gereist und behauptete, dort eine Gruppe von uralten geheimnisvollen Weisen - die Meister oder Mahatmas - getroffen zu haben, die von göttlicher Weisheit erfüllt wären. Sie wurde Schülerin (Chela) der Meister; wieder nach Europa zurückgekehrt begann sie, das spirituelle Wissen, das ihr gelehrt wurde, weiterzugeben; Blavatsky gründete im Jahre 1875 in New York die Theosophische Gesellschaft, die bald Tausende von Anhängern in der ganzen Welt hatte. Im Jahre 1879 verlegte sie den Stammsitz der Gesellschaft nach Adyar, unweit von Madras in Indien. Eine Loge der Gesellschaft wurde im Jahre 1908 in Rußland gegründet; die Roerichs scheinen der Loge noch vor dem Ersten Weltkrieg beigetreten zu sein. Jahre später übersetzt Helena Roerich Blavatskys monumentales Werk Die Geheimlehre in die russische Sprache.
Nach der Lehre der Theosophie ist die uralte Weisheit jedem zugänglich und wird den Eingeweihten auf verschiedene Weise offenbart: in Träumen, in Visionen oder im Gespräch mit den Mahatmas. Die Theosophie lehnt das Dogma heiliger Schriften ab, verwendet aber dennoch bestimmte Grundvorstellungen der indischen Philosophie, wie den Glauben an die Wiedergeburt und Karma, die voneinander abhängige Einheit aller Naturphänomene und die Verehrung des Schülers (Chela) für seinen geistigen Lehrer (Guru).
Roerich ist nie Anhänger einer etablierten Religion oder philosophischen Bewegung gewesen. Seine eigene Philosophie beinhaltete Elemente aus dem Buddhismus, Hinduismus, Pantheismus, der Theosophie, des russisch-orthodoxen Glaubens und sogar der Relativitätstheorie Einsteins; auch die uralten Lehren des Agni Yoga oder des Yoga des Feuers waren darin enthalten. Agni Yoga ist eher eine Yogaform des Handelns als der Askese und lehrt den Pfad der Einheit mit der spirituellen Evolution des Kosmos. Diese Lehre hilft dem einzelnen, das Gute und die wahren Gründe und die tiefere Bedeutung der Dinge hinter Ereignissen und persönlichen Beziehungen zu erkennen. Dieses wiederum führt zur Bewußtseinserweiterung beim Menschen und zur Geburt neuer Gedankenformen, die wiederum zu neuen Arten des Handelns führen. Der freie Wille gibt dem einzelnen die Möglichkeit, entweder den neuen Pfad zu beschreiten und sein Verhalten zu ändern oder in alte, verwurzelte Verhaltensmuster zurückzufallen. Jede Inkarnation gibt ihm die Gelegenheit, weitere Schritte in der eigenen Entwicklung zu gehen. Agni Yoga lehrt uns eindringlich, diesen neuen Pfad im täglichen Leben zu beschreiten, und aus diesem Grunde wird es auch die "Lehre der lebendigen Ethik" genannt. Im Jahre 1920 gründeten die Roerichs die erste Agni Yoga-Gruppe; auch heute noch besteht die Agni Yoga-Gesellschaft und lehrt eine Ethik, die die Synthese der philosophischen und religiösen Lehren aller Zeitalter umfaßt.
Roerichs wohl kürzester Ausdruck seines Verständnisses dieses Pfades zur spirituellen Erleuchtung ist eine Sammlung von 64 Gedichten in Blankversform: Die Blumen Moryas, die größtenteils zwischen 1916 und 1921 verfaßt und in vier Zyklen unterteilt worden sind: "Heilige Zeichen", "Der Bote" oder "An den Gepriesenem, "An den Jungen" und "Ermahnung des Jägers, der den Wald betritt". Der letzte Teil besteht aus einem langen Gedicht. In jedem der Gedichte sind mit Ausnahme des letzten der Beginn und das schließende Wort oder der schließende Satz beibehalten; dieses soll die Kreisförmigkeit andeuten, eine allgemein bekannte symbolhafte Methodik zur Darstellung der Ewigkeit oder Unendlichkeit.10 Der Inhalt der Zyklen könnte etwa folgendermaßen zusammengefaßt werden:
"Im ersten Zyklus ist der Autor/Held ein Novize im spirituellen Bereich, der sich auf der Suche befindet, aber bisher noch nicht die heiligen Zeichen (verbale oder nonverbale Botschaft aus höheren Sphären) gefunden hat, die ihn auf den richtigen Weg geleiten sollen. Im zweiten Zyklus offenbaren sich langsam die Zeichen, und er bekommt einen genaueren Richtungssinn. Im dritten besitzt er bereits genügend Wissen, um einen anderen zu leiten, und bis zu Beginn des vierten schließlich hat seine Stimme die Autorität der eines Gurus entwickelt. Sein Aufstieg ist jedoch nicht vertikal, da er während jedes Abschnitts seiner Reise Momente des Zweifeins und der Desorientierung durchlaufen muß, die es für ihn notwendig machen, noch einmal auf dem spiralförmigen Pfad zu gehen."11
Viele der Metaphern, die Roerich in Die Blumen Moryas verwendet, treten als visuelle Darstellungen in seiner bildnerischen Kunst wieder auf und bieten häufig Schlüssel zum Verständnis der tiefer liegenden spirituellen Bedeutung seiner Gemälde. Divergente Wege deuten Desorientierung an. Berge sind Symbole des geistigen Aufstiegs. Tore und Türen stellen entweder spirituellen Fortschritt dar, falls der Suchende die Schwelle erfolgreich überschritten hat; oder spirituelle Ankunft, falls der Suchende die Schwelle erreicht hat; oder eine spirituelle Barriere, falls das Tor oder die Tür geschlossen ist. Die Boten sind die Übermittler der göttlichen Weisheit. Das Element Wasser steht im allgemeinen für Reinigung oder Erneuerung; Flüsse, die in eine bestimmte Richtung fließen, deuten die Veränderung und Bewegung auf ein Ziel an.
In Der Wächter des Tores, einem der Gedichte des ersten Zyklus, dient das Tor/Tür-Bild als Metapher für die spirituelle Schwelle, die der Literat/Held noch nicht überschreiten kann, weil er das Zeichen nicht versteht, das sich ihm offenbart. Das Gedicht ist typisch für Roerichs Poesie, die eine einfache Syntax aufweist: ein ruhiger, feierlicher Sprachstil; neutral und ein wenig archaisch; um die Guru-Chela-Beziehung herauszustellen, verwendet Roerich den Dialog.
DER WÄCHTER DES TORES
"Wächter des Tores, sage mir, warum
schließt Du diese Tür?
Was hütest Du so ergeben?"
"Ich hüte das Geheimnis der Stille."
"Aber die Stille ist leer.
Glaubwürdige Menschen sagen,
daß es nichts in der Stille gibt."
"Ich kenne das Geheimnis der Stille,
denn ich bewache sie." "Aber Deine Stille ist leer!"
"Sie ist leer für Dich",
antwortete der Wächter des Tores.12
Früh im Jahre 1915 erkrankte Roerich ernsthaft an einer Lungenentzündung. Sein jahrelanges hektisches Leben forderte offensichtlich seinen Preis. Die Ärzte kamen zu dem Schluß, daß das Leben in der Stadt für ihn ungesund sei, und im Dezember 1916 zog er mit seiner Familie nach Sortowala am Ladoga-See, in der Nähe von Petrograd (wie St. Petersburg seit Beginn des Ersten Weltkriegs hieß) in Finnland, so daß er zeitweise zur Schulaufsicht zurückkehren konnte.
Das Jahr 1916 war das zwanzigste Jahr seiner Künstlerkarriere, und in Anerkennung der Verdienste wurde ihm zu Ehren ein großes, wundervoll illustriertes Jubiläumsbuch veröffentlicht. Andere Künstler, Kunsthistoriker, Dichter und Literaten würdigten in ihm Roerichs künstlerisches Schaffen; zudem enthielt es Farbdrucke einiger seiner bekanntesten Gemälde, zehn seiner Märchen und Parabeln sowie sein langes Gedicht über Dschingis Khan mit dem Titel Der Heerführer.
Die Meinungen über Roerichs Reaktion auf die Russische Revolution gehen auseinander. Westliche Gelehrte behaupten, daß er in Finnland blieb, um dem neuen politischen System zu entkommen. Sowjetische Biographen dagegen sagen, daß er trotz seiner Gleichgültigkeit der Politik gegenüber und trotz seines naiven utopischen Glaubens, daß die Künste sich außerhalb jeglicher Politik befänden, ein Befürworter der Revolution war. Tatsache ist, daß er für eine fortschrittlichere Gesellschaftsform eintrat, die die eklatanten Ungerechtigkeiten seiner Zeit abschaffen würde, und daß er von der Unumstößlichkeit der Revolution überzeugt war. Doch in Treue zu seinem Glauben schlug er sich weder auf die Seite der Revolutionäre noch auf die Seite jener, die sich nach der Wiedereinführung der alten Ordnung sehnten.
Wie auch immer seine wirklichen Gefühle zu dieser Frage waren, eins ist sicher: Er war sehr um das Schicksal der Schule und die Erhaltung von Kulturdenkmälern unter der neuen Regierung besorgt. Am 4. März 1917, nur Tage nach dem Sturz der Romanow-Monarchie, traf er sich mit einer Gruppe von Schriftstellern, Malern und Bühnenkünstlern, unter ihnen auch Schaljapin, der Dichter Mayakowsky und Benois in Maxim Gorkjis Wohnung. Gorkji sprach von der Notwendigkeit, eine Kommission zum Schutz von Kunst- und Kulturdenkmälern ins Leben zu rufen und Aufforderungen zur Erhaltung des kulturellen Erbes der Vergangenheit zu veröffentlichen. Roerich wurde Mitglied der zwölfköpfigen Kommission. In einem schriftlichen Appell an den neuformierten Revolutionsrat, dem Sowjet der Arbeiter und Soldatenräte, bot die Kommission ihre Dienste für die Kunst an. Der Appell beinhaltete auch Ratschläge zur Erhaltung alter Kulturdenkmäler und schlug die Gründung einer Organisation zur Aufsicht von Volksfesten, Theatern etc. vor. Roerich nahm auch an einer Konferenz über die Kunst teil, die von den Arbeiter- und Soldatenräten organisiert wurde, und trat ihrer eigenen Kommission bei, deren Sitzungen in der Wohnung von Roerichs Bruder Boris stattfanden.
Trotz seiner sich verschlechternden Gesundheit - bis zum Mai 1917 hatte sich sein Zustand so weit verschlimmert, daß er seinen Letzten Willen schrieb - ging Roerich so oft wie möglich nach Petrograd und versuchte, die Schule der Gesellschaft zur Förderung der Künste vor ihrem Zusammenbruch zu bewahren. Doch finanzielle Schwierigkeiten und Widerstände unter der Lehrerschaft, von denen viele auf die Wiedereinsetzung des alten Regimes hofften, stoppten die wirtschaftlichen und organisatorischen Reformen, die Roerich vorschlug. Im August erlaubte es ihm seine Gesundheit nicht mehr, den Tagesablauf der Schule zu überwachen, und er gab den Posten des Direktors ab, obwohl er Berater und Mitglied des Schulkomitees blieb.
Im Januar 1918 besuchte Roerich zum letzten Male Petrograd. Obwohl Freunde und Kollegen versuchten, ihn vom Bleiben zu überzeugen, und vermuteten, daß ihm sogar möglicherweise ein Ministerposten in der neuen Regierung angeboten werden würde, verließen er und Helena die Stadt und fuhren mit einem der letzten Züge, die das Land vor Schließung der Grenzen zwischen Finnland und Rußland im Mai 1918 verließen, nach Sortawala.
Seine lange Krankheit hielt ihn jedoch nicht vom Malen und Schreiben ab. Ihr Haus in Sortawala war von einer typischen Roerich-Landschaft umgeben: die hohen Tannen, die sich wellenden Hügel, die kleinen, steilen Steininseln, die sich aus dem Ladoga-See erhoben, wurden meisterhaft von seinem Pinsel eingefangen. Er bevölkerte die Leinwände mit Figuren, die am Ufer oder auf Felsen saßen und in die Ferne blickten.
Zusätzlich zu seinem Gemälde schrieb er eine Kurzgeschichte mit dem Titel Die Flamme. Die Geschichte handelt von einem Künstler, dessen Gemälde auf einer Ausstellung gewaltigen Erfolg haben. Ein Verleger bietet dem Protagonisten an, Reproduktionen von den Gemälden anzufertigen. Die Kopien der Gemälde, die der Künstler, ohne daß der Verleger weiß, daß es nicht die Originale sind, ihm zum Druck gibt, werden bei einem Feuer im Verlagshaus zerstört. Als der Künstler die Originale zum zweiten Mal ausstellt, werden diese von den Kritikern für minderwertige Kopien gehalten. Zuerst wird der Künstler von einer "scharlachroten Flamme, der Flamme des Zorns, der Flamme des Wahnsinns" verzehrt. Dann aber begibt er sich an einen abgelegenen Ort an einem See, wo sich sein Zorn legt; später, als er in den Zeitungen die Nachricht von seinem Tode liest, nimmt er diese gelassen auf: "Ich weiß, daß ich bei der Arbeit bin. Ich weiß, daß meine Arbeit von jemandem gebraucht wird. Ich weiß, daß meine Flamme nicht mehr scharlachrot ist. Erst wenn sie blau wird, werden wir über das Fortgehen nachdenken."
Obwohl Die Flamme eine Dichtung ist, sind die autobiographischen Elemente nur leicht verschleiert. Roerich war sich darüber im klaren, daß vielen seine gewaltige Kreativität verdächtig erschien; sie hielten es für unvorstellbar, daß ein einziger Künstler Hunderte, ja sogar Tausende von Werken schaffen konnte. Im Jahre 1914 brach dann wirklich ein Feuer in einem Moskauer Verlagshaus aus, in dem gerade ein Bildband über Roerich gedruckt wurde; alle Seiten wurden durch das Feuer zerstört. Wie der Künstler/Held aus seiner Kurzgeschichte zog sich auch Roerich an einen abgelegenen Ort zurück, an dem er seine Arbeit fortsetzte und auf ein Zeichen wartete, eine heilige blaue Flamme, die ihm den Weg seiner eigenen künstlerischen und spirituellen Reise erleuchten sollte.
Roerich schrieb auch ein Theaterstück, das den Titel Miloserdie (Gnade oder Barmherzigkeit) trug; das Stück ist im Stil der mittelalterlichen Mysterienspiele geschrieben. Der Ort der Handlung ist ein Schloß, das sehr an Roerichs Dekor für Maeterlincks Stücke erinnert. Boten stürmen auf die Bühne, um den Ältesten die Kunde zu tun, daß die Städte und ihre Bewohner von einem schrecklichen Feind vernichtet werden. Auch die Kultur wird zerstört. Die wütenden Massen brennen Häuser nieder - auch Bücher verbrennen in den Flammen -, schlagen die jungen Bewohner, öffnen die Gefängnisse und befreien Mörder. Kriminelle führen die Menge an. Das Stück entstand im November 1917 und fällt zeitlich mit der Einnahme des Winterpalastes in Petrograd durch die Roten Garden zusammen. Miloserdie ist Roerichs einziges unmißverständliches Urteil zur Revolution und deren Verhalten gegenüber der russischen Kultur.
Sowohl Die Flamme als auch Miloserdie waren Roerichs künstlerische Mittel, die vergangenen Jahre hinter sich zu bringen, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Die Flamme endet mit Zeilen aus der Bhagavad Gita, Miloserdie mit einer Übersetzung eines Gedichts von Rabindranath Tagore. Der Osten rief Roerich. In seinem Tagebucheintrag vom 26. Oktober 1917 schrieb er: "Ich verneige mich vor den indischen Lehrern; sie haben wahre Kreativität, spirituelle Freude und eine ertragreiche Stille in das Chaos unseres Lebens gebracht. In Zeiten größter Entbehrungen haben sie uns ihren Ruf gesandt. Ein gelassener, ernster und weiser Ruf."13
Auf seinem Gemälde Karelia - Ewige Hoffnung (1918) sitzen vier Menschen - eine Frau und drei Männer - auf den Felsen an einem leeren Strand. Ihr Blick ist gen Horizont gerichtet. Sie erwarten das Zeichen, das den Beginn ihrer Reise ankündigt.
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Lied des Wasserfalls, 1920. Tempera auf Leinwand, ca. 234 x 122 cm, Nicholas Roerich Museum, New York. |
Bis zum Sommer des Jahres 1918 hatte sich Roerichs Gesundheit schließlich gebessert, und er begann damit, Pläne für seine langersehnte Reise nach Indien zu schmieden. Der erste Halt auf dieser Reise war die finnische Stadt Vyborg; das erste, was er dort tat, war eine Möglichkeit zum Gelderwerb zu finden. Durch die Anstrengungen einiger Schweden konnte eine Ausstellung in Stockholm eröffnet werden, deren Erfolg alle Erwartungen übertrat Die Stockholmer schlössen Roerich als einen der ihren, als Künstler des Nordens, in die Arme. Von Stockholm aus ging die Ausstellung nach Norwegen und Dänemark.
Jenseits der Nordsee lag England, wo die Roerichs die Visadokumente für ihre Passage nach Indien zu bekommen hofften. Es war der allgegenwärtige Diaghilew, der ihnen ihren Aufenthalt mit einer Einladung an Roerich, die Ausstattung für die bevorstehende Aufführung von Fürst Igor in London zu übernehmen, sicherte. Im Herbst 1919 kam die Familie in der britischen Hauptstadt an. Zusätzlich zu der Ausstattung von Fürst Igor wurde Roerich von Sir Thomas Beecham beauftragt, das Bühnenbild für Schneeflöckchen, Zar Saltan und Sadko zu entwerfen. Eine Ausstellung seiner Arbeiten fand im Mai 1920 statt, und von da an wurde er mit Einladungen aus anderen Städten in England sowie aus Venedig überhäuft.
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Das Lied des Morgens, 1920. Tempera auf Leinwand, ca. 234 x 122 cm, Nicholas Roerich Museum, New York. |
Die Gemälde Roerichs aus seiner Zeit in London zeigen deutlich, daß, obwohl er in England lebte, sein Geist bereits in Asien weilte. Die dekorativen Wandmalereien für einen Privatsitz in London, Das Lied des Wasserfalls und Das Lied des Morgens sind hervorragende, zarte Arbeiten mit einem unverkennbaren indischen Einfluß. Das erste zeigt eine Inderin, die an einem Wasserfall über einer Blume sinnt; das zweite Werk stellt ebenfalls eine Inderin dar, die mit einem Hirsch vor einem tempelähnlichen Gebäude tanzt, auf dessen Dach sich ein Pfau niedergelassen hat. Beide Arbeiten gehören zu einem Zyklus, den Roerich Die Träume der Weisheit nannte. Es war Zufall, daß, während Roerich an der Bildreihe arbeitete, Rabindranath Tagore ihn in seinem Studio aufsuchte. Es war das Treffen, von dem Roerich schon seit langem geträumt hatte. "Ich kann mich erinnern, auf welch wundervolle Weise er den Raum betrat", schrieb er in seinen Tagebuchblättern, "und sein spirituelles Erscheinen brachte unsere Herzen zum Schlagen."14 Tagore lud Roerich zu sich nach Indien ein.
Alles schien in Ordnung; die Visa wurden ausgestellt, und die Tickets waren bereits gekauft, als unvorhergesehene finanzielle Rückschläge, unter anderem auch die Tatsache, daß Sir Thomas Beecham Roerich nicht für das Bühnenbild bezahlen konnte, die Roerichs zwangen, ihre Reise nach Asien aufzuschieben.